Ich mache online einen Selbsttest für Erwachsene unter dem Titel “Habe ich ADHS?”. Er soll von der Weltgesundheitsorganisation sein und erscheint mir seriös. Okay, nur sechs Fragen. Der Test ist schnell durchschaubar, er fragt Häufigkeiten ab. Ich benutze nur “Oft” und “Sehr oft” und weiß die Antwort schon vor der Auswertung: Nach 60 Sekunden wird mir empfohlen, für eine “spezifische Diagnose” zum Psychiater zu gehen und meine Hinweise auf ADHS untersuchen zu lassen. Ich lache laut und schließe den Tab.
Dann rufe ich die Seite nochmal auf. Das kann nicht alles gewesen sein. Mir fällt auf, wie spielerisch die Website konzipiert ist, offenbar speziell für jemanden, der Anreize braucht, um sie nicht so schnell zu schließen wie ich. Es ist nicht nur plumpes Scrollen. Die Website soll wohl zum “interaktiven Entdecken” einladen, indem man Reiter erst aufklappen muss, bevor sie farbenfroh ihre Infos preisgeben. Meine Augen fliegen über den Text. Mich stört, dass die Seite von “Du und deine Besonderheiten” schreibt, so als wären meine “Besonderheiten” etwas, was man in Anführungszeichen setzen muss, weil man es mir sonst nicht zumuten kann. Und mehrfach fällt das Wort Krankheit. Ich habe mich nie krank gefühlt. Und meine Eltern haben mich auch nie so behandelt.
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Ja, ich habe ADHS. Und wenn du es auch hast, bist du bestimmt nach dem ersten Absatz ausgestiegen und schaust der Fliege hinterher, die in deinem Zimmer Runden dreht. Vielleicht machst du auch diesen Test und hast gerade die Erleuchtung, warum du der Fliege nachgeguckt hast.
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Ich war nie ein klassischer “Zappelphilipp”. Ich war ein Sandwichkind mit zwei sehr introvertierten Geschwistern. Sie konnten stundenlang Autostau spielen und ein Spielzeugauto nach dem anderem einen Zentimeter verrücken bis zum Ende des Zimmers und wieder zurück, ohne dass ihnen langweilig wurde. Ich stand auf Randale – und war das Kind, das voller Energie durch ihre Spielsachen gepflügt ist. Ich war laut, wild und dickköpfig. Ich wollte immer Action um mich herum haben und ich hatte ein Problem mit Regeln und Autoritäten.
Meinen Eltern sind meine Besonderheiten (ohne Anführungszeichen) natürlich aufgefallen. Als ich zehn Jahre alt war, war ich eine Zeit lang bei einem Therapeuten. Das Wort ADHS ist nie gefallen. Ich dachte, das sei einfach ein lustiger Mann, der mit mir spielt. Ich war zu aufgedreht, um zu verstehen, was eigentlich los ist. Eine Zeit lang bekam ich Ritalin, aber meine Eltern haben sich dann gegen das “Kokain für Kinder” entschieden. Sie versuchten, meine Energie in etwas Positives zu verwandeln. Ich hatte viele Hobbies, viele Freunde, ich war immer beschäftigt, verabredet und ausgelastet. Das hat gut funktioniert.
Als Mensch mit ADHS neigt man zu Abhängigkeiten
Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung gehört zu den Verhaltensstörungen und beginnt in der Kindheit. Forscher rätseln über einen genetischen Ursprung, andere halten Umwelteinflüsse für wichtig, wiederum andere vermuten, dass die Störung eine komplexe Entwicklungsverzögerung im Gehirn ist. Ich bin kein Arzt. Und ich möchte auch keiner sein und wilde Theorien über mich aufstellen. Ich will einfach nur gut damit leben können.
ADHS ist nichts, was du als Kind hast und das sich mit dem Alter verwächst. Es bleibt ein Teil von dir. Ich merke es immer wieder, wenn meine Symptome durchkommen: eine Aufmerksamkeitsspanne von der Größe eines Marienkäfers, impulsive Ausbrüche, nervöse Ticks, schlechtes Zeitmanagement, innere Unruhe und Schlafstörungen. Aber ich habe gelernt, gut damit umzugehen und mein ADHS als Vorteil zu sehen.
Der erste Schritt dafür ist, das Bewusstsein zu erlangen, dass man ADHS hat. Der Selbsttest im Internet ist wenig hilfreich. Weil nicht jeder, der mal auf einem Stuhl rumzappelt, automatisch das Syndrom hat. Als ich 17 Jahre alt war, hat ein Klassenkamerad, der offen ADHS hatte, zu mir gesagt: “Niemand versteht mich… außer dir.” Ich fragte, was er meinte und er musste lachen: “Naja, du hast das doch auch.” Als ich aus der Schule kam, erzählte ich meiner Mutter davon. Entgegen meiner Erwartungen lachte sie nicht und sagte: “Das stimmt, du hast ADHS.” Und sie erzählte mir von dem Therapeuten, von dem ich immer dachte, er sei ein Logopäde gewesen. Und vom Ritalin, das ich für Schlaftabletten hielt.
Als Mensch mit ADHS neigt man zu Abhängigkeiten. Als Kind liebte ich den rosafarbenen Hustensaft mit dem kleinen Bären drauf. Er schmeckte süß und machte auch ein bisschen benebelt. Was nicht verwunderlich ist, denn er beinhaltet Alkohol. Und es gab ein Medikament, das Codein beinhaltete. Das hatte mein Bruder für seine häufige Bronchitis. Diese kleinen dunklen Kapseln waren ein Wunder für mich. Ich hatte einmal sehr starken Reizhusten und durfte eine Tablette nehmen. Von einer Sekunde auf die nächste war ich geheilt – so fühlte es sich zumindest an. Manchmal, wenn meine Eltern im Wohnzimmer saßen, schlich ich mich in die Küche und nahm eine Tablette oder trank von dem Saft. Es fühlte sich gut an und irgendwie wurde ich danach süchtig. Einige Monate später wurde ich erwischt und musste meine Erkältungen in Zukunft nur noch mit heißem Tee auskurieren. An unserem Medikamentenschrank hing bald ein Schloss.
Mit 13 Jahren zog ich das erste Mal an einer Zigarette. Die ersten paar Mal paffte ich, ließ den Rauch in meinen Backen und pustete ihn dann schnell wieder aus. Der Geschmack war eklig. Aber ich wollte zu meiner neuen Clique gehören, die waren alle älter als ich. Rauchen war cool, es war rebellisch und vor allem verboten. Das reizte mich. Ein halbes Jahr später inhalierte ich den Rauch bereits in meine Lunge und übte Ringeblasen. Mein letzter Zug ist nur eine halbe Stunde her. Ich bin heute 25 Jahre alt.
Mein erstes Mal Cannabis folgte mit 14 Jahren. Wir waren auf einer Hausparty, ein Typ hatte eine Bong dabei. Der Rauch schoss so blitzartig nach oben, dass ich total ausgeknockt war. Ich lag im Keller einer Freundin, mir war heiß und kalt zugleich. Und ich hing bis zum nächsten Morgen über der Toilette und kotzte. Das hat mich aber nicht davon abgehalten, es nochmal zu probieren. Ich hatte schon immer Alpträume, lag abends lange wach, mein Herz raste und ich fühlte mich gejagt. Vom Grasrauchen konnte ich besser einschlafen und wurde vor allem ruhiger.
Heute weiß ich, dass ich auf mich selbst aufpassen muss und mich nicht in Versuchung bringen darf. Es ist wie mit Süßigkeiten: Wenn nichts im Haus ist, ist alles gut. Ich bin ein zu großer Schisser um irgendwo auf der Straße Ecstasy zu kaufen und habe auch keinen Dealer-Buddy, der mir Cannabis mitbringt.
Um besser zuhören zu können, brauche ich visuelle Reize
Ich kann nicht lange still sitzen. Während ich in einem Meeting hocke, zerreiße ich gedankenverloren ein Blatt Papier in hundert kleine Fetzen, um mich besser konzentrieren zu können. Dann fällt mir auf, dass mein Kollege gegenüber seinen Kugelschreiber schon zum zweiten Mal in seine Einzelteile zerlegt und ein anderer die Fetzen mustert, mit denen ich spiele. Ich habe für mich herausgefunden, dass ich visuelle Reize brauche, um besser zuhören zu können. Wenn es die nicht gibt, muss ich irgendwas mit meinen Händen machen. Sonst sind meine Gedanken plötzlich ganz woanders, ich falle Leuten ins Wort, weil ich an etwas anderes denken muss, oder ich weiß nicht mehr, worum es gerade geht. Wenn ich alleine am Computer arbeite, höre ich einen Song auf Dauerschleife, um mich nichts mitzubekommen, was um mich herum passiert. Und ich wechsle häufig meinen Arbeitsplatz, vom Schreibtisch auf ein Sofa und wieder zurück an einen anderen Schreibtisch. So habe ich nicht das Gefühl, ewig an denselben Stuhl gefesselt zu sein.
Durch das ADHS stehe ich dauerhaft unter Strom. Das ist praktisch. Ich schiebe Dinge mit Absicht auf, um diese Energie unter Zeitdruck am besten zu nutzen. Ich bin süchtig danach, auf eine Deadline zuzusteuern, denn dann kann ich meinen Kopf in eine Art Autopilot setzen. Und ich habe keine Zeit, mich ablenken zu lassen. Diese Taktik hat sich bewährt. Ich schicke Pakete erst am letzten Tag zurück, ich putze erst eine halbe Stunde, bevor meine Eltern zu Besuch kommen. Ich hetze morgens durch die Wohnung und falle im Bus schweißgebadet auf den Sitz. Doch was anderen aus Versehen passiert, mache ich mit voller Absicht: Ich will aus der Puste sein. Ich bin kein Dauerläufer, ich bin ein Sprinter.
Ich reagiere schnell überreizt und bin in emotionaler Hinsicht ein noch größeres Chaos als der Inhalt eines Schredders. Als Kind hatte ich impulsive Ausbrüche, für die sich meine Eltern eine extra Versicherung gewünscht hätten, denn es mussten viele teure Sachen dran glauben. Vor Wut habe ich einmal unser Telefon in eine Fensterscheibe geschmissen. Mein Vater bezeichnete mich als “Tretmine” und damit hat er Recht. Heute weiß ich besser, mit diesen Schüben umzugehen. Ich verkrampfe meine Hände, knete ein Stressspielzeug oder zerreiße Kartons, um mich zu beruhigen. Es ist günstiger, Joghurtbecher oder Haargummis zu zerstören als etwas Größeres kaputt zu machen. Das klingt banal, aber es hilft.
Manchmal leide ich noch unter dem ADHS-typischen geringen Selbstwertgefühl und es fällt mir schwer zu glauben, dass andere Menschen mich so mögen, wie ich bin. Aber seitdem mir bewusst ist, dass ich ADHS habe, rede ich darüber. Ja, ich suche bewusst Bestätigung. Ja, ich brauche Lob und Anerkennung. Jeder trägt sein Päckchen mit sich herum und wenn man erstmal die Antwort auf die Warum-Frage hat, wird es leichter. Ich muss keine Begründung mehr für mich suchen, sondern nur noch Lösungen aus all den Teilen, die zu mir gehören.