Es gibt eine bestimmte moralische Zwangslage, über die sich Anthropologen und Ethnologen schon ewig streiten, wenn es darum geht, unberührte oder vergessene Völker in kleinen, entlegenen Gebieten dieser Erde zu dokumentieren. Diese Probleme werden jedoch immer dann hinfällig, wenn die invasive, wie Unkraut wuchernde Welt unweigerlich doch zu ihnen findet. Die Lykows—eine russische Familie, die einen Großteil des 20. Jahrhunderts ohne menschlichen Kontakt in der sibirischen Wildnis gelebt hat—gehören nicht zu den wenigen unentdeckten Stämmen, die noch verborgen vor der modernen Welt in Südamerika existieren. Sie haben sich auch nicht gewaltsam jeglichem Kontakt nach außen verweigert, wie die Sentinelesen auf den Andamanen dies noch heute tun. Als ich die 69-jährige Agafja, die letzte Überlebende des Lykow-Clans, fragte, ob sie sich wünschen würde, dass die Geologen, die ihre Familie 1978 in der vollständig isolierten Waldwildnis der sibirischen Taiga entdeckten, sie nie gefunden hätten, schüttelte sie den Kopf. „Ich weiß nicht, ob wir [ohnege sie] überlebt hätten“, meinte sie. „Uns gingen die Werkzeuge und das Essen aus. Ich hatte keine Schals mehr.“ Dieses eine Mal hat die unnachgiebige Neugier, jedes noch verbleibende Geheimnis dieser Welt zu enthüllen, ein einzigartiges Phänomen möglicherweise bewahrt, anstatt es zu kontaminieren.
Alles begann 1936, als Karp Lykow und seine Frau Akulina die Zivilisation ganz hinter sich ließen. Sie hatten genug von den Kommunisten und generell vom Leben in der Stadt und machten sich mit ihren beiden Söhnen in die Tiefen der Taiga auf. Den Anstoß für ihre Reise gab der Mord an Karps Bruder, der von einer bolschewistischen Patrouille bei ihrem kleinen Dorf in der Nähe von Kursk im äußersten Westen Russlands erschossen wurde. Die Lykows waren strenge Pazifisten und gehörten zu den Altgläubigen, einer ultraorthodoxen christlichen Gruppierung, die sich im 17. Jahrhundert von der russischen Kirche abgespalten hatte. Als sie ihr Stück Land gefunden hatten, bauten sie eine Hütte, brachten zwei weitere Kinder zur Welt und lebten die Art roher Existenz, die Unsere kleine Farm wie Spring Break in Florida aussehen lässt. Sie mussten ihre Kleidung mit einem Spinnrad herstellen, dass sie hunderte von Kilometern mit sich geschleppt hatten, und ernährten sich von Kartoffeln und Wildpilzen. 1961, nach fast drei Jahrzehnten im Wald, vernichtete ein Schneesturm ihre Ernte. Sie überlebten, indem sie Baumrinde und ihre Schuhe aßen. Akulina überließ sich dem Hungertod, damit ihre Kinder keinen Hunger leiden mussten.
Nach Akulinas Tod setzte die Familie ihr einsiedlerisches Dasein bis 1978 fort, als Geologen (die in der Gegend nach möglichen Ölvorkommen suchten) auf ihre Ansiedlung stießen. In den nächsten Jahren sollte sich die Nachricht von der seltsamen Familie, die zurückgezogen mitten im Niemandsland lebte, langsam aber stetig in Russland verbreiten und sie zu ungewöhnlichen Volkshelden machen. Diese Aufmerksamkeit war zum großen Teil Wassili Peskow zu verdanken, einem russischen Journalisten, der mehrere Artikel sowie ein Buch über die Familie veröffentlichte. Die Vergessenen der Taiga war in Russland ein Bestseller, und ist auch in Deutschland in mehreren Auflagen erschienen. Nach und nach verstarben alle Familienmitglieder. Es gab Spekulationen, nach denen die Einschleppung fremder Erreger für das Immunsystem der Lykows durch das Geologenteam letztendlich für ihren Tod verantwortlich gewesen sei; andere wiederum gehen von einer natürlichen Todesursache aus. Karp starb 1988, nachdem er all seine Kinder, bis auf Agafja, seine jüngste Tochter, überlebt hatte. Agafja begrub ihn mit der Hilfe einiger Geologen, die sich mit ihrer Familie angefreundet hatten, am Berghang.
Das Smithsonian veröffentlichte im Januar einen Artikel aus dem Archiv, der damit endete, dass Agafja, damals 45, beschloss, nach dem Tod ihres Vaters weiter allein in der sibirischen Wildnis zu leben. Doch das war Jahre her, und wir wollten uns ein Bild davon machen, wie das Leben Agafjas mit ihren mittlerweile 69 Jahren heute aussieht. Also machten wir uns auf den Weg.
Im Februar flogen wir nach Sibirien. Agafja lebt fast 250 Kilometer entfernt von der Zivilisation und es erforderte unzählige Anträge an die Regierung Putin—auch, um an verschiedenen Parkbeamten vorbeizukommen, die den Anspruch erhoben, für die Gerichtsbarkeit in der Taiga zuständig zu sein—um die Genehmigung zu erhalten, sie zu besuchen. Im Sommer, so wurde mir gesagt, könne man mit einer siebentägigen Kanutour zu ihr gelangen. Im Winter sei sie ausschließlich mit dem Hubschrauber erreichbar.
Als wir eintrafen, wartete Agafja vor ihrer Hütte auf uns wie eine liebe Großmutter, die den Besuch ihrer Enkelkinder erwartet. Das Naturschutzgebiet, in dem sie lebt, wurde zu Ehren ihrer Familie „Lykow-Territorium“ genannt und ihre Hütte steht auf einem Felshang an einem schnell fließenden Fluss namens Jerinat. Ich war erstaunt, wie flink und gesund sie für eine 69 Jahre alte Frau wirkte, die schon mal ihre eigenen Schuhe gegessen hatte, um zu überleben. Ihr Anwesen besteht aus mehreren Hütten und kleineren Gebäuden für Ziegen, Hühner, Vorräte und konservierte Lebensmittel, sowie einem Garten am Steilhang hinter dem Hauptgebäude. (Bei unserem Besuch war der Garten mit Schnee bedeckt, wie dies im sibirischen Winter meist der Fall ist.) Dank der Hilfe von Freunden und Bewunderern konnte sie den einräumigen Schuppen, in dem die ganze Familie früher wohnte, im Laufe der Jahre vergrößern. Dutzende Katzen streunen auf dem Gelände frei herum.
Nachdem ich ihr eine Ziege und ein Huhn als Geschenk übergeben hatte, interviewte ich Agafja an einem kleinen Tisch am Flussufer. Ich fragte sie, was seit dem Tod ihres Vaters vor fast 20 Jahren geschehen sei.
„Als er starb“, erzählte sie, „hatte ich niemanden mehr, der mir helfen oder auf den ich mich verlassen konnte. Ich habe selbst Brennholz geschlagen“. Wie viele ältere Leute in Russland erhält auch Agafja eine staatliche Beihilfe, ist jedoch weitgehend unabhängig—Kochen, Nahrungssuche und Fischen, all das macht sie selbst. Sie erzählte mir, dass der anstrengende Alltag in der Taiga mit dem Älterwerden schwieriger geworden sei.
„Es ist nicht leicht, Heu zu schneiden und sich um die Ziegen zu kümmern“, sagte Agafja und erzählte dann, dass sie jetzt ein Gewehr habe, um sich gegen Wildtiere zu wehren. „Im letzten Sommer hat ein Bär hier alles verwüstet, während ich mich drinnen versteckte. Er packte sich einen meiner Mehlsäcke und zertrampelte die Karotten. Ich habe ein Loch gegraben und der Bär ist in die Falle gegangen.“
Ganz allein ist Agafja jedoch nicht. Sie hat einen Nachbarn namens Jerofei Sedoy. Ursprünglich war er als Ölsucher hergekommen und lebte zusammen mit anderen Geologen seiner Firma etwa 15 Kilometer entfernt von Agafja. Dann wurde ihm aus unbekannten Gründen, zu denen er sich nicht äußern mochte, gekündigt. Er ging schließlich in die große Stadt zurück, wo er sich irgendwie Wundbrand zuzog und sein Bein verlor. Als ihm ein Arzt sagte, eine Rückkehr zu dem sauberen Wasser der Taiga könnte seiner Gesundheit förderlich sein, ließ er sich bei Agafja, unterhalb des Hanges am Ufer des Flusses, nieder und lebt dort seit mittlerweile 16 Jahren.
Jerofei hat mir erzählt, dass er in erster Linie in die Taiga gekommen sei, um Agafja zu helfen, die all die Jahre ganz allein gewesen sei. In Anbetracht seines Beinstumpfes erschien sein Motiv jedoch etwas fraglich.
Agafja erzählte eine andere Geschichte. „Zu Anfang hat er mir mit den Ziegen geholfen. Das macht er jetzt nicht mehr. Er hat Holz gehackt. Das macht er jetzt nicht mehr. Schließlich war ich es, der Jerofei zwei Winter lang mit Brennholz ausgeholfen hat. Er kann im Winter nicht einmal mehr das gehackte Brennholz selbst reinbringen. Wie soll er mir da helfen? Ich bringe ihm Brennholz. Sechzehn Jahre, und er ist total von mir abhängig. Jerofei ist ein Nichtsnutz. Niemand braucht ihn. Er ist keine Hilfe. Er braucht selbst Hilfe.“
Agafja und Jerofei kommen trotzdem noch gelegentlich an diesem Ort zusammen, um gemeinsam Radio zu hören. Es ist der einzige regelmäßige Kontakt, den sie zur Außenwelt haben. „In den Nachrichten berichten sie von Verbrechen und Explosionen“, sagte Agafja. „Es ist beängstigend. Was ist los mit [diesen] Leuten, die Selbstmordattentate verüben?“
Agafja mag zwar nur wenig Besitz in der materiellen Welt haben, aber sie hat einen starken Glauben. Wie ihre engste Familie und ihr seit langem verstorbener Onkel—derjenige, der 1936 von den Kommunisten getötet wurde—gehört Agafja zu den Altgläubigen. Lesen hat sie durch das Studium der Bibel gelernt und sie steht noch immer jeden Morgen zeitig auf, um zu beten. Ab und zu liest sie Zeitschriften der Altgläubigen, je nachdem, wie häufig die sporadischen Besucher ihr welche mitbringen. Eine der etwas verschrobeneren Ideen, die sie aus diesen Zeitungen hat, ist die Vorstellung, dass Barcodes ein Kennzeichen des Teufels sind. „Es ist der Stempel des Antichristen“, sagte sie. „Die Leute bringen mir Saattüten mit Barcodes darauf. Ich nehme die Samen heraus, verbrenne die Tüten sofort und dann pflanze ich die Samen. Der Stempel des Antichristen bedeutet das Ende der Welt“, sagte sie. „Gott wird nicht alle retten.“
Zu den wenigen Dingen, die Agafja genauso hasst wie Barcodes, gehören Städte—mit denen sie, das mag überraschen, ganz gut vertraut ist. Anfang der 1980er, als die Lykows durch die Artikelserie von Wassili Peskow zu einem nationalen Phänomen wurden, wurde Agafja von der sowjetischen Regierung eingeladen, ihr Land das erste Mal zu bereisen. Sehr zum Kummer ihres Vaters (der kurz nach ihrer Rückkehr starb) nahm sie die Einladung an und reiste einen Monat lang per Hubschrauber, Zug, Flugzeug und Auto durch das ganze Land. Sie sah ganz neue Dinge wie Kühe, Pferde, Geschäfte, Städte und Geld.
Seither hat sie trotz jahrelangen wiederholten Drängens seitens der russischen Behörden, in eine Stadt oder ein Dorf zu ziehen, ihr Zuhause nur etwa fünfmal verlassen—in erster Linie, um Verwandte zu treffen, die sie noch nie kennen gelernt hat, oder um sich ärztlich behandeln zu lassen. Sie erzählte uns, dass etwas anderes als das Wasser ihres geliebten Jerinat zu trinken sie krank machen würde, und dass auch die Stadtluft sie krank mache.
„Da draußen bekomme ich Angst“, so Agafja. „Man kann nicht atmen. Überall sind Autos. Es gibt keine frische Luft. Jedes Auto, das vorbeifährt, lässt so viele Gifte in der Luft zurück. Alles, was man tun kann, ist zuhause bleiben.“
Far Out: Agafia’s Taiga Life läuft auf VICE.com.
Videos by VICE
Fotos von Peter Sutherland