Alec Empire verweigert den quality content

Alec Empire dürfte hinlänglich als der Einpeitscher bekannt sein, der seit gut zwanzig Jahren bei Atari Teenage Riot seine Stimmbänder als Kampfparolen-Katapult missbraucht. Gerade 2015 wird sich vehement durch deren Agitprop-Geballer erschüttern lassen, denn im Februar erscheint das neue ATR-Album Reset.

Abseits seiner Rolle als Digital Hardcore-Vordenker tritt Alec aber nicht nur als interdisziplinärer Tausendsassa in Erscheinung, sondern auch als Genre-Grenzgänger. Für großes Staunen und teilweise auch Unverständnis sorgte er 1995, als er sein Ambient-Konvolut Low On Ice veröffentlichte. Damals teilweise noch eine zu hohe Beanspruchung der Konzentrationsfähigkeit seiner Breakcore-Klientel, doch schon bald ein Genre-Klassiker. Da sich in den letzten Jahren das Konzentrationsvermögen eines durchschnittlichen Musikhörers Spotify-Users nochmal auf das einer Obstfliege verengt hat, beschloss Alec ganz im Sinne des gegen Windmühlen streitenden Don Quijote, Low On Ice remastered und als Triple-CD-Edition wiederzuveröffentlichen. Und da in den letzten Jahren immer mal wieder Stimmen laut wurden, die sein Ambient-Material endlich live auf einer Bühne erleben wollten, wird auch das bald sehr bald passieren.

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Ich traf mich mit Alec zu einem Gespräch, in dem es neben Low On Ice und dem neuen Atari-Album auch um Zeitgeistbefindlichkeiten wie die zunehmende Alltagsinfiltrierung durch Digitalmüll oder eben die immer weiter schrumpfende Aufmerksamkeitsspanne in der Medienrezeption geht. Darum reite ich jetzt auch gegen Windmühlen und drucke das gesamte Gespräch jetzt einfach fast ungekürzt ab. Dein Glück, Obstfliege, wenn du schon vor zwei Absätzen ausgestiegen bist.

Noisey: Wie kam es zur Neuauflage von Low On Ice?
Alec Empire:
Ich arbeite mit Charlie Clouser hin und wieder an Soundtracks für Filme und gelegentlich durchforsten wir die Archive nach alten Aufnahmen. Da ist oft etwas dabei, was gut passt, was man aber schon lange vergessen hatte. Und so bin ich nochmal auf diese Bänder gestoßen—war ja auf Tonband aufgenommen damals. Man hatte ja 95 keine Laptops mit nach Island genommen.

Ihr hattet damals einen Festivalgig in Island, richtig?
Genau, wir spielten dort mit Atari Teenage Riot und ich beschloss, einfach für ein paar Tage dort im Zelt zu bleiben, während die meisten anderen Bands nach Reykjavík in ein Hotel fuhren. Dadurch hatte ich das gleiche Equipment um mich herum, das ATR auf der Bühne benutzte. Also keinen Atari Computer, aber diese ganzen Techno-Maschinen, 808, 909, 303 und so was. Ich wollte mir damit ein bisschen die Langeweile vertreiben und dann ist plötzlich dieser Sound entstanden, der ziemlich gegensätzlich ist zu dem, was ich eben damals so gemacht habe. Manche Leute haben die Vorstellung, dass ich irgendwo einsam in der Wildnis gehockt habe, aber tatsächlich war ich einfach auf dem Festivalgelände, wo es auch Strom gab etc.

Und es war das erste Mal überhaupt, dass du in Soundscapes gearbeitet hast?
Naja, irgendwie macht man das ja immer automatisch, wenn man elektronische Musik produziert. Aber Low On Ice war einfach viel langsamer und diese Filtersachen hatte ich in der Form noch nicht gemacht. Das ist ja alles wie Zeitlupe. Heute mit den ganzen Dub-Sachen ist das ja alles nichts besonderes, aber damals war das Dubbigste vielleicht Massive Attack. Low On Ice war da schon ein Außenseiter, der sehr radikal rüberkam.

Was genau hast du jetzt am Sound der Neuauflage geändert?
Das Original klingt schon gut, aber damals ist viel von den Frequenzen verloren gegangen, wenn du es digital überspielt hast. Das hat man damals so hingenommen, aber jetzt hast du natürlich mehr Möglichkeiten und ich habe das Gefühl, dass man jetzt den ursprünglichen Sound viel besser wiedergeben konnte. Okay, wenn du es jetzt nur auf dem iPhone hörst, ist es wahrscheinlich egal, haha.

Ihr bringt die Neuauflage auf CD raus, richtig?
Genau, kommt auf Triple-CD. Mille Plateaux, die das Original veröffentlicht hatten, wollten das damals nur auf einer CD rausbringen. Die dachten, man würde die Leute mit mehr Material einfach überfordern. Heute finde ich teilweise die Sachen auf CD 2 und 3 fast noch interessanter. Aber könnte auch daran liegen, dass einem die ursprüngliche Veröffentlichung mittlerweile zu geläufig ist. Wegen Vinyl überlegen wir noch. Das wäre ja ein sauteures Ding, sechsfach-Vinyl oder so, wenn man die Frequenzen wirklich gut abbilden will. Ich fänd es schon geil, aber ist die Gemeinde dafür da, mal eben 80 Dollar dafür auszugeben?

Naja, hast du mal auf Discogs geschaut, was Copies der Original-LP bringen?
Nee, wieso, was bringen die denn?

Die teuerste Copy kostet 370 Euro. Im Durchschnitt steht sie für 70-80 Euro drin.
Vielleicht sollten wir dann doch Vinyl machen, haha. Ich hatte mal überlegt, vielleicht so eine Kickstarter-Sache dazu zu initiieren. Dann sieht man halt, wollen die Leute es wirklich? Es gibt ja nichts Deprimierenderes als auf 1000 Low On Ice siebenfach-Vinylboxen rumzusitzen, die keiner haben will. Ich traue eben keinem mehr, was so was angeht, haha.

Bei der Platte drängt sich natürlich dieser klischeehaft behauptete Zusammenhang zwischen Musik und ihren Entstehungsbedingungen auf. Also er macht zum ersten Mal schwere, eisige, langsame Ambientmusik. Zufall, dass er dabei gerade in Island ist?
Die Frage ist ja, ob das wirklich der Grund ist. Ich könnte den Low On Ice-Ansatz ja auch irgendwo in Kalifornien verfolgen. Aber klar kann man sich fragen, warum passierte es gerade zu dem Zeitpunkt, warum nicht schon einen Monat früher. Ich kann es nicht wirklich beantworten, aber ich kenne das Gegenteil von anderen Alec Empire-Sachen, wo die Leute sagen: „Ey, das ist soooo Berlin!“ und dabei war ich zu dem Zeitpunkt gar nicht mehr in Berlin. Also die Leute bilden sich da manchmal schon was ein, was nicht der Realität entspricht. Aber Low On Ice ist da vielleicht eine Ausnahme, vielleicht gab es da wirklich den Zusammenhang.

Setzen wir voraus, dass es ihn geben kann, welche Länder fändest du interessant für eine mögliche Vertonung?
Ich war im Mai in Israel, um aufzulegen und an einer Universität über Analogsynthesizer zu referieren. Und dort war ich mit so einer Drone-Band namens Farthest South für ein paar Tage im Studio. Da haben wir jeden Tag so fünf, sechs Stunden am Stück gejammt. Also es gab keine Pause. Wir überlegen gerade, wie wir das gemixt bekommen, denn es waren etliche Kanäle bei den Sessions offen. Bei der Dauer kommen die Macs dann doch an ihre Grenzen, was auch wieder irgendwie lustig ist. Aber dort hatte ich auch dieses Gefühl, dass die Umgebung auf die Musik einwirkt. Der Sound hat diese Grundspannung, so eine Ahnung von Gefahr, die in Berlin vermutlich nicht zustande gekommen wäre. Ist auch eine interessante Frage, wenn man bedenkt, dass man durch das Internet glaubt, immer überall alles machen zu können. Da unterschätzt man vielleicht den Einfluss der jeweiligen Orte.

Nochmal zum Aufnahmeprozess der Low On Ice. Das waren dann vermutlich alles Onetakes, oder?
Genau, ich hatte ja wie gesagt keinen Computer. Man programmiert den Beat in die 808 und viele Sachen entstehen dann, während man aufnimmt. Man surft einfach vor sich hin und muss oft schnelle Entscheidungen treffen. Es war im Prinzip eine Live-Performance. Du musstest total konzentriert sein. Denn es konnte ja sein, es fängt cool an und bei drei Minuten machst du dann irgendeinen Scheiß, dann ist die ganze Aufnahme Müll. Heute weißt du natürlich, du kannst im Nachhinein alles reparieren und das führt schon zu einer gewissen Gleichgültigkeit. Bei mir nicht unbedingt, denn ich kenne es eben auch noch anders. Aber viele Leute verschieben es dann auf den nächsten Tag, Probleme zu fixen.

Jetzt spielst du das Material ja wirklich live im Rahmen des CTM—wie kam es zu dem Projekt? Und ist es eigentlich eine Live-Premiere?
Es gab 96 mal eine Mille Plateaux-Tour mit Techno Animal und DJ Rush und in Berlin waren auch noch Oval mit dabei. Und da bin ich während des Live-Sets mal in diese Richtung gedriftet. Aber wenn du das länger als 10 Minuten gemacht hättest, wären die Leute alle raus gegangen. Und jetzt war es so, dass wir vor ein paar Monaten dieses Boiler Room-Set spielten und dann meinten einige Leute, macht doch auch mal Low On Ice. Und ich dachte mir ‚Häh, interessiert das die Leute wirklich?’ und dann hörte ich das immer häufiger und so fragte Michail vom Boiler Room Berlin, der auch als Booker beim CTM aktiv ist, ob ich das denn beim Festival machen würde. Und ich dachte mir, warum nicht. Ich fand den Gedanken ganz interessant, nachdem wir jetzt mit Atari wieder die ganze Zeit Alarm gemacht hatten, sich auch mal wieder in eine andere Sache reinzuzwingen.

Und man kann es sich so vorstellen, dass du das Recording-Setup einfach auf der Bühne nachstellst und die Sessions von damals rekapitulierst?
Genau. Der Witz ist, dass in der 808 und der 303 teilweise noch die Sequenzen von damals drin sind. Das ist auch etwas gespenstisch. Ich denke mir, OK, ich fang mal an, mir die Sachen zurechtzulegen und dann entdecke ich, dass ich in den letzten 20 Jahren immer nur die ersten zehn Pattern verändert habe und hinten noch die alten Sequenzen drin sind. Das ist wie mit ‘nem alten Atari Computer. Du lädst eine von den alten Disketten und die Information ist immer noch da. Das fasziniert mich irgendwie.

Wo du gerade die Zeit ansprichst, die seit den Aufnahmen vergangen ist. Wie fühlt sich denn das Material für dich persönlich an? Hast du noch einen direkten Bezug zu den Tracks?
Ich kann das noch sehr gut nachvollziehen, dass ich mich damals so gefühlt habe. Das ist ein großer Teil von mir. Wie wenn man so auf der Straße langläuft. Dieses ‚OK, nicht ausrasten. Ganz ruhig bleiben. Filter den ganzen Bullshit raus, bleib wie unter Eis.’ So habe ich das damals beschrieben und ich glaube, deswegen konnten sich die Leute auch damit identifizieren. Man musste sich einfach von dem ganzen Müll abschotten, der auf einen einprasselt. Mal sehen wie es die jungen Leute heute aufnehmen. Damals war es ja so, dass die ganzen Industrial-Leute die Mille Plateaux-Sachen wahrgenommen haben. Heute wird ja so getan, als ob es damals nur Warp gab. Aber Warp hat natürlich geguckt, was Mille Plateaux so macht. Einfach weil da die radikalsten Experimente rausgekommen sind. Mir wurde der Impact des Albums erstmals bewusst als wir mit Atari eines der ersten Konzerte in New York gespielt haben und plötzlich Thurston Moore mit einer Copy von Low On Ice vor mir stand und eine Signatur drauf haben wollte. Ich war total verwirrt. War natürlich cool, aber es war auch interessant, dass er genau diese Platte dabei hatte. Im Nachhinein macht es komplett Sinn, weil es auch so eine Krautrock-Anmutung hat. Die sahen das in der Tradition von Neu! Und Cluster, manche sagen sogar Tangerine Dream. Die Amis hatten ja Techno total verpasst, da leuchtet es schon ein, dass sie diese Platte eher verstehen konnten.

Hattest du später mal wieder ein ähnliches Mindset bei anderen Aufnahmen?
Nicht genau wie bei Low On Ice, aber der zweite Teil der Intelligence And Sacrifice-Platte hätte wohl so nicht geklungen, wenn ich Low On Ice nicht gemacht hätte. Und bei Soundtracks bin ich sowieso in einem ähnlichen Mindset, also alles so weit wie möglich zu reduzieren.

Der CTM-Auftritt wird audiovisuell sein, richtig?
Genau, Zan Lyons macht so Experimente dazu. Er filmt mit einer Miniaturkamera durch Eis—könnte geil werden. Ist ja diesmal nicht Alec Empire, der von der Bühne in den Moshpit springt.

Wird nicht passieren, meinst du? Vielleicht in Zeitlupe?
Haha, weiß nicht, kommt auf das Publikum drauf an.

Die letzten Jahre standen vorwiegend im Zeichen der Band. Hast du Pläne für ein neues Solo-Album?
Es gibt ja dieses Album, das ich eigentlich im September 2010 rausbringen wollte und dann kam Atari dazwischen. Es mehren sich auch die Stimmen, die sagen, mach doch mal wieder was. Also das wäre schon interessant. Ich sehe mich aber gerade ein bisschen als Deserteur. Ich habe keinen Bock mehr, die ganze Zeit neues Zeug rauszubringen. Ich will nicht an dieser Überflusskultur im Internet teilnehmen.

Wie viele fertige Alben hast du denn, die man nicht kennt?
Das Archiv ist voll mit Sachen. Wenn man so was wie Low On Ice gut findet, dann kann man sich freuen, wenn ich mal abtrete, was da so zum Vorschein kommen wird.

Du hattest gerade die Überflusskultur des Internets angesprochen. Wir gehören beide einer Generation an, die bewusst die Veralltäglichung des Internets miterlebt hat und damit wahrscheinlich einen der größten Innovationsschübe der Menscheitsgeschichte. Wir hatten zum Beispiel damals in den Achtzigern nicht mal ein Telefon zuhause. Ich erlebe in den letzten Jahren an mir selbst immer wieder das Gefühl, von der Realität der Internetkommunikation drangsaliert zu werden. Das Gefühl, aufgrund meiner Spuren im Internet indizierbar und kalkulierbar zu sein. Ich habe ATR trotz des Hardware-nostalgischen Produktionsansatzes tendenziell Fortschritts-optimistisch wahrgenommen, was das Internet angeht. Wie nimmst du die Möglichkeiten moderner Kommunikation wahr und die Dinge, die daraus gemacht werden?
Genau das ist der Punkt, was daraus gemacht wird. Ich und viele der Musiker, mit denen ich arbeite, empfinden das so: Silicon Valley hat alle verarscht. Google und Youtube baut auf dem geklauten Content anderer auf. In den späten Neunzigern dachte man dann, dank des Internets gibt es keine Gatekeeper mehr, wir können endlich alles machen, endlich gibt es eine freie Meinung etc. Und heute ist es für Kreative auf einen Dauerzwang hinaus gelaufen, immer alles hergeben zu müssen, damit sich diese Verbreitungsindustrie davon ernähren kann. Ich glaube, dass sich das irgendwann wieder ausbalancieren wird, weil die Leute einfach müde sind. Das ganze Ding wird zusammenbrechen, wenn nicht mehr genug guter Content da ist. Das Versprechen ist einfach nicht aufgegangen. Die dümmsten Brüllaffen kriegen den meisten Zulauf. Und alles, was introvertiert ist, das ist auch ganz interessant im Zusammenhang mit Low On Ice, das kommt nirgendwohin. Und das ist schade. Und das ist auch auf andere Bereiche übertragbar. Miley Cyrus kommt doch auch nur in die Headlines, weil es Klicks bringt. Und Google bringt ja immer noch die gleiche Leier, jeder kann und so. Nein, wenn ihr die Architektur so errichtet habt, dass ihr mit Werbung euer Geld verdient, dann ist es eben nicht möglich, dass mal eben jeder viral gehen kann. Und wenn mir dann jemand im Studio erzählt, dass bei Spotify die Aufmerksamkeitsspanne zwei oder drei Sekunden beträgt und man darauf hin produziert, dann habe ich da keinen Bock drauf.

Und du glaubst an einen Umbruch, eine Internetrevolution?
Wenn man sich zum Beispiel anguckt, welchen Krieg Youtube gegen die Independentakteure führt, also diese Copyrightdiskussion bei Indielabels, da muss man sich doch fragen, wer kommt auf solche Ideen? Allein dafür dürfte man Youtube nie wieder anklicken. Es widerspricht ja auch der Idee des Internets. Momentan tut man sich mit den big playern der Industrie zusammen und alle anderen werden fertig gemacht. Die Frage ist, wo soll denn da noch die Innovation in sämtlichen kulturellen Bereichen herkommen, wenn die Independentkultur systematisch ausgeschaltet wird? Und ich glaube, dass das nicht ewig so weiter gehen kann. Da werden sich Gegenkräfte formieren. Die Leute, die intelligent sind, müssen sich verweigern.

Die Facebookpage von ATR ist etwas, das ich am liebsten schon längst abgeschaltet hätte, allein schon wieder jetzt beim neuen Album. Da postet dann der Intern vom Label die neuen Tracks und schon geht der Hate los: ‚Warum sind da keine Breakcore-Sachen drin?!’ Blablabla. Die Leute verdächtigen einen ja immer nur, dass man was Böses will. Die können sich gar nicht vorstellen, dass Musiker die Musik machen, die sie geil finden. Das sind nicht alle, aber das ist so eine bestimmte Fraktion. Das sind die Breakcore-Leute oder die Goth-Industrial-Leute, die dann zum Beispiel auch nicht verstehen, dass Revolution Action keine Ironie war, sondern ernst gemeint. Genau so wie Low On Ice auch ernst gemeint ist. Und darum meinte ich, lasst uns doch die Seite endlich abschalten. Der größte Schwachsinn wird ja auch dort erzählt. „Carl Crack, seit der gestorben ist, gab es auch keine geilen Beats mehr!“ Dabei hat Carl niemals auch nur einen Beat bei Atari gemacht. Dabei kann man alle Fakten direkt nachlesen. Man kann mich und uns ja gern angreifen, das finde ich auch total lustig, aber dann lest doch wenigstens vorher nach und greift die echten Sachen an. Und dann kann manchmal nur die einzige Reaktion sein, auszusteigen. Ich meine, wenn es wenigstens noch eine vernünftige Breakcore-Szene geben würde, hätte man vielleicht auch Lust, so was mal wieder zu machen, aber nur, um ein paar Skinhead-artige Typen glücklich zu machen, nein Danke.

Wenn du sagst, bei ATR ist das meiste ernst gemeint, dann dürften auch die Happy Hardcore-Momente auf der neuen Platte ernst gemeint sein?
Happy Hardcore, haha. Das kann ich direkt mit ja beantworten. Das ist eben Atari Teenage Riot, auch immer gewesen. Ich glaube, ich weiß ungefähr, was du meinst. ATR kommt aus dieser Szene. Und dass die Leute denken, wir würden eher aus so einer Industrialszene kommen, das ist einfach ein Missverständnis. Und wegen des aktuellen Sounds: Ich kann einfach aus der Snowden-Sache nicht ziehen, dass alles verloren und die Welt schlecht ist und ich auch deswegen schlecht gelaunt sein muss. Es geht darum, Methoden zu entwickeln, um Dinge zu ändern. Wir brauchen eine Bewegung mit Aufbruchstimmung, die nicht in Lethargie erstarrt und denkt, es führt sowieso alles zu nichts. Ich kann verstehen, wenn Leute verwundert sind und sich fragen: ‚Warum fühlen die sich so? Eigentlich müssten die sich doch wie Death Grips fühlen.’ Aber wie Death Grips habe ich mich einfach schon oft genug gefühlt, haha. Und ich fühle mich auch nicht so. Aber ist schon witzig. Wir kriegen Todesdrohungen wegen der ersten Single. Das erinnert mich auch an die Anfangstage, wenn die Punks auf die Barrikaden gegangen sind, weil sie eine Drummachine ertragen mussten. Und klar, man könnte das anders verpacken oder in eine andere Reihenfolge packen, aber in ATR ist das Optimistische drin. Dieses „I hurt myself today“ wirst du bei uns eigentlich kaum finden.

Wenn man den letzten ATR-Platten Funktionen zuschreiben möchte, dann beschreibt Is This Hyperreal den Zustand und Reset liefert den Lösungsansatz?
Die letzte Platte hat in der Tat den Zustand beschrieben. Wenn du dir da mal die Rezensionen anschaust, zum Beispiel die in der Spex, dann wird das so dargestellt, als wären wir Freunde von Alex Jones oder irgendwelchen Verschwörungstheoretikern. Aber wenn du dich damit beschäftigst, dann sind das ja keine Horrorszenarien, sondern belegbare Dinge. Und bei Reset ist es so, den Leuten muss bewusst werden, dass dieser Reset stattfinden muss. Wir brauchen neue Gedankenansätze, neue Ideen. Der einzige Weg kann nur sein, dass man handelt und nicht aufgibt. Is This Hyperreal ist vielleicht heute für mehr Leute besser verständlich. Damals war es so, der Wikileaks-Skandal brandete auf und wir fanden die Themen interessant, weil wir sie so in den Neunzigern nicht thematisiert hatten. Und dann entwickelte sich die Platte eben genau so. Und dann spielst du damit in New York und ein Skrillex spielt vor dir vor zehn Leuten, weil alle rausgehen, um zu rauchen und ein Jahr später füllt der Typ Stadien. Es ist eben auch verrückt, wie sich die Dinge in den letzten Jahren entwickelt haben.

Das komplette CTM-Programm könnt ihr hier nachschlagen.

Alec Empires Low On Ice – The Complete Iceland Sessions erscheint in Kürze auf Geist Records.

Atari Teenage Riots Reset erscheint am 06.02. auf Eat Your Heart Out.

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