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Alle suchen nach der Dunklen Materie—dieser Physiker meint, es gibt sie nicht

Hubble Deep Field | Bild: NASA | Wikimedia Commons |  Public Domain

Anfang 2010 veröffentlichte ein Stringtheoretiker der Universität Amsterdam eine alternative Gravitationstheorie, die die Physikwelt für die nächsten Jahre beschäftigen und spalten sollte. Denn Erik Verlinde lässt die geheimnisvolle Dunkle Materie und Dunkle Energie, aus der 95 Prozent des Universums bestehen soll und die bisher Teil jeder Gravitationstheorie war, einfach links liegen und streicht sie kurzerhand aus seinem Modell. Und nicht nur das: In seinen Papers betrachtet er die Schwerkraft nicht wie bisher als fundamentale Grundkraft der Physik, sondern nur als eine Art Nebeneffekt des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik. Dieser besagt nämlich, dass physikalische Systeme Unordnung anstreben.

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Die jahrelange Kontroverse um diese so elegante wie bahnbrechende Theorie wurde durch ein weiteres Paper Verlindes im November dieses Jahres nun neu entfacht. Und jetzt konnte ein niederländisches Forscherteam seinen Ansatz endlich erstmals experimentell im Weltraum überprüfen.

Verlindes Thesen polarisieren: Schließlich widersprach der Physiker den grundlegenden Annahmen von Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie, die die Schwerkraft als fundamentale Wechselwirkung betrachtet. Die unterschiedlichen Reaktionen auf diese Theorie fasste der Harvard-Physiker Andrew Strominger treffend für die New York Times zusammen: „Einige Physiker sagen, dass dieser Ansatz nicht stimmen kann, andere, dass er korrekt ist und dass wir schon immer gewusst haben, dass die Annahmen richtig und fundiert, richtig und offensichtlich sind. Klar ist: Diese Theorie ist eine interessante Ideensammlung zu Aspekten unseres Universums, die wir bisher nicht verstehen.”

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Auch wenn Verlinde durch seine alternative Gravitationstheorie in den letzten Jahren zahlreiche Diskussionen anregte—die wichtigste Frage blieb jedoch in all der Zeit unbeantwortet: Kann Verlindes Theorie in Experimenten auch bestätigt werden? Ein niederländisches Forscherteam um die Astronomin Margo Brouwer unterzog Verlindes Theorie nun zum ersten Mal dem Praxistest: Die Forscher des Leiden Observatory nutzten den Ansatz, um die Gravitationsverteilung von rund 33.000 Galaxien vorherzusagen. Und tatsächlich: Die Berechnungen mit Verlindes Theorie deckten sich gut mit der beobachteten Verteilung der Schwerkraft.

So liefert Verlindes Theorie eine völlig neue Erklärung für ein Rätsel, an dem sich Astrophysiker jahrzehntelang die Zähne ausbissen: Wieso die beobachtete Schwerkraft rund um eine Galaxie so viel stärker ist, als man es durch Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie erwarten würde. Um das zu erklären, wurden bisher Dunkle Materie und Dunkle Energie herangezogen, die zusammen angeblich 95 Prozent der Masse und Energie im Universum ausmachen. Kleiner, unbefriedigender Haken daran: Worum es sich bei der Dunklen Materie genau handeln soll, gehört nach wie vor zu den wichtigsten offenen Fragen der Astrophysik.

In seinem neuen Paper vom November erklärt Verlinde nun, dass genau dies für ihn der Ausgangspunkt gewesen sei, um die bisherigen Theorien zu hinterfragen: „Die Annahme, dass 95 Prozent unseres Universums aus mysteriöser Energie und Materie bestehen soll, ist Grund genug, diesen Ausgangspunkt zu überdenken.” Stattdessen hält Verlinde es für möglich, die Gravitationsverteilung auch ganz ohne die Zuhilfenahme von geheimnisvollen dunklen Partikeln zu erklären: Der Physiker versteht Schwerkraft nicht als Ursache für die Vorgänge im Universum, sondern als ein Phänomen, das sich aus den physikalischen Prinzipien der Entropie ergibt.

Eine ausführliche Erklärung von Verlindes Gravitationstheorie findet ihr hier: Physiker legt überraschende Erklärung für Dunkle Materie vor

„Der Grund, warum die meisten Physiker an die Existenz Dunkler Materie glauben, beruht nicht auf Beobachtungen—sondern darauf, dass es bisher keine theoretischen Beweise oder Ansätze gab, um diese neuen Phänomene ausreichend zu erklären”, schreibt Verlinde in seinem aktuellen Paper. „Sobald es eine theoretische Grundlage für einen neuen Zustand der Schwerkraft gibt, der anderen physikalischen Gesetzen folgt, und man sie auch durch quantitative Beobachtungen belegen kann, sieht die Beweislage schnell ganz anders aus.”

Kurzum: Verlindes Theorie der emergenten Schwerkraft steht—bisher fehlten jedoch noch messbare Ergebnisse, die seine Thesen belegen und die Dunkle Materie und Dunkle Energien ein für allemal ins Aus befördern würden. Genau dieser Herausforderung stellten sich nun Brouwer und ihr Team.

Um Verlindes Theorie zum ersten Mal in der Praxis zu testen, maßen die niederländischen Forscher die Masseverteilung von 33.613 Galaxien. Diese Messungen führten sie mit Hilfe von Gravitationslinsen durch. Das sind Objekte im Weltraum mit denen die Ablenkung des Lichts durch große Massen, wie zum Beispiel Galaxien, beobachtet werden kann. Das Team verglich diese Messergebnisse dann mit der Masseverteilung, die zuvor durch Verlindes Ansatz errechnet wurde. Die Wissenschaftler stellten fest, dass „die Vorhersage auf Grundlage der emergenten Gravitationstheorie gut mit den beobachteten Gravitationslinseneffekten übereinstimmt.”

Scheinbar kann man mit ihr die ungewöhnliche Gravitationsverteilung rund um Galaxien erklären, die laut der Allgemeinen Relativitätstheorie nicht existieren sollte—und dabei kommt Verlindes Ansatz sogar ganz ohne die Existenz von mysteriösen Dunklen Partikeln aus, sondern stützt sich allein auf Messungen der sichtbaren Materie.

Auch wenn diese quantitativen Versuchsergebnisse für Verlindes Konzept sprechen, stellen sie nur den ersten Schritt zur Bestätigung der kontroversen Theorie dar. Denn laut Brouwer gibt es immer noch einige offene Fragen, die auch von Verlindes Theorie der emergenten Schwerkraft nicht ausreichend beantwortet werden können: „Sowohl der theoretische Ansatz als auch die praktischen Tests der emergenten Schwerkraft müssen noch weiter voranschreiten, bevor sie als voll ausgereifte und gründlich getestete Theorie gelten kann.”