Am 6. Dezember 1969 wurde Meredith Hunter, ein 18-jähriger Afroamerikaner, während eines Auftritts der Rolling Stones von einem Mitglied der Hells Angels erstochen. Das “Altamont Free Concert”, das als Westküsten-Gegenstück zu Woodstock gedacht war, fand am Altamont Speedway im Norden Kaliforniens statt. Die tragischen Ereignisse in Altamont gelten als Ende der unbeschwerten 1960er Jahre. Sie führten den Menschen vor Augen, dass Optimismus und Idealismus allein nicht ausreichen, um etwas in der Gesellschaft zu verändern und dass die Nachwirkungen der Trennung von Schwarzen und Weißen in den USA nicht einfach so verschwinden würden. Das anschließende Gerichtsverfahren zeigt auch Parallelen zu aktuellen Vorfällen in den USA.
Hunter war nicht der Einzige, mit dem die Hells Angels, die bei dem Konzert für Sicherheit sorgen sollten, an diesem Tag gewaltsame Auseinandersetzungen hatte. Die meisten Leute, mit denen die Biker aneinandergerieten, waren Weiße. Es ist aber gut möglich, dass die Hells Angels Hunter ins Visier nahmen, weil er mit einer weißen Frau unterwegs war. Die Hells Angels waren zuvor bereits in Angriffe auf People of Color in der Bay Area involviert. Sie selbst sahen sich als eine Art paramilitärische Gruppe, die die Straßen sauber halten wollte – ihrer Auffassung nach war “sauber” gleichbedeutend mit weiß.
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In seinem Buch Just a Shot Away, das am 10. Juli 2018 erscheint, beschreibt der Autor Saul Austerlitz die Geschichte von Hunter. Austerlitz betrachtet auch die Geschehnisse vor dem tragischen Konzertbesuch und zeichnet die Auswirkungen auf Hunters Familie in den folgenden Jahren nach. Wir haben mit Austerlitz darüber gesprochen, wie verrückt die Idee wirkt, eine gewaltbereite Biker-Gang als Sicherheitspersonal zu engagieren, welche Bedeutung der Freispruch im anschließenden Mordprozess hatte und warum Hunters Geschichte vor allem im aktuellen politischen Klima in den USA bis heute so stark nachwirkt.
VICE: Über diesen Fall wurde in den vergangenen Jahren schon oft berichtet. Wie hast du es geschafft, der Geschichte noch mehr Details hinzuzufügen?
Saul Austerlitz: Über die Jahre gab es mehrere Bücher von Leuten, die etwas mit dem Konzert zu tun hatten. Die unterschwellige Botschaft in diesen Bücher war oft “Das war nicht meine Schuld” oder “Das hier sind die wahren Schuldigen”. Keines dieser Bücher hatte die nötige Distanz, um die Geschichte vollständig zu erzählen. Ich wurde nach dem Vorfall in Altamont geboren. Ich habe mich an die Story angenähert, indem ich mit Leuten gesprochen habe, die damals involviert waren. Aus all diesen unterschiedlichen Erfahrungen wollte ich ein großes Bild zusammenfügen. Für das Buch habe ich mit etwa 75 Leuten gesprochen. Viele von ihnen habe ich über Facebook aufgespürt.
Es wurde bereits darüber berichtet, dass das Konzert mit großer Eile geplant wurde, um auf die Erfolgswelle von Woodstock aufspringen zu können, und dass die Organisierenden den über 300.000 Besuchern und Besucherinnen nicht gewachsen waren. Aber wie konnten sie die Organisation derartig vermasseln?
Erfolg kann gefährlich sein. Nach verschiedenen kostenlosen Konzerten in San Francisco von Grateful Dead und Jefferson Airplane, Woodstock und anderen großen Events wie dem Human Be-In herrschte das Gefühl, dass diese Veranstaltungen immer irgendwie funktionieren würden. Man dachte, dass alle vor Ort das Gleiche wollten: eine gute Zeit haben, gemeinsam Musik hören und Drogen nehmen. Über organisatorische Fragen machte man sich kaum Gedanken: Was sollen die Leute essen? Gibt es genug Toiletten? Wo können Leute schlafen? Wer sorgt für die Sicherheit? Die Grundeinstellung war, dass schon alle an einem Strang zögen.
Das war eine sehr bewundernswerte Philosophie, mit der die Organisierenden in diesem Fall aber schlecht beraten waren.
Wie sehr waren die Rolling Stones deiner Meinung nach für die Entscheidung verantwortlich, die Hells Angels aufs Konzert zu bringen?
Ich denke, die Band Grateful Dead war genauso dafür verantwortlich wie die Stones. Grateful Dead hatte die Hells Angels empfohlen, da sie sie erfolgreich bei Konzerten im Golden Gate Park als Ordner eingesetzt hatten und es nie Probleme gegeben hatte.
Das war eindeutig ein Fehler. Es war auch ein Fehler, die Hells Angels in Alkohol zu bezahlen, was die Situation wohl noch verschlimmert hat. Grateful Dead hatte zwar schon mit den Angels gearbeitet, aber bei Altamont wurden sie in eine Situation gebracht, mit der sie nicht vertraut waren. Sie sollten an einem Ort, den sich nicht kannten, mit einem Publikum, das etwa hundertmal so groß wie gewöhnlich war, quasi allein für die Sicherheit der Show sorgen. Diese Fehler trugen mit zu dem Desaster bei.
Die Hells Angels werden heute weitestgehend als kriminelle Organisation eingestuft. War das 1969 anders, kurz nachdem Hunter S. Thompson sie in seinem Buch Hell’s Angels der Welt vorgestellt hatte?
Das Buch von Thompson ist ein wichtiger Meilenstein: Es war für viele Menschen in den USA der erste Kontaktpunkt mit den Hells Angels oder überhaupt dem Prinzip einer Biker-Kultur. Zwar wurde diese auch in Filmen aus den 50ern, wie Der Wilde mit Marlon Brando, dargestellt, aber Thompson brachte den Leserinnen und Lesern das Wesen der Angels näher: wofür sie sich interessierten, wie sie miteinander und mit der Außenwelt umgingen.
Auch damals waren die Hells Angels zumindest eine halbkrimininelle Organisation. Es waren die Angels, die eine Demonstration gegen den Vietnam-Krieg in Berkeley zerschlugen und auf Demonstrierende einprügelten. Sie waren in rassistisch motivierte Gewalttaten involviert. Nach Altamont – nachdem ein Bruch mit der Hippie-Szene stattgefunden hatte – wurden die Hells Angels langsam, aber sicher vollständig kriminell. Sie bewiesen der Unterwelt, dass sie loyal sein konnten.
Nach 1969 wurden sie für eine Reihe von Kokain-Deals engagiert und wurden zu Drogenkurieren. Nach Altamont änderte sich vieles für sie: Die Hippies aus San Francisco, mit denen sie vorher befreundet gewesen waren, weil sie alle gegen die Polizei waren, wollten nach dem Vorfall nichts mehr mit ihnen zu tun haben.
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Der Hells Angel Alan Passaro wurde angeklagt, weil er Meredith Hunter erstochen hat. Doch er wurde wegen Notwehr freigesprochen. Diese Geschichte dürfte Amerikanern auch heute bekannt vorkommen.
Ich halte ihn für schuldig. Die Videoaufnahmen von dem Vorfall haben Passaro gerettet, denn er bat die Jury, nur das zu berücksichtigen, was auf dem Video zu sehen ist. Anhand der Aufnahmen ist es sehr schwer zu sagen, was genau passierte. Wir sehen auf dem Video, wie Meredith Hunter eine Waffe zückt. Augenzeugen berichten, dass das, was passierte, nachdem ihm die Waffe aus der Hand geschlagen wurde, wirklich furchterregend war.
Statt sich wie professionelle Sicherheitskräfte zu verhalten, die ihn in Handschellen gelegt und abgeführt hätten, ziehen die Hells Angels ihn außer Sichtweite und prügeln so lange auf ihn ein, bis er stirbt.
Passaros Anwalt George Walker – selbst Afroamerikaner – argumentierte, dass Passaro in Notwehr gehandelt habe, um andere zu schützen. Laut Walker fürchtete er nicht um sein eigenes Leben, sondern fürchtete, dass Meredith Hunter jemand anderen verletzen würde. Mit dieser Verteidigung konnte er viele zentrale Fragen umgehen. So wurde Passaro am Ende freigesprochen.
Wie erklärst du dir, dass die Rassismusdiskussion, die die Gerichtsverhandlung damals begleitete, auch heute noch ein extrem aktuelles Thema in den USA ist? Obwohl junge Leute vor einer Generation mit diesem eindrucksvollen Beispiel konfrontiert waren?
In den letzten Jahren wurden wir daran erinnert, dass vieles, was wir im Dezember 1969 gesehen haben, nie wirklich weg war. In vielen Aspekten hat sich unser Land enorm weiterentwickelt, auch was das Civil Rights Movement angeht. Aber wenn wir uns ansehen, wer Präsident der Vereinigten Staaten ist, welche Sprache er benutzt, wie seine Anhänger und Anhängerinnen beide Augen zudrücken, wenn er rassistische Kommentare macht, dann macht das klar, dass wir immer noch mit den Auswirkungen der ethnischen Trennung zu kämpfen haben. Was in Altamont passiert ist, wiederholt sich heute anscheinend im ganzen Land.
Wie bewusst waren dir die Parallelen zu aktueller tödlicher Polizeigewalt, als du das Buch geschrieben hast?
Ich musste unweigerlich an die Parallelen zwischen Hunter und den jungen afroamerikanischen Menschen denken, die in den letzten Jahren von Polizisten getötet wurden, wie Trayvon Martin oder Tamir Rice. Nach fast 50 Jahren können wir die Geschichte von Hunter besser verstehen. Damals drehte sich die Diskussion hauptsächlich um Rock-Konzerte, die Hippie-Bewegung und die Hells Angels. Heute sind wir für diese Art von Vorfall besser sensibilisiert. Es zeigt, was passiert, wenn afroamerikanische Menschen sich an Orten aufhalten, wo sie nach Ansicht der Autoritäten nicht hingehören. Darum fühlt sich die Geschichte von Meredith Hunter sehr aktuell und leider auch sehr vertraut an.
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