Bis heute ist unklar, wer zuerst die Idee hatte, den Mond mit einer Atombombe zu bombardieren. Wie bei so vielen Einfällen, die im Eifer des Kalten Krieges entstanden sind, wirkt auch dieser wie ein Fiebertraum der 50er Jahre. Er entstammt einer Ära, in der die Menschheit nur eine Haaresbreite davon entfernt war, sich selbst auszulöschen, gleichzeitig aber neues, unbekanntes Territorium entdeckte: den Weltraum. Heutzutage würde es niemand für eine gute Idee halten, eine Atombombe auf den Mond zu schießen. Aber damals war das anders.
Details über das Programm mit dem Namen Project A119 gerieten erstmals 2000 an die Öffentlichkeit. Der Physiker Leonard Reiffel sagte gegenüber der britischen Zeitung Observer,Offiziere der Air Force hätten ihn 1958 damit beauftragt, die mögliche Detonation einer Atombombe auf der Mondoberfläche zu erforschen. Ein Jahr davor hatte die UdSSR den ersten Satelliten, Sputnik, in die Erdumlaufbahn geschickt. Reiffel sagte, die US-Militärs, wären besorgt gewesen, dass die Russen die Amerikaner im Wettlauf ins All schlagen würden.
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“Es war klar, dass der Hauptgrund die Demonstration technischer Überlegenheit war”, sagte Reiffel. “Die Air Force wollte einen Atompilz, der so groß war, dass man ihn von der Erde aus sehen kann.”
Heute ist es undenkbar, den Mond zu bombardieren. Damals waren die Entscheidungsträger von den neuen Möglichkeiten der Nukleartechnologie regelrecht begeistert—und entsprechend experimentierfreudig.
“Genau so, wie wir heutzutage mit abgefahrenen Ideen wie Hyperschallflugkörpern und Scramjets rumspielen, war damals die Kernenergie neu”, sagte Omar Lamrani, ein Militäranalyst beim Informationsdienst Stratfor zu VICE. “Es war ein Gebiet, auf dem es noch viel zu entdecken gab.”
Und an ausgefallenen Ideen mangelte es den Militärs damals wirklich nicht. Etwa zu der Zeit, als die US-Air Force das Project A119 ins Leben rief, arbeitete die Armee an Project Horizon. Für sechs Milliarden US-Dollar sollte eine Militärbasis auf dem Mond entstehen. Die Sowjets dachten ebenfalls darüber nach, den Mond mit einem Atomsprengstoff zu bombardieren, was bei mindestens einer amerikanischen Zeitung die Befürchtung provozierte, dass der “Sprengkopf wie ein Bumerang zurück zur Erde kommen könnte.” Zur gleichen Zeit entwickelten Wissenschaftler Ideen von atombetriebenen U-Booten (die Realität wurden) bis hin zu atombetriebenen Raumschiffen (die Theorie blieben). Aber egal, was den Amerikanern oder den Sowjets einfiel, über allem schwebte die Befürchtung, dass die andere Seite die Idee zuerst und auch noch besser gehabt hatte.
Im Juni 1959 fertigten Reiffel und sein Team einen inzwischen freigegebenen Bericht mit dem harmlosen Titel “A Study of Lunar Research Flights” an. Das recht technische Dokument setzt sich sachlich mit der völlig durchgeknallten Idee auseinander. Detailliert beschreibt der Bericht jeden Aspekt einer Atombombenexplosion auf dem Mond—inklusive solch abseitiger Szenarien wie der Auslöschung eventueller Zeichen außerirdischen Lebens durch die Explosion.
Dem Observer sagte Reiffel, dass das Vorhaben “technisch definitiv durchführbar” gewesen wäre. Den Mond mit einer Interkontinentalrakete zu treffen, wäre ebenfalls keine besonders große Herausforderung gewesen. Viel schwieriger wäre, Versuchsinstrumente vor der Detonation auf dem Mond landen zu lassen, wie Reiffel und sein Team das in ihrem Bericht empfehlen. Aber was wäre gewesen, wenn sie den Plan tatsächlich umgesetzt hätten?
Auch wenn eine Bombardierung des Monds 1959 den Wissenschaftlern wahrscheinlich einen Haufen interessanter Daten geliefert hätte, wäre es in erster Linie dabei darum gegangen, die Überlegenheit der USA gegenüber der UdSSR zu demonstrieren. “Offensichtlich … würde das Land, dem als erstes ein solcher Kraftakt als Demonstration seiner technologischen Fähigkeiten gelingen würde, bestimmte positive Effekte verspüren”, heißt es in Reiffels Bericht. “Es steht außerdem fest, dass damit eine erhebliche negative Reaktion stimuliert werden könnte, sollte die Welt im Voraus nicht sorgfältig darauf vorbereitet werden.” In anderen Worten: Man sollte die Welt schon vorab informieren, bevor man eine Atombombe auf dem Mond hochjagd, sonst könnten ja alle durchdrehen.
Die US-Offiziere hätten allein aus PR-technischen Gründen sicherstellen wollen, dass die Atomexplosion von der Erde aus sichtbar ist. Areg Danagoulian zufolge, einem Assistenzprofessor für Atom- und Ingenieurswissenschaft am MIT, wäre sie das wahrscheinlich auch gewesen. Die Auswirkungen einer nuklearen Detonation auf dem Mond hängen allerdings von einer Vielzahl von Faktoren ab: etwa der Größe der Bombe und der Entfernung zur Oberfläche. Danagoulian erklärt, was passiert wäre, wenn Project A119 realisiert worden wäre:
Da der Mond keine Atmosphäre hat, würde die Bombe keine Druckwelle erzeugen. Die Atomreaktion würde einen hellen Lichtblitz erzeugen, der wahrscheinlich auch von der Erde aus sichtbar wäre. Vor allem würden Erdenbewohner aber die aufsteigenden Wolken aus Mondstaub sehen. Die Strahlung der Bombe würde die Mondoberfläche erhitzen. Das wiederum würde dazu führen, dass Staub zu einer gigantischen Wolke aufgewirbelt werden würde. Zumindest ein Teil dieses aufsteigenden Staubes würde von der Sonne angeleuchtet werden, was man wiederum von der Erde aus zu sehen wäre—gerade, wenn der Staub an der dunklen Seite des Mondes aufsteigen würde. Ein Teil des Staubs wäre schnell genug, um die Gravitation des Mondes zu überwinden und ins Weltall zu entweichen.
Müssten sich Astronauten Sorgen um die radioaktive Strahlung machen, wenn sie nach der Explosion auf dem Mond landen? Die Antwort darauf würde von zahlreichen Faktoren abhängen, so Danagoulian. Um was für eine Art von Bombe handelt es sich? Wie wurde sie gezündet? Wie viel Zeit ist zwischen der Explosion und der Ankunft der Astronauten vergangen? Wie weit vom Explosionsgebiet ist der Landeplatz entfernt? Abgesehen davon ist die radioaktive Strahlung auf dem Mond ohnehin schon hoch. Da der Erdtrabant nicht über Atmosphäre oder ein Magnetfeld verfügt, ist seine Oberfläche einem viel stärkeren Bombardement kosmischer Strahlung ausgesetzt als die Erde. Dementsprechend ist es bereits ohne Atomtests recht ungesund, längere Zeit auf dem Mond abzuhängen. Die zusätzlich Strahlung durch die Project A119 Sprengung würde sich für zukünftige bemannte Mondmissionen also nicht unbedingt so weit oben auf der Gefahrenskala befinden.
Reiffel sagte im Interview mit dem Observer, dass er sich nicht ganz sicher sei, warum Project A119 nie umgesetzt wurde. Er sei trotzdem “entsetzt darüber, dass so eine Geste überhaupt jemals in Betracht gezogen worden war, um die öffentliche Meinung für sich zu gewinnen.” Sehr wahrscheinlich hatte das Pentagon dann irgendwann selbst erkannt, dass einen Mann auf den Mond zu schicken, die inspirierendere Geste ist. Den Mond zu bomben wäre bei der Weltgemeinschaft sicher schlechter angekommen. Wie auch immer, der Weltraumvertrag der Vereinten Nationen verbot 1967 die Verwendung von Kernwaffen im Weltraum und machte damit jede theoretische Spielerei über Atombombenzündungen hinfällig. Wir werden also wohl nie den Mondstaub in den Weltraum entweichen sehen. Also, falls nicht plötzlich irgendetwas gewaltig schiefläuft.