Music

Als Frau alleine aus dem Club nach Hause laufen

Eine Frau geht nachts alleine vom Club nach Hause. Ihre müden Füße schmerzen, doch sie durchquert die Stadt, als wäre sie eine Rennstrecke. Die Ziellinie ist ihre Haustür.

Kurz nachdem sie den Club verlassen hat, wird ihr klar, dass auf ihrem kurzen Top auch gleich stehen könnte: „MACH MICH BITTE AN!” Die umschließende Wärme des Dancefloors weicht einer eisigen Paranoia. Sie hört ein Rascheln und wirft ihren Kopf zurück, in der Hoffnung, dass es nur Blätter sind, die der Wind aufgewirbelt hat. Sie sieht einen Mann, der hinter ihr herläuft. Verfolgt er mich?

Videos by VICE

Ihr entfährt ein stiller Schrei und sie klammert sich instinktiv an ihren Schlüssel, ihre schwitzenden Fingerspitzen tasten die Kanten ab und sie fragt sich, ob er scharf genug wäre, um ihn als Waffe einzusetzen. Sie wahrt nicht länger den Schein und sprintet in ihr Haus und als die Tür hinter ihr ins Schloss fällt, denkt sie schweißgebadet: „Ich hätte ein Taxi nehmen sollen”.

Wenn du als Frau nach dem Ausgehen schon einmal nachts alleine nach Hause gegangen bist, dann bist du mit dieser Erfahrung vertraut. Sie wird durch eine omnipräsente Angst, belästigt, ausgeraubt oder sexuell angegriffen zu werden, bestimmt. Als ich 16 war und in Tokio lebte, verfolgte mich eines Abends ein merkwürdiger Mann wortlos von der Bahnhaltestelle bis zu meinem Haus. Ich versteckte mich zitternd im Gebüsch, bis er verschwand. Vor ein paar Jahren ging ich in Brooklyn nach einer Halloween-Party nach Hause, als ein Typ mich plötzlich von hinten auf den Asphalt stieß und mir die Handtasche von den Schultern klaute, während ich mich mit blutigen Knien wieder aufrichtete. „‚Pass auf dich auf’, sagen die Leute mir immer, wenn ich nachts zu Fuß von irgendwo aufbreche”, schrieb Megan Koester von VICE, die auf dem Weg nach Hause von einem Mann angegriffen wurde. „Die Worte klingen bestenfalls wie eine Herausforderung; schlimmstenfalls wie eine Bedrohung. Egal, wie sie gemeint sind, sie sind sinnlos. Es ist für eine Frau unmöglich, vollständige Sicherheit zu haben.” Paranoia ist für Frauen, egal ob sie angegriffen wurden oder nicht, nicht irrational—sie ist ein Sicherheitsmechanismus.

Nach einer Party nach Haue zu laufen ist natürlich nicht immer beängstigend. Manchmal ist es auf ermüdende Weise ereignislos. Andere Male ist es die Ehrenrunde einer legendären Partynacht—wie auf Ibiza, als ich mit meinen Freunden nach der letzten Party der Saison aus dem Amnesia stolperte und von tausenden schwitzenden Europäern umgeben war, die jubelten, während wir durch den Verkehr huschten.

Foto: Thomas Hawk / Flickr | CC By 2.0

Vor ein paar Wochen haben wir bei THUMP in einem Artikel die Freuden des Nach-dem-Club-Nachhausegehens angepriesen. Darin haben wir es als „das Beste, was du diesen Sommer machen kannst” bezeichnet. Da sich so langsam der Herbst nähert, ist nach Hause zu laufen vielleicht die beste Art, um noch ein paar angenehme Sommernächte zu erleben. Es gibt dir Zeit nachzudenken, das Erlebte zu verarbeiten und nach einem Abend im verrauchten Club frische Luft zu atmen. Außerdem gibt es dir die Möglichkeit, im Morgengrauen deine Stadt mit ganz anderen Augen zu sehen und in einer ganz anderen Stimmung zu erleben.

Darin thematisierten wir auch bereits den Umstand, dass dieser Weg nicht ganz ohne Risiken verlaufen kann. Es findet darin ein Erlebnis mit zwei Männern Erwähnung, die die Autorin verfolgten und ihr anzügliche Kommentare hinterherriefen. Der Rat für solche Situationen: Versteck dich in einem Hauseingang oder Späti und verschnaufe kurz. Pfefferspray kann im Notfall zur Verteidigung dienen.

Ein entspannter Gang nach Hause ist, wenn er nicht in einer Gruppe oder im hellen Licht des Morgengraunes stattfindet, also leider nicht allen vergönnt. Wenn du als Frau nachts alleine im Dunkeln nach Hause gehst, sieht die Wahrnehmung für gewöhnlich anders aus.

Eine unserer Leserinnen, die Journalistin Lauren Ingram, die für die Daily Mail über Frauenthemen berichtet, stellte dies auf Twitter heraus:

„Ein Mann bemerkt es wahrscheinlich gar nicht, aber wenn er nachts mehr als eine Straße lang hinter mir herläuft, dann bemerke ich das”, sagte Lauren, als ich sie letzte Woche per Email kontaktierte und fragte, ob sie ihren Tweet näher ausführen könne. „Ich beobachte ihn, ich nehme ihn wahr, ich habe Angst. Er selbst bemerkt es wahrscheinlich nicht. Aber seine Präsenz führt bei mir zu Unsicherheit und das aus gutem Grund.”

Laurens Tweet löste online eine hitzige Debatte über die unterschiedlichen Gefahren des nächtlichen Nachhausegehens für Männer und Frauen aus. Eine Frau widersprach Lauren und twitterte, dass es an der Zeit wäre „aufzuhören, die Sicherheitsrhetorik dafür zu nutzen, die Bewegungsfreiheit von Frauen einzuschränken”. „Weiße Frauen sind auf der Straße im Prinzip am sichersten—und es ist für Frauen eigentlich nicht gefährlicher als für Männer, draußen alleine unterwegs zu sein”, fügte sie hinzu. Sie verlinkte dabei auf einen Blogpost von Everyday Sociology, in dem eine Studie des Bureau of Justice Statistics zu Opfern von Straftaten analysiert wird.

Ein männlicher User betonte, dass es sogar wahrscheinlicher sei, dass er auf der Straße angegriffen werde, da „78 Prozent aller Opfer von Gewaltverbrechen Männer sind” und bezog sich dabei auf dieselbe Studie. Ein anderer Mann wies ihn schnell zurecht und fügte hinzu, dass Bandenkriminalität zwar überwiegend männlich sei, es für Frauen aber viel wahrscheinlicher sei, irgendwann im Leben vergewaltigt oder angegriffen zu werden. (In den USA wird laut der National Coalition Against Domestic Violence eine von fünf Frauen vergewaltigt aber nur einer von 71 Männern.)

Ein User merkte sogar an, dass wir uns vielleicht sogar alle in Gefahr begeben: Laut Steven Litt, Auto des Buches Freakonomics und Ökonom an der Universität Chicago, ist es sogar gefährlicher, betrunken nach Hause zu gehen, als betrunken Auto zu fahren.

Vor dem Hintergrund dieser sehr unterschiedlichen—und anscheinend berechtigten—vorherrschenden Perspektiven, beschloss ich, mich auf das zu verlassen, was Journalisten in Situationen der Unsicherheit am liebsten zu Rate ziehen: Zahlen. Mir wurde klar, dass es eine komplexe Angelegenheit ist, wie sicher du bist, wenn du vom Club nach Hause läufst—und nicht nur abhängig davon, ob du ein Mann oder eine Frau bist, sondern auch von deinem ökonomischen Status, von Ethnie, Alter und Wohnort.


Eine Umfrage von Gallup aus dem Jahre 2011, die verglich, wie sicher sich Männer und Frauen in verschiedenen Ländern fühlen, wenn sie alleine nach Hause laufen

Ja, laut der Studie zu Opfern von Straftaten des Bureau of Justice Statistics stimmt es, dass Männer auf der Straße wahrscheinlicher Opfer von Gewalt werden als Frauen—aber nur wenn es um gewalttätige Angriffe, Raubüberfall und Mord geht und nicht um Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe, was einen großen Teil außen vor lässt. Leute unter 25 werden öfter Opfer als ältere Menschen und Afroamerikaner werden auf der Straße öfter angegriffen als Weiße.

Am interessantesten an der Gallup-Umfrage ist jedoch vielleicht, dass Frauen in reicheren Ländern dazu neigen, sich unsicherer als Männer zu fühlen, wenn sie nachts alleine nach Hause gehen, während der Unterschied zwischen den Geschlechtern in ärmeren Ländern abnimmt. (In Deutschland fühlen sich 67 Prozent der Frauen und 88 Prozent der Männer sicher, in den USA sind es 62 Prozent der Frauen und 89 Prozent der Männer, in China 77 Prozent der Frauen und 82 Prozent der Männer). Die Theorie ist, je entwickelter die Länder ökonomisch und sozial sind, desto höher ist die Erwartung an die körperliche Unversehrtheit in der Öffentlichkeit, wobei Frauen weniger das Gefühl haben, dass diese Erwartungen erfüllt werden.

Diese Daten—die besagen, dass Frauen sich unsicherer fühlen als Männer, wenn sie nach Hause laufen—sind für mich ausschlaggebend. Sicherheit ist ein Gefühl, keine Statistik. Wenn ich nach Hause laufe, dann interessiert es mich nicht, ob Studien besagen, dass ich mehr oder weniger genauso stark Gefahr laufe, angegriffen zu werden, wie meine männlichen Freunde. Ich will auch das Gefühl einer lauen Sommernacht genießen und meinen Gedanken nachhängen können—und keine Panik kriegen, sobald ich hinter mir Schritte höre. Der Dancefloor verspricht ein Gefühl von Freiheit. Ich will, dass dieses Gefühl auch außerhalb der Türen eines Clubs anhält.

**

Folgt THUMP auf Facebook und Twitter.