Gestrandet in der Vorhölle Europas

Das illegale Lager der Flüchtlinge im Wald von Gourougou außerhalb von Melilla

Lopes will nach Europa, unbedingt. Vor zwei Jahren verließ er seine Heimat in Westafrika, seitdem hat er es fünfmal versucht. Statt nach Spanien kam er jedoch in ein libysches Gefängnis, er wurde geschlagen, ausgeraubt, von der marokkanischen Polizei verhaftet und mittellos und hungrig im Niemandsland an der algerischen Grenze abgesetzt. Doch bisher kam er nach jedem gescheiterten Versuch an die Küste im Norden Marokkos zurück und versuchte es noch einmal.

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Bevor er seine Heimat Guinea verließ, war er Fußballer. Mittelstürmer für einen Zweitligisten. Weil er seine Familie ernähren musste und zu Hause keine Hoffnung sah, an ein vernünftiges Gehalt zu kommen, nahm er seine kargen Ersparnisse und machte sich auf den Weg gen Norden.

Er gelangte nach Libyen, das seit dem Sturz von Muammar al-Gaddafi im Chaos liegt. Er versuchte, auf ein Schiff nach Lampedusa zu kommen, wurde aber bald von den libyschen Behörden verhaftet. „Die Libyer mögen keine Schwarzen“, sagte er. „Sie haben mich über drei Wochen lang ins Gefängnis gesteckt, bis mich ein Freund freigekauft hat. Dann habe ich es in Marokko versucht.“

Leider hatte Lopes auch dort nicht viel Glück. Er wollte sich in Melilla einschleusen, einer kleinen spanischen Enklave, die in einem hügeligen Landstrich an der nordafrikanischen Küste liegt. Diejenigen, die es hierhin schaffen, werden in eine speziell für sie angelegte Unterkunft gebracht, das Centro de Estancia Temporal de Inmigrantes (CETI). Während die Behörden entscheiden, was mit ihnen geschehen soll, können sie hier bis zu einem Jahr essen, schlafen und wohnen. Zurück nach Marokko dürfen sie, zumindest dem Gesetz nach, nicht geschickt werden. Auch wenn die EU seit Jahren Druck auf Marokko ausübt, hat das Königreich noch kein Rückübernahmeabkommen unterschrieben.

Letzte Woche sind sieben Migranten bei dem Versuch, über eine andere Route von Marokko nach Spanien zu gelangen, ertrunken. Der spanische Innenminister gab bekannt, dass um die 250 Menschen versucht haben, nach Ceuta zu gelangen, die zweite spanische Enklave an der marokkanischen Küste. Die marokkanische Organisation für Menschenrechte AMDH erhob den Vorwurf, dass der spanische Grenzschutz die Migranten mit Tränengas beschossen hätte und sie von marokkanischen Sicherheitskräften mit Schlagstöcken zur Flucht getrieben wurden.

Geschichten über vereitelte Versuche, über die Grenze zu kommen, sind nichts Ungewöhnliches. Auch Lopes hat es nicht geschafft, den Stacheldraht in Melilla zu überwinden, dem spanischen Küstenschutz zu entkommen und per Schiff nach Ceuta zu gelangen. Er lebt seit eineinhalb Jahren in einem kleinen Lager im nordmarokkanischen Wald von Gourougou und schläft in einem Zelt aus Planen und über Stöcke gewickelten Decken.

Lopes und sein provisorischer Schlafplatz

Lopes ist einer von Hunderten Migranten aus Afrika, die mit den krassen Lebensumständen im Norden Marokkos konfrontiert sind. Das einzige afrikanische Land, das eine Grenze mit der EU teilt, liegt auf der Transitstrecke für all diejenigen, die Arbeit oder Asyl in Europa suchen wollen. Dem marokkanischen Innenministerium zufolge leben momentan 10.000 bis 20.000 „irreguläre Migranten“ (Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere) im Land.

Die EU-Grenzschutzagentur Frontex schätzte, dass es 2012 6.400 Menschen auf illegalem Weg nach Spanien geschafft haben, darunter auch diejenigen, die über Algerien gekommen sind. Die Europäische Union würde diese Zahl am liebsten auf null reduzieren (besonders Frankreich, Italien und Spanien setzten Marokko enorm unter Druck, die Grenzen geschlossen zu halten).

Es ist deprimierend, aber wenig überraschend, dass das wieder einmal Polizeigewalt bedeutet. 2005 erschoss die Polizei bei einer Massenaktion, bei der Migranten die Absperrung zwischen Nador und dem spanischen Gebiet von Melilla zu erklimmen versuchten, mindestens fünf Migranten. Viel hat sich seither nicht verändert. Ende des letzten Jahres brach sich der 34-jähriger Maler und Bodenleger Abdulalli Kebe die Beine, als er bei der Flucht vor einem Polizeiangriff in einem Waldlager einen Abhang hinunterstürzte.  

„Sie waren wahnsinnig—sie haben Steine nach uns geworfen“, erzählte er, als ich ihn im Krankenhaus in Nador besuchte. „Wieso greift man uns um drei Uhr morgens an? Es ist nicht nötig.“

Der 28-jährige Saleh aus Mali lag im Bett neben ihm und konnte ebenfalls nicht mehr gehen. Er wurde vor einem Monat auf dem Weg von Algerien nach Marokko aufgegriffen. „Ich war in einer Gruppe von Leuten, die versucht haben, die Grenze zu überqueren“, erzählte er. „Es war an einem Freitagmorgen gegen sechs Uhr. Wir waren zehn Leute, alle aus Mali. Die anderen sind weggerannt, aber ich wurde gefasst und von sechs Polizisten verprügelt. Einer schlug mir auf den Rücken, der andere auf mein Bein. Sie haben mein gesamtes Geld und mein Handy mitgenommen.“

Letzten März interviewte die Organisation Ärzte ohne Grenzen 190 Migranten im nördlichen Teil des Landes. Fast zwei Drittel von ihnen berichteten, dass sie Gewalt erfahren hätten—meist durch marokkanische Polizisten, zum Teil auch durch spanische. Viele gaben an, von einheimischen Gangs angegriffen und ausgeraubt worden zu sein oder rassistischen Misshandlungen ausgesetzt gewesen zu sein, worüber auch viele Flüchtlinge klagten, die ich getroffen habe.

Im selben Monat wurde Clement, ein Flüchtling aus Kamerun bei seinem Versuch verhaftet, über den Zaun nach Melilla zu klettern. Schwer von der Polizei zugerichtet wurde er in ein Krankenhaus gebracht, aber gleich wieder entlassen und zurück in das Lager im Wald geschickt. Am nächsten Morgen überfielen die marokkanischen Sicherheitskräfte das Lager erneut. Weil er noch unter Schock stand und zu schwach war, um wegzurennen, musste Clement zusehen, wie sein Zelt mitsamt seinen Habseligkeiten verbrannt wurde. Kurz darauf starb er an seinen Wunden.

Der tragische Tod von Clement scheint dazu beigetragen zu haben, dass mehr Menschen auf die Flüchtlinge im Wald von Gourougou aufmerksam wurden. Das Thema wurde von einem Film der italienischen Journalistin Sara Creta und einer Kampagne von lokalen Menschenrechtsorganisationen aufgegriffen, die „die tägliche und systematische Repression von Flüchtlingen durch marokkanische Behörden und die Verwicklung spanischer Behörden in Verbrechen, die an der Grenzen zu Melilla gegen Migranten begangen werden“ anklagten.

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Im September 2012 erklommen Hunderte Migranten den Grenzzaun zu Melilla

Die Migrationspolitik des Landes wurde im Herbst des vergangenen Jahres sogar vom regierungsnahen Nationalen Rat für Menschenrechte (CNDH) stark kritisiert. König Mohammed VI.—die höchste Instanz der marokkanischen Politik—befürwortete den Bericht und wies seine Regierung an, „eine neue Vision für eine nationale Migrationspolitk“ zu entwickeln, „die in ihrer Philosophie humanistisch, in ihrem Ansatz verantwortungsbewusst und auf regionaler Ebene zukunftsweisend“ sein sollte.

Andere Menschenrechtsgruppen—und auch Flüchtlinge selbst—haben diese neue politische Linie bereits vorsichtig begrüßt. Die Flüchtlinge, mit denen ich gesprochen habe, erzählten, dass sie in der Vergangenheit zwar Polizeigewalt erfahren hätten, dass die nahezu täglichen Überfälle in den Lagern im Wald, die willkürlichen Verhaftungen und die körperlichen Attacken Ende letzten Jahres aber aufgehört hätten. Von den Personen, die ich getroffen habe, wurde innerhalb der letzten zwei Monate nur Saleh geschlagen.

Darüber hinaus plant die Regierung, ein angemessenes Asylsystem einzurichten und es bestimmten Flüchtlingen zu erlauben, ihren Aufenthalt in Marokko zu „regularisieren“, sodass sie sich legale Arbeit suchen können. Chakib Al Khayari, ein lokaler Journalist und Präsident der Menschenrechtsorganisation Rif, sagt jedoch, dass die Bedingungen hierfür zu schwer zu erfüllen seien. Die Hauptursachen der Probleme werden seiner Meinung nach umgangen.

„Marokko bewacht die europäischen Grenzen im Tausch für ökonomische und politische Vorteile“, sagt er. „Das EU-Parlament wirft Marokko Verstöße vor, sieht aber nicht, dass die EU die Ursache des Problems ist. Die Verstöße, die Marokko begeht, werden von der Europäischen Union unterstützt und gesponsert.“

Es bleibt abzuwarten, was sich für die Flüchtlinge ändert. In der marokkanischen Gesellschaft grassiert nach wie vor der Rassismus, der sich in Titelstorys wie  „Die schwarze Bedrohung“ („Le Péril Noir“) des Nachrichtenmagazins Maroc Hebdo manifestiert. (In dem Artikel ging es um subsaharische Migranten). Doch ganz unabhängig davon, wie unbeliebt die subsaharischen Migranten sind, stecken die meisten von ihnen schlichtweg fest. In die Festung Europa zu gelangen ist so gut wie unmöglich, doch die kostspielige, beschämende und gefährliche Option, aufzugeben und zurück nach Hause zu gehen, ist auch keine bessere Alternative. So kommt es, dass einige Migranten schon seit Jahren betteln oder unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten, um zu überleben. Der Transit wurde zum dauerhaften Zustand, Marokko zum widerwilligen Gastgeber.

„Ich kenne eine Menge Leute, die nach England oder Deutschland gekommen sind“, sagt Lopes, „aber auch viele, die zurück in ihre Länder gegangen sind. Sie waren zu erschöpft. Es ist nicht leicht hier. Es ist nicht leicht, Geld zu verdienen und etwas zu Essen zu bekommen. Du schläfst nicht gut, du wirst verrückt, krank. Dein Geist gerät durcheinander.“