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Warum das Essen meiner Mutter ihr größter Liebesbeweis war

Tiffany Teng

Mit sieben Jahren probierte ich zum ersten Mal eine frittierte Auster. Es sollte noch 20 Jahre dauern, bis ich verstand, warum sie für mich bis heute nach einer einzigartigen Mischung aus Freude und Schuldgefühl schmecken.

Knusprig, salzig und goldbraun – die Austern waren eine meiner ersten Begegnungen mit der japanischen Küche. Eines Tages kam ich aus der Schule nach Hause und da standen sie: Vier kaki furai mit Krautsalat und dunkelbrauner Sauce dampften in einer Styroporbox vor sich hin.

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“Mama, was ist das?”, fragte ich. Wenn Essen herumstand, war ich sofort interessiert.

“Frittierte Austern! Probier mal”, sagte sie. “Tauch sie in die Tonkatsu-Sauce.”

Ich nahm eine der Austern in die Hand. Auf der Fahrt aus dem Restaurant Osaka in unserem kleinen Städtchen im US-Staat New Jersey hätte der Dampf in der Styroporbox sie eigentlich aufweichen müssen, doch die Panko-Kruste war noch knusprig. Als ich reinbiss, kam das zarte Austernfleisch zum Vorschein. Die süßen, säuerlichen und rauchigen Aromen feierten eine Party auf meiner Zunge.


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Meine Mutter migrierte 1985 aus Taiwan in die USA. Als ich sechs Jahre alt war, ging sie wieder arbeiten, in dem japanischen Restaurant. Allerdings übernahm sie immer nur die Mittagsschicht, um nach der Schule Zeit für mich zu haben. Mein Vater, ein chinesisch-myanmarischer Einwanderer, arbeitete lange Schichten in einem chinesischen Restaurant, um uns zu versorgen. Mama stand neben mir, während ich mampfte. Ich konnte sie riechen: An ihrer Kellnerinnen-Uniform hing noch der herzhafte Duft unzähliger japanischer Gerichte.

“Magst du auch eine?” Ich hielt ihr eine Auster hin.

“Nein, genieß sie ruhig!”, sagte sie. “Ich kann das jederzeit essen.”

Zwar war ich erst sieben, aber schon damals schwang für mich etwas Großes, Ernstes in dieser Aussage mit. Ich bekam Gewissensbisse. Ich war mir sicher: Hätte Mama tausend Austern gehabt, sie hätte mir trotzdem alle angeboten, bevor sie auch mal an sich dachte.

Gastronomie-Jobs sind Knochenarbeit: die vielen Stunden auf den Beinen, schwere Pfannen oder Teller heben, Wochenend- und Feiertagsschichten. Doch eine Einwanderin, die in einem asiatischen Restaurant kellnert, erlebt noch andere Strapazen. Häufig hörte Mama Sprüche wie: “Ach, Sie sind aus Taiwan? Sie sehen total gemischt aus!” oder “Wow, dein Englisch ist aber gut!”

Die Sprüche waren als Komplimente gemeint. Meine Mutter erzählte uns diese Anekdoten voller Stolz, denn für sie zeigten sie, wie gut sie sich in die amerikanische Kultur integriert hatte. Aber um zu der Kultur zu gehören, die den Amerikanischen Traum hervorgebracht hat, muss man einen Preis zahlen, der erst im Kleingedruckten steht: Sich anpassen heißt, die USA für das beste Land der Welt zu halten. Da bleibt kaum Platz für eine kritische Sicht auf den eigenen “Exotenstatus“.

Tiffany Teng
Die Autorin während ihrer Kindheit in den USA

Mamas Freundinnen waren auch Kellnerinnen, aus Thailand, China, Indonesien und Korea. Sie klagten einander ihr Leid über ihre Chefs und unhöfliche Gäste. Sie brachten sich gegenseitig Ingwer-Kaubonbons und Eiertörtchen mit, wenn eine von ihnen übers Wochenende in New York City war. Zu den Mexikanern, die in den Restaurants die Tische abräumten, waren sie immer besonders nett, denn die Jungs belegten den untersten Rang in der Gastro-Hierarchie. Wenn der Chef nicht hinschaute, frittierten die Mexikaner für ihre Amigos ein paar Austern.

Als ich alt genug war, um allein zu Hause zu sein, fing meine Mutter an, Abendschichten zu übernehmen. Manchmal weinte ich, wenn sie sich auf den Weg machte. Ich hätte so gern stattdessen mit ihr gekocht. Trotzdem wartete jeden Abend eine warme Mahlzeit auf mich: eine ausgewogene Portion Reis, Fleisch und Gemüse, manchmal mit Resten von ihrem Gratisessen von der Arbeit, immer mit Frischhaltefolie versiegelt.

In meiner Schulzeit hatte ich Freundinnen und Freunde, deren nicht-migrantischen Eltern auch Nachtschichten arbeiteten. Wir tauschten Alltagserfahrungen aus, und da wurde mir klar: Dass Mama mir ein Abendessen daließ, war nicht selbstverständlich. Es war ein Akt der Liebe. Für berufstätige amerikanische Eltern war das nicht unbedingt normal; sie zeigten ihren Kindern eher Zuneigung, indem sie sie umarmten und zu ihren Fußballspielen erschienen. Meine Eltern machten ihre Abwesenheit wieder gut, indem sie mir reichlich von den Früchten ihrer Arbeit abgaben: erst nahrhaftes Essen, und später ein Studium, ein Auto, oder auch mal ein paar Monatsmieten, als ich eine Weile keinen Job fand.

Meine Eltern lebten den vielgepriesenen American Dream, sie arbeiteten hart und konnten uns davon einen guten Lebensstandard sichern. Und ich war die nächste Generation, für die sie Tag und Nacht so geschuftet hatten. Ich war mit allem ausgestattet, was man braucht, um von den unbegrenzten Möglichkeiten der USA zu profitieren. Doch statt wie ein Wunderkind fühlte ich mich im Laufe der Jahre eher wie die verlorene Tochter.

Seit zwei Jahren lebe ich in Rangun, der größten Stadt von Myanmar – mehr als 13.000 Kilometer von meiner Heimat New Jersey entfernt. Ich bin so weit weg, wie man nur sein kann. Ich lebe den Traum nicht weiter, den man mir auf einem Teller mit Frischhaltefolie serviert hat. Aber hierher hat es mich nun mal verschlagen, zumindest vorerst.

In Rangun gibt es ein japanisches Restaurant, das neben Ramen und Gegrilltem nach Yakiniku-Art auch frittierte Austern serviert. Nur wenige Restaurants haben sie auf der Speisekarte. Als ich das Lokal entdeckte, hatte ich zuletzt an jenem Tag als Siebenjährige die Austern gegessen.

Bei meinem ersten Besuch fotografierte ich die Austern und postete sie in den Gruppenchat meiner Familie. “Mama, erinnerst du dich, als du mir solche aus dem Restaurant mitgebracht hast?”

“Das weißt du noch! Das ist 20 Jahre her”, antwortete sie.

Wann immer ich ein bisschen Trost brauche, gehe ich in das japanische Restaurant. Die Austern sind köstlich, aber was noch wichtiger ist: Sie erfüllen mich mit Liebe und unendlicher Dankbarkeit – und einer Prise Schuldgefühl – für die Opfer, die meine Eltern für mich gebracht haben.

Ein Bissen reicht, und schon bin ich wieder zu Hause.

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