Foto von Patrick Sneep
Aus der Literaturausgabe 2017
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Die Fingerkuppen ihrer rechten Hand gleiten über das Geländer. Über jede Erhöhung. Jede Ritze. Sie fügen sich in das vom Wetter zerfressene Metall. Wie magnetisch angezogen drückt sie die Hand zur Faust. Bis die Fingernägel sich in ihre Handflächen bohren. Sie nimmt einen tiefen Zug ihrer Zigarette. Legt den Kopf in den Nacken. Und schliesst die Augen.
“Du hast keine Ahnung was du willst, verplemperst noch dein ganzes Leben, womöglich lässt du dich schwängern.” Zwischen die Vorwürfe ihrer Mutter legte sie stille Sätze der Gegenwehr. Dazu bräuchte sie einen Mann. Fürs Schwängern. Das wolle sie aber nicht. Und zu wissen, was man nicht will, sei doch zumindest ein Anfang.
Sie kann sich gerade noch halten. Fast wäre sie gefallen. Nicht nach vorne. Zurück. Ihr Blick schweift über die Dächer der umliegenden Häuser. Wieder spürt sie dieses dumpfe Pochen in ihren Schläfen. Es begleitet sie schon seit Wochen. Anfangs war sie besorgt. Wollte etwas dagegen unternehmen. Mittlerweile hat sie sich daran gewöhnt. Es beruhigt sie sogar ein wenig. Weil es so gut passt. Zum Ziehen in ihrer Brust.
“Hast du sie gesehen?” Sie verneint. “Ich dachte, weil du da so stehst, solltest nicht rauchen, das tut dir nicht gut, ich such dann mal weiter.” Ihr Nachbar stand wohl schon eine Weile unten in der Strasse. Wie schon so oft. Die Katze wird ihre Gründe haben, immer wieder uneingeladen bei ihr aufzutauchen.
Was, wenn sie sich nicht mehr hätte halten können? Hätte sie sich verletzt? Sie schält ihre Hand vom Geländer. Setzt sich auf den Boden der Dachterrasse. Die abgebrannte Zigarette drückt sie in eines der Löcher der Kunststoffplatten. Widerlich. Dieser braune Kreis in der Mitte. Widerlich auch die Vorstellung, was da wohl alles schon liegt. Unter diesen Kunststoffplatten.
“Ich hab alles für dich gemacht, und du, du hast rein gar nichts daraus gemacht, nichts.” Ihre Mutter hatte sie dabei nicht angesehen. Sie hatte zum Kühlschrank gestarrt. Mehr als zwanzig Grusskarten hängen daran. Alle von ihm. “Dein Bruder macht etwas aus seinem Leben, schau mal, wo der überall schon war, wo warst du denn schon? Nirgends.”
Sie hätte sich am Stuhl den Kopf gestossen. Das dumpfe Pochen in den Schläfen wäre durch einen klaren Schmerz im Hinterkopf ersetzt worden. Vielleicht wäre das angenehmer. Sie legt sich auf den Rücken. Die Beine gestreckt. Die Arme neben dem Oberkörper. Wie gerne hatte sie Engel in den Schnee gezeichnet. Bis ihre Kleider völlig durchnässt waren. Und all der Schnee plattgedrückt.
“Das amüsiert dich? Er macht was aus seinem Leben, er lässt mich daran teilhaben, und was machst du?” Er kauft die Karten online. Ohne jemals da gewesen zu sein. Was es nicht alles gibt. Er lebt im nächsten Bezirk. Trifft dieselben Leute. Hat denselben Job. Und ist noch immer glücklich. Das war nie genug. Deshalb bleibt er weg. Ob ihre Mutter die Schweizer Poststempel wirklich nicht bemerkt?
Die Katze streift ihr um die Beine. Sie will Aufmerksamkeit. Will nicht alleine sein. Dabei war das die Idee. Dass niemand auf der Dachterrasse sein wird. Niemand. Es hallt in ihrem Kopf. Niemand. Im Rhythmus des Pochens in ihren Schläfen. Niemand. Begleitet von dem Ziehen in ihrer Brust. Niemand.
“Was schwafelst du denn jetzt schon wieder? Wo solltest du auch sonst sein, wenn nicht bei mir?” Sie nahm ihre Sachen vom Stuhl. “Ich muss gehen, Mama.” Sie rannte die acht Stockwerke runter. Über die Strasse. Vorbei am türkischen Lebensmittelladen. Dann durch den Wald. Und schliesslich auf die Dachterrasse. Um diese Zeit würde niemand auf dem Dach sein.
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