Auf den Spuren der deutschen Sprache in Texas

2001 aß Hans Boas in einem Diner mitten in Texas zu Mittag. Dabei bekam er zufällig mit, wie eine Gruppe älterer Männer, die ein paar Tische weiter saßen, Deutsch in einem ganz eigentümlichen Dialekt sprachen. Boas besitzt einen Doktortitel im Fach Linguistik und arbeitete damals an der University of Texas—er hat sein ganzes Leben der deutschen Sprache sowie Deutsch sprechenden Menschen verschrieben. Da war es für Boas natürlich schon ein kleiner Schock, als er den Dialekt nicht wirklich einordnen konnte.

„Ich ging zu ihnen rüber und fragte, wo sie herkommen würden. Daraufhin meinten die Männer: ‚Was meinen Sie damit? Wir leben schon seit Generationen hier.’”, erinnert sich Boas. „Sie erzählten mir von ihrer Sprache und von ihren Vorfahren, die schon vor langer Zeit nach Texas kamen. Das war mir nie bewusst gewesen. Ich war total erstaunt. Es kommt ja auch nicht häufig vor, dass man im texanischen Hinterland auf einen neuen deutschen Dialekt stößt.”

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Was Boas damals kennenlernte, war Texasdeutsch, eine der wohl sonderbarsten Entwicklungen in der Geschichte Amerikas. Mitte des 19. Jahrhunderts siedelten Tausende Deutsche in den frisch annektierten „Lone Star State” Texas über und gründeten dabei Städte wie New Braunfels, Boerne oder Fredericksburg. Damals war Deutsch die vorherrschende Zweitsprache von Texas und es gab überall im US-Bundesstaat deutsche Zeitungen, deutsche Radiosendungen, deutsche Druckereien sowie deutsche Gottesdienste. Wenn eine Sprache jedoch über ein Jahrhundert lang von der eigentlichen Heimat getrennt ist, dann entwickelt sie normalerweise ganz eigene Züge. Boas zufolge klingt Texasdeutsch wie eine seltsame Abwandlung der deutschen Sprache des 19. Jahrhunderts mit einer Prise Anglisierung. Die deutschen Siedler von damals hatten zum Beispiel kein eigenes Wort für die Stinktiere, die sie im Süden der USA vorfanden, und mussten deshalb einen eigenen Begriff kreieren: Stinkkatze.

Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der Englischunterricht an den öffentlich Schulen von Texas jedoch zur Pflicht. Als sich die Globalisierung schließlich immer weiter durchsetzte und Deutschlands Ruf aufgrund des Zweiten Weltkriegs extrem zu leiden hatte, gaben nur noch wenige Eltern den traditionellen Dialekt an ihre Kinder weiter. Heutzutage werden keine texasdeutschen Muttersprachler mehr geboren und die wenigen, die noch leben, sind alle zwischen 70 und 90 Jahre alt. In nur wenigen Jahrzehnten wird der Dialekt komplett verschwunden sein.

Und dagegen kann man nichts tun—eine Sprache hat eben nur geringe Überlebenschancen, wenn sie nicht gesprochen wird. Aber Hans Boas und sein Team vom Texas German Dialect Project geben sich trotzdem alle Mühe. Seit 14 Jahren versuchen sie, diese außergewöhnliche, kleine Ecke Amerikas so gut es geht zu dokumentieren, bevor sie aufhört zu existieren.

„Optimistisch betrachtet, haben wir vielleicht noch 30 Jahre”, meint Boas. „Pessimistisch betrachtet vielleicht nur 15 oder 20.”

Was Boas damals kennenlernte, war Texasdeutsch, eine der wohl sonderbarsten Entwicklungen in der Geschichte Amerikas.

Boas Vorgehensweise ist dabei ziemlich einfach: Er spürt in ganz Texas Leute auf, die noch Texasdeutsch sprechen, und trifft sich mit ihnen. Dabei ist es ihm egal, ob er nun die stundenlange Fahrt von Austin nach New Braunfels oder sogar noch weiter in den Osten des US-Bundesstaats auf sich nehmen muss. Boas’ Gesprächspartner müssen dann zuerst eine Einwilligung unterschreiben, in mehreren unterschiedlichen Interviews Rede und Antwort zu stehen. Das erste ist dabei ein Fragebogen, in dem die Texasdeutsch-Sprecher zum Beispiel einfache englische Sätze und Wörter ins Texasdeutsche übersetzen sollen. Dadurch ist es Boas’ Team möglich, die Antworten mit denen von anderen texasdeutschen Interviewpartnern, sowie mit der Forschung zum Dialekt aus den 60er und 70er Jahren zu vergleichen.

Dabei sind Boas interessanterweise enorme Unregelmäßigkeiten im Dialekt aufgefallen. Als Gegenbeispiel nennt er hier immer die Stadt Boston: Wenn eine Person im nördlichen Teil Bostons lebt und man über deren Alter, Herkunft und Geschlecht Bescheid weiß, dann kann man auch mit sehr großer Sicherheit sagen, wie sie bestimmte Worte ausspricht. Das ist beim Texasdeutschen nicht möglich.

„Wir bekommen dank der Sprache einen einzigartigen Einblick in die Vergangenheit dieser Bevölkerungsgruppe.” – David Huenlich

„Beim Texasdeutsch war es uns nicht möglich, wirkliche Regelmäßigkeiten festzustellen. Selbst bei 25 Sprechern, die gleich alt, vom gleichen Geschlecht und vom gleichen Ort sind, waren bei der Aussprache kleine Unterschiede zu hören”, erzählt Boas. „Einerseits ist das total faszinierend, weil ich eine solche Vielfalt noch nirgendwo anders gesehen oder gehört habe. Andererseits ist dieser Umstand auch sehr frustrierend, weil wir einfach kein System erkennen oder erarbeiten können. Uns bleibt quasi nichts anderes übrig, als Schemata für die einzelnen Sprecher festzulegen. Wir haben schon Familien mit zehn Kindern interviewt, die über einen Zeitraum von 15 oder 20 Jahren geboren wurden, und sie alle klingen fast komplett unterschiedlich.”

Von daher ist Boas dazu gezwungen, sich auf unbeweisbare Erklärungen zu verlassen. Einige der Sprecher haben den Dialekt vielleicht nie vollständig gelernt, andere haben einen Teil ihrer Deutschkenntnisse vielleicht einfach vergessen—wer kennt es nicht, wenn man verzweifelt nach einem Wort sucht, das einem partout nicht einfallen will? Selbstverständlich sind das alles Annahmen, auf die man sich in der akademischen Welt nur bedingt stützen kann.

„Wenn wir jetzt richtig fachsimpeln wollen, dann wäre das Schlüsselwort hier wohl ‚hochgradig multisektoral’”, lacht Boas.

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Trotz alledem blickt man bei der Erhaltung des Texasdeutschen über den sprachlichen Tellerrand hinaus. Natürlich hat es bei Boas und seinem Team höchste Priorität, den Dialekt im kollektiven Gedächtnis zu bewahren, aber auch die Kultur ist ihnen wichtig. Dem Forscher zufolge haben sie schon mit 500 Leuten gesprochen und im Laufe der nächsten paar Jahre sollen noch 500 weitere folgen. Irgendwann soll so ein Archiv mit über 1000 Beispielen des Dialekts entstehen—ein Fundus für Lingustik-Experten, aber auch eine verständliche Dokumentation der Leute, die diesen Dialekt gesprochen haben. Wie sah ihr Leben aus? Wer waren ihre Eltern und Großeltern? Was genau machte einen Texasdeutschen aus?

Laut Boas ist der wichtigste Teil dieses Prozesses die „orale Geschichte”: Dabei sollen die Interviewpartner über ihre persönliche Vergangenheit reden—und zwar in ihrer Muttersprache.

New Braunfels, Texas | Foto: Nicolas Henderson | Flickr | CC BY 2.0

„Wir befragen sie zu ihren Familien, ihren Heimatstädten, ihren Jobs, Familienrezepten, Gebeten—einfach zu den Sachen, über die sie sprechen wollen. Wie stellen Fragen, bei denen sie sich hoffentlich richtig auslassen können”, erklärt Boas. „Das ist schon eine ziemliche Herausforderung, funktioniert aber auch erstaunlich gut.”

„Man muss aufpassen, manche Texasdeutsche nicht zu überfordern, dieses Kapitel ihres Lebens ist schließlich fast abgeschlossen. Der Großteil unserer Interviewpartner hat kaum mehr die Gelegenheit, Deutsch zu sprechen. Und dann kommen plötzlich wir um die Ecke und sie sollen gleich eineinhalb Stunden oder länger Deutsch reden”, meint David Huenlich, einer von Boas Mitarbeitern beim Texas German Dialect Project. „Ich glaube, dass es ihnen manchmal leichter fällt, auf Texasdeutsch über ihre Kindheit zu reden. Irgendwie ist das so auch authentischer. Sie erzählen von ihrer Schulzeit und werden dabei auch richtig nostalgisch—im Englischen wäre das so nicht möglich. So bekommen wir dank der Sprache einen einzigartigen Einblick in die Vergangenheit dieser Bevölkerungsgruppe.”

Man würde niemals vermuten, dass Rodney Koenig fließend Deutsch spricht. Der 75-Jährige hat im Englischen einen starken texanischen Akzent und dazu noch eine der rauen Stimmen, die man in Austin oder San Antonio so bei jedem BBQ hören kann. „Das ist Absicht”, meint er zu mir.

„Als ich in der dritten Klasse war, wurde mein kleines Einzimmer-Schulhaus draußen auf dem Land geschlossen. Danach hat man uns mit Bussen abgeholt und in die Schule in der Stadt gebracht”, erzählt Koenig in einem Interview. „Unser Lehrer ließ uns immer aufstehen und vor der ganzen Klasse berichten, was wir am Wochenende gemacht hatten. Ich bin auf einer Farm aufgewachsen und habe deshalb die ersten paar Male Sachen wie ‚I vent to shurch‘ oder ‚I ved the shickens‘ gesagt. Mir war es nicht möglich, das ch und das s unterschiedlich auszusprechen. Meine Mitschüler machten sich schnell über meine deutsche Aussprache lustig und deswegen formulierte ich meine Erzählungen bewusst zu ‚I went to sunday school’ oder ‚I fed the poultry’ um. Mir wurde klar, dass mein Akzent ziemlich außergewöhnlich war, und ich wollte ihn deswegen unbedingt loswerden.”

Jahre später sollte Koenig seine deutschen Wurzeln schließlich wiederentdecken und zu schätzen lernen. Er versucht, mindestens einmal pro Jahr Urlaub in Deutschland zu machen, und beschäftigt sich dazu noch mit vielen Dingen, die zu seiner Herkunft gehören. Solche Erinnerungen bedeuten ihm viel und man merkt sofort, wie traurig er darüber ist, dass die Tage seiner Wurzeln wohl schon bald gezählt sein werden.

„Wir als Forscher haben die einzigartige Möglichkeit, uns mit dieser Arbeit zu beschäftigen, diese Leute zu treffen und uns ihre Geschichten anzuhören.” – David Huenlich

„In meiner Familie kommt nach mir niemand mehr. Meine Eltern sprachen vorrangig Deutsch und meine Großeltern sogar ausschließlich”, meint Koenig. „Ich engagiere mich in vielen Volksgruppen, ich war Präsident der German Texan Heritage Society und des Houston Sängerbunds und ich habe meine Tanten sowie viele meiner Nachbarn dazu überredet, sich von Hans Boas interviewen zu lassen.”

Boas Projekt hat allerdings auch eine melancholische Komponente. Der Wissenschaftler hat sich in den vergangenen 15 Jahren ganz dem Texasdeutschen verschrieben und dabei auch viele neue Freunde gefunden. Einige seiner Interviewpartner ruft er auch heute noch zwei bis dreimal im Jahr an und schickt ihnen zu Weihnachten eine Postkarte. Er weiß aber auch, dass das eines Tages nicht mehr möglich sein wird. Irgendwann wird es keine Interviews mehr geben und kein Texasdeutscher wird mehr Geschichten aus seiner Kindheit erzählen können. Boas wird sich dann nach einem anderen Forschungsthema umschauen müssen.

„Das ist schon komisch, denn einerseits ist das eben der Lauf der Dinge und man muss damit klarkommen—sonst dreht man durch”, meint Boas. „Andererseits wird dir so aber auch bewusst, dass sich Sachen wie die Kultur oder die Sprache ständig verändern. Deutsch war hier in Texas früher die vorherrschende Zweitsprache, heutzutage ist das Spanisch. Wer weiß, wie das Ganze in 100 Jahren aussehen wird. Vielleicht leben hier dann fünf Millionen syrische Flüchtlinge und es wird vorrangig Arabisch gesprochen. Irgendwie bin ich aber auch enttäuscht darüber, dass diese Sprache einfach so verschwindet, denn es gibt sie halt schon so lange.”

Huenlich ist mit zwei Dialekten aufgewachsen. Seine Familie stammt aus Bayern, ihre Wurzeln liegen aber in Ostdeutschland. Der ostdeutsche Dialekt, den er während seiner Kindheit und Jugend so oft gehört hat, ist der Sprechweise in der texanischen Kleinstadt Giddings sehr ähnlich.

„Ich bin hier Tausende Kilometer von Zuhause entfernt und höre trotzdem den Dialekt und verschiedene Ausdrücke aus meiner Kindheit. Da sind auch Sachen dabei, die in bestimmten Teilen Deutschlands niemals jemand sagen würde”, erzählt er.

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„Wenn man sich bewusst macht, dass diese ganze Sache irgendwann nicht mehr existieren wird, dann stimmt einen das schon traurig. Es geht bei diesem Projekt aber darum, im Hier und Jetzt zu leben”, fährt Huenlich fort. „Man will die Zeit, die man mit diesen Menschen verbringt, einfach nur genießen. Wir als Forscher haben schließlich die einzigartige Möglichkeit, uns mit diesem Thema eingehend zu beschäftigen, diese Leute zu treffen und uns ihre Geschichten anzuhören. Die anderen Amerikaner hier verstehen nämlich nicht, was sie da sagen.”

Die Wissenschaftler verdienen mit ihren Forschungen zum Texasdeutschen kein Geld. Berühmt werden sie dadurch auch nicht. Das Ganze ist ja quasi nur ein linguistischer Zufall, eine Folge der geographischen Umsiedlung. Es gibt nur noch ein paar tausend Menschen, die Texasdeutsch sprechen, und wenn die mal nicht mehr da sein werden, dann wird das den Rest der Welt nicht großartig scheren.

Rodney Koenig erzählt mir von einem alten Kartenspiel, das er früher immer mit seinen Eltern und seiner Familie gespielt hat. Jede Farbe hatte dabei einen dialektischen Anstrich: „In Texas bezeichnen wir Pik als ‚Eckstein’. Herz ist gleich, aber Pik heißt hier ‚Schippen’.” Ihm ist aber auch bewusst, dass seine Sprache irgendwann nicht mehr existieren wird und dass diese alten Worte in nicht allzu ferner Zukunft in Vergessenheit geraten werden.

Natürlich hat Texasdeutsch für die Allgemeinheit keine große Bedeutung, aber einigen Menschen liegt der Dialekt trotzdem sehr am Herzen. Deswegen geben sich Hans Boas und sein Team vom Texas German Dialect Project allergrößte Mühe, um sicherzustellen, dass das Ganze auch so erhalten wird, wie es erhalten werden sollte.


Lead-Foto: Greg Westfall | Flickr | CC BY 2.0