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Ich war in Las Vegas, um herauszufinden, ob wir Autos überhaupt noch brauchen

Der Autor steht neben dem Mercedes Vision AVTR Concept

Ich überhole sie alle. Jeden Tag. Mit meinem Klapperrad ziehe ich vorbei an den sich durch die Stadt quälenden Autos. Warum tun sich die Leute das an? Warum lösen Autos noch immer dieses “Ich muss das haben”-Gefühl aus, selbst in einer verstopften Großstadt?

So wie bei den drei Dutzend Menschen neben mir. Ich stehe im Las Vegas Convention Center, einer Messehalle unweit des Casino-Strips. Menschen drängen sich um ein futuristisches Auto und versuchen offenbar, einen Wettbewerb darin auszutragen, wer in kürzester Zeit die meisten Selfies damit machen kann.

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Das Auto spannt sich flach über den Boden wie eine in Blau und Rot schimmernde Seekreatur. Die Zukunftsvision eines Mercedes soll es sein. Diese Vision besitzt kein Lenkrad, dafür einen Pulsschlag in den Sitzen; kaum Tasten, dafür Kiemen am Heck. Anfang Januar bin ich in die USA gereist, weil mich nicht nur auf meinem Arbeitsweg die Frage beschäftigt, ob wir in Zukunft überhaupt noch eigene Autos brauchen.


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Ich besitze kein Auto, ebensowenig die meisten Menschen in meinem näheren Umfeld. Wenn ich in Berlin, Hamburg oder München irgendwo hin muss, habe ich die Wahl zwischen öffentlichen Verkehrsmitteln, Taxi, Uber, Sammeltaxis, Carsharing, Mietautos, Mieträdern, Mietrollern zum Sitzen und Mietrollern zum Stehen, die ich aber nicht benutze, weil ich dafür zu eitel bin. Warum ich mir ein eigenes Auto zulegen sollte, das im Durchschnitt 23 Stunden am Tag nur steht, weiß ich nicht.

Auf dem Highway 15 stehen wir jetzt schon seit einer halben Stunde im Stau. Für die zehn Kilometer lange Strecke vom Hotel zur Messehalle der Consumer Electronics Show brauchen wir 45 Minuten. US-amerikanische Roadmovies sahen irgendwie immer anders aus. Zum Beispiel in David Lynchs Wild at Heart, als Lula (Laura Dern) ihren Freund Sailor Ripley (Nicholas Cage) in einem schwarzen Ford Thunderbird Cabrio von 1965 abholt. Das Verdeck ist offen, das Chrom blitzt in der goldenen Abendsonne und als Lula Sailor seine Schlangenlederjacke reicht, sagt er: “Diese Jacke ist ein Symbol für meine Individualität, für meinen Glauben an persönliche Freiheit.” Dann springt er auf den Beifahrersitz und die beiden brausen zum Sound von Gitarrenriffs in Richtung Kalifornien davon.

Zurück in der Realität, eingepfercht zwischen Pick-up-Trucks und gestressten Taxifahrerinnen wirken Autos eher belastend als befreiend. Das war mal anders, zum Beispiel am 1. Juli 1990.

Damals stand ich im Norden Bayerns an einer Landstraße und hielt die Hand meines Vaters. Wir winkten den Menschen zu, die in Škodas, Wartburgs und Trabants über die eben geöffnete Grenze aus der Tschechoslowakei in den Westen fuhren. Endlich endete die Freiheit für sie nicht mehr an der Ostsee. Das war schön. Heute endet sie meist schon bei der Parkplatzsuche.

Vision AVTR
Die Teppiche in Casinos sollen angeblich den Orientierungssinn der Spieler stören, die beweglichen Klappen am Heck des Mercedes dienen dagegen der Kommunikation mit seiner Umwelt

Das sehen viele deutsche Großstadtmenschen so. Nur 36 Prozent der 18- bis 25-Jährigen Städterinnen und Städter gaben 2018 in einer Studie des Center of Automotive Management an, dass das Auto eine große Bedeutung für sie habe. Auf dem Land oder in kleineren Städten waren es 55 Prozent. Dort ist das Auto immer noch oft das einzig verlässliche Fortbewegungsmittel. Generell kaufen junge Deutsche weniger Autos, im Durchschnitt sind Neuwagenkaufende 53 Jahre alt und werden damit immer älter. Ich bin 33. Autofirmen müssen sich etwas einfallen lassen, um Leute wie mich noch zum Autokauf zu bewegen. Das Auto, das in Vegas präsentiert wird, soll so ein Einfall sein.

Der Mercedes Vision AVTR wurde zusammen mit einem Team von Avatar entwickelt. In dem Science-Fiction-Film verschmelzen im Jahr 2154 Mensch, Technologie und Umwelt miteinander. Was das mit Mercedes zu tun hat? “Ich denke nicht, dass das völlig offensichtlich ist, wenn man zum ersten Mal davon hört”, sagt Avatar-Regisseur James Cameron, als er in Las Vegas auf einer Bühne neben dem Auto steht. Aber Mercedes’ Plan, ein umweltfreundlicheres Unternehmen zu werden, habe ihn begeistert.

Ab 2039 will Mercedes nur noch Autos bauen, die kein CO2 ausstoßen, und sie auch CO2-neutral produzieren. Versprechen, wie sie viele Autobauer machen. Das Auto, das neben James Cameron parkt und für die kommenden Fortsetzungen seines Films wirbt, ist die Materialisierung dieses Vorhabens. Sie soll auch Begriffsstutzigen, also Fahrradheinis wie mir und selbst noch den benebeltsten Margarita-Verkostern auf dem Las Vegas Strip klar machen: Hey, wir Autobauer haben auch keine Lust darauf, dass die Erde in Flammen aufgeht. Und wir tun etwas dagegen.

Vision AVTR
Egal ob man ein Auto präsentieren oder Leute zum Zocken verleiten will – in Las Vegas dreht sich alles um die richtige Ausleuchtung

Der Zukunfts-Benz soll seinen Insassen das Gefühl geben, dass sie mit ihm und seiner Umwelt verschmelzen. Wie in Avatar. Beim Gedanken an die Spielerinnen und Spieler, die in den Casinos an den Automaten kleben, will ich nicht unbedingt mit einer Maschine eins werden. Aber da Mercedes mich und viele weitere Journalisten nun schon mal nach Las Vegas eingeflogen hat, probiere ich es aus. Im lenkradlosen Innenraum fluoresziert in der Mittelkonsole eine handgroße Bedieneinheit. “Sie können sehen, dass das Auto atmet. Aber es ist noch nicht ganz aufgewacht”, sagt ein Mercedes-Mitarbeiter. Ich lege die Hand auf die Steuerung und der Sitz vibriert plötzlich im Takt meines Pulsschlags gegen Schultern und Beine. Ein Druck nach vorne überträgt eine fiktive Landschaft auf das Armaturenbrett, eigentlich ein Display. Ich schätze, jetzt ist das Auto wach. Über Symbole, die auf meine Hand projiziert werden, kann ich Funktionen ansteuern. Das macht Spaß. Aber was soll das?

Autofirmen stehen unter Druck, Antworten auf die Klimakrise zu geben. Mit umweltfreundlichen Produkten, die zum Beispiel den Individualverkehr, also die Anzahl der Autos auf unseren Straßen reduzieren. Am Stand nebenan steht ein Flugtaxi von Hyundai und Uber, das bald Passagiere durch Städte fliegen soll. Und eine Transportkapsel in Liftkabinen-Optik, die Menschen autonom von der Haustür an ihr Ziel bringt. Als Hersteller von Luxusautos muss Mercedes darauf hoffen, dass Menschen weiterhin eigene Autos kaufen wollen. Allerdings sollen sich die Gründe für den Autokauf verändern.

“Kunden kaufen Mercedes-Benz insbesondere aus emotionalen und nicht ausschließlich aus rationalen Gründen”, sagt Bettina Fetzer, Mercedes’ weltweite Marketingchefin. Und deshalb müsse man Kundinnen auch beim Thema Nachhaltigkeit emotional ansprechen. “Mit dem Vision AVTR wollen wir zeigen, dass Nachhaltigkeit kein Verzichtthema sein muss, sondern etwas Cooles, Innovatives und Faszinierendes sein kann.” Die Menschen, die bei Fridays For Future auf die Straße gehen, hätten das schon verinnerlicht, sagt Fetzer, aber bei ihren Eltern funktioniere das nicht über Predigten, sondern über Begeisterung.

Vision AVTR
Meistens wird die Zukunft in Las Vegas an Spielautomaten gestaltet, manchmal auch in Autos

Und was ist mit Menschen, die gar kein Auto mehr kaufen wollen, also Menschen wie mir? Sind die für Mercedes verloren? “Wir wollen auch Leute wie dich erreichen und arbeiten dafür an unterschiedlichen urbanen Mobilitätslösungen, mit dem Ziel, langfristig profitabel zu sein”, sagt Fetzer. Deshalb sei man mit car2go, heute Share Now, früh ins Carsharing-Business eingestiegen, aber das Geschäftsmodell sei anspruchsvoll. “Da lernen wir gerade noch.” Sie sei aber überzeugt, dass es immer eine Nachfrage nach individueller Mobilität geben werde.

Ist das so?

Wahrscheinlich. Aber ein eigenes Fahrzeug wird wohl zu einem Luxus werden, den sich bei der wachsenden Weltbevölkerung immer weniger Menschen leisten können, denke ich auf dem Rückflug nach Deutschland – natürlich ebenfalls nicht gerade umweltfreundlich.

Unter uns, auf dem McCarran-Flughafen von Las Vegas glänzen die Privatjets der Highroller in langen Reihen in der Sonne wie die Zähne von Hans Klok. Ihre Besitzer werden auf eigene Fortbewegungsmittel auch in Zukunft weder verzichten wollen noch müssen. Ebenso wie die Menschen nicht darauf verzichten werden können, die in den endlosen Vorstadtsiedlungen von Los Angeles leben, auf die ich eine Stunde später herabblicke. Oder die Menschen in den oberfränkischen Dörfern, in denen ich aufgewachsen bin. Zumindest wenn für sie keine Alternativen geschaffen werden. Von Autobauern, aber auch von der Politik, die Gesetze erlassen muss, die dabei helfen, dass wir alle ans Ziel kommen – und den Planeten dabei schonen.

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