Nein, Auto-Tune ist kein Zeichen für mangelndes Talent

Musik ist, ähnlich wie Wasser, selbstbestimmter Sex und Toilettenpapier, eine elementare Sache. Aber weißt du, was anscheinend nicht großartig an Musik ist? Auto-Tune. Die Hälfte aller Kommentarspalten im Internet ist gefüllt mit Vorträgen darüber, warum dessen Existenz die größte Plage der heutigen Musikwelt ist.

Es gibt Facebook-Gruppen, die gegen das Programm protestieren, T-Shirts, auf denen steht: „Auto-Tune blendet uns vor der Wahrheit“ und Artikel, die den negativen Einfluss auf die Musikindustrie untersuchen. Die hasserfüllten Reaktionen auf die neueste Kollaboration von Kanye West und Paul McCartney waren zu einem großen Teil auf die stark bearbeiteten Vocals bezogen. Es gibt auch hochrangige Skeptiker, inklusive Jay Z, der in einem Song namens „Death of Auto-Tune“ behauptet, dass Auto-Tune aus der „Rezession“ eine „Große Depression“ macht. Steve Albini, Produzent von Nirvana, den Pixies und Slint, hat in einem Artikel für A.V Club gesagt, es wäre „deprimierend“, dass das „Produktions-Gimmick“ Künstlern erlauben würde, die „Tatsache zu verstecken, dass sie schlechte Sänger sind“. Selbst Death Cab for Cutie haben sich in einem der witzigsten und fantastischsten Momente der Geschichte eingemischt und bei den Grammys hellblaue Schleifen am Revers getragen, um über die Verbreitung von Auto-Tune in der Musik zu jammern. Das Programm wird behandelt, als wäre es Teil einer Verschwörung—bei der die Majorlabel-Bosse auf einer Mission sind, die Popkultur zu infiltrieren und die nachfolgende Generation zu verdummen—nicht als ein Hilfsmittel, um bessere Musik zu machen.

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Ich verstehe diesen Hass nicht wirklich. Ich meine, Auto-Tune gibt es seit Jahrzehnten. Cher hat den Sound schon 1998 für ihren Smash-Hit „Believe“ verwendet; einen Song, der sich seither unvermeidbar in den Playlisten von Hochzeitspartys, im Radio und im menschlichen Gedächtnis festgesetzt hat. Legenden wie 2Pac („California Love“), Michael Jackson („PYT“) und Daft Punk (alles) haben alle reichlich digitale Gesangseffekte benutzt. Aber aus irgendeinem Grund gibt es immer noch Spinner da draußen, die denken, es sei ein Sakrileg für einen Künstler, Effekte über die Stimme zu legen.

Der allgemeine Glaube ist, dass Auto-Tune eine Art Wunderwaffe ist. Dass es ein Mittel dafür ist, ein ansonsten nutzloses Konstrukt aus Knochen mit einem Mangel an Gesangstalent in einen die Welt beherrschenden Superstar zu verwandeln. Der Hauptzweck dieses Hilfsmittels ist schließlich, die nicht perfekte Tonhöhe zu korrigieren. Aber wenn es richtig eingesetzt wird, dann ist daran nichts falsch. Hör dir Lens „Steal my Sunshine“ an und sag mir, ob es besser mit Gesang wäre, der genauso leblos klingen würde, wie du dir die Bandmitglieder innerlich vorstellst. In dem Song findet sich die coolste Zeile in der Geschichte der Popmusik—der Reim „I was lying on the bench slide in the park across the street, L-A-T-E-ARE that week“ ist so geschmeidig, dass Len diesen Erfolg unglücklicherweise nie wiederholen konnten. Es waren die schön abgerundeten Ecken des Auto-Tune, die es so himmlisch klingen lassen haben.

Len und all die anderen One-Hit-Wonder lassen sich zwar recht einfach unter den Teppich kehren, trotzdem gibt es Leute, die es nicht richtig finden, wenn Auto-Tune von gesichtslosen, laschen Trotteln verwendet wird, um ihre Karriere aufzubessern und zu Ruhm zu gelangen. Auch ich würde mir wünschen, dass Paris Hilton nie vier Singles veröffentlicht hätte und auch ich habe mit der Existenz von Olly Murs zu kämpfen. Aber der Hass auf Auto-Tune beschränkt sich nicht nur auf drittklassige Popstars, er richtet sich auch gegen einige der innovativsten Köpfe der Musik—wie Lil Wayne, T-Pain und Kanye West. Das fand ich schon immer komisch. Man braucht kein Genie zu sein, um zu verstehen, dass Lil Wayne nicht mehr Metaphern und Vergleiche einfallen, als in einem Lehrbuch über die englische Sprache zu finden sind, nur weil er seine Stimme durch ein digitales Tool jagt—sondern, dass das Talent dafür aus seinem Gehirn kommt. Und Kanye Wests grandiose Meisterwerke sind nicht ausschließlich durch einen Computer entstanden, sie wurden von ihm selbst kreiert. Die Sängerin Channy Leaneagh von Polica hat es in einem Telegraph-Interview von 2012 treffend ausgedrückt: Auto-Tune ist einfach nur der Pinsel, für den sich manche Künstler bei ihrem Gemälde entscheiden.

T-Pain ist ein Beleg für Channys Kommentar, dass Auto-Tune kein Ersatz für Harmonie, Melodie oder die Fähigkeit, Hooks zu schreiben, ist. Seht euch dieses Video von ihm an, in dem er „Buy U A Drank“ mit unbearbeiteter Stimme singt. Ist das nicht großartig? Sieht es nicht so aus, als könnte er singen?

Trotzdem herrscht immer noch der Glaube, dass Künstler, die Auto-Tune benutzen, kein Talent besitzen. Als Kanye West Anfang der Woche als Headliner für das Glastonbury-Festival bekannt gegeben wurde, ist eine Petition bei change.org aufgetaucht, in der die Eavis-Familie darum gebeten wurde, den Rapper wieder auszuladen und stattdessen „eine Rockband einzuladen“. Unterstützer der Petition haben gesagt: „Farbe beim Trocknen zu beobachten wäre unterhaltsamer als dieser Auto-Tune-Mist“ und mit ihrer Unterschrift glauben die Unterstützer, sich „für echte Musik eingesetzt“ zu haben. Aber was genau ist echte Musik?

Auto-Tune wird als etwas definiert, das nicht „echt“ ist, weil es mit der Hilfe eines Computers funktioniert. Wenn man dieser Logik folgt, dann kann nur Musik aus der Zeit vor Computern als echte Musik bezeichnet werden—Künstler wie Woody Guthrie, Bo Diddley, Muddy Waters—und keine der Bands von heute. Denn nach Stand der Dinge benutzt heute jeder von Metallica bis Radiohead einen Computer, um seine Musik zu optimieren—und benutzt dabei sowohl Click-Tracks als auch Samples und Space-Age-Filter. Sind diese Leute deswegen als Künstler weniger wert? Wenn es nach der Geschichte geht, nicht. Und obwohl beide ihr eigene Musik schreiben, kreieren und aufnehmen, werden Bands wie Radiohead als „echte Musik“ bezeichnet und Auto-Tune-Künstler wie T-Pain nicht. Auf den letztgenannten wird herabgeschaut.

So sollte es nicht sein. Auto-Tune ist auf gewisse Weise repräsentativer für die derzeitige Popkultur als die Millionen Popsänger, die zwar perfekt singen, sich aber dafür entschieden haben, sich veralteter Soul-Musik zu widmen oder langweilige Genres beackern. Auto-Tune ist hi-tech, aufrichtig und gleichzeitig distanziert und drückt enorme Emotionen durch digitale Filter aus—ähnlich wie ein Gitarreneffekt für deine Stimme. Aber es kann nicht von jedem verwendet werden. Wenn du kein Talent für Songwriting hast, dann garantiere ich dir, dass du wie ein unter Sauerstoffmangel leidender Roboter klingst und nicht automatisch eine Radio-taugliche Single dadurch entsteht.

In Castingshows wie Die große Chance wird deutlich, dass eine tolle Stimme nicht unbedingt gleichbedeutend mit einem komplexen und kreativen Geist ist. Und wenn du an die Menge an Technik, Software und Technologien denkst, die in der modernen Musik eingesetzt werden, dann ist „echte Musik“ ein ziemlich eindimensionales Konzept und sehr elitär, wenn es den Gebrauch von Auto-Tune ausschließt, aber Gitarreneffekte und Loop-Zauberei mit einschließt.

Die Idioten und Flachpfeifen, die der Vorstellung von „echter Musik“ beipflichten und Kanye West oder T-Pain nicht als talentierte Künstler ansehen, sollten jede Platte aus ihrer Sammlung schmeißen, die keine Mono-Aufnahme, kein Bootleg oder keine Symphonie ist—Musik, die ohne die Hilfe von Computer-Technik aufgenommen wurde. Aber das werden sie nicht. Diese Witzfiguren sind die größten Heuchler auf dieser Welt und ich würde mir wünschen, dass sie sich alle zusammentun und in einen verlassenen Freizeitpark oder so verpissen, um den Rest der Welt nie mehr mit ihrer rückschrittlichen Denkweise zu belästigen.

Ihr könnt Ryan Bassil bei Twitter finden: @RyanBassil

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