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Zwei Experten haben uns erklärt, warum Menschen mit Leichen zusammenleben

Ein Mann aus Rostock lässt seinen toten Bruder einen Monat lang am Küchentisch sitzen. Wer macht so etwas – und stinkt das nicht fürchterlich?

Mark Benecke bei der Arbeit | Foto: Benecke.com

Als die Polizei die Tür der Wohnung öffnete, saß die Leiche am Küchentisch. Der Mann war schon am 31. Oktober gestorben, doch sein 49-jähriger Bruder, mit dem er zusammenlebte, hat erst einen Monat später die Polizei gerufen. Das berichtet die Ostseezeitung. Der Mann wollte sich von dem Toten verabschieden, hielt aber irgendwann den Verwesungsgeruch nicht mehr aus.

Die Geschichte hört sich an, als hätte sie sich Hitchcock ausgedacht, aber solche Fälle kommen gar nicht so selten vor. In München hat zum Beispiel eine Frau für fünf Jahre mit der Leiche ihrer Mutter in einer Wohnung gelebt. In Gronau konnte sich ein 50 -Jähriger ebenfalls nicht von seiner Mama verabschieden und teilte zwei Jahre lang mit ihr die Wohnung. Sogar ganze Familien sollen bereits mit einem toten Verwandten zusammengelebt haben.

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Dr. Mark Benecke, Kriminalbiologe und bewährter Talk-Show-Gast, hat in seinen 25 Jahren Berufserfahrung auch schon einige solcher Fälle erlebt: "So etwas kommt bei mir alle drei Jahre vor. Als ich anfing zu arbeiten, waren es noch ältere Leute, die nach dem Krieg ihre Wohnung nach der Anzahl von Personen zugeteilt bekommen hatten und nach dem Tod der Ehefrau oder des Ehemanns Angst hatten, in eine kleinere Wohnung zu müssen", erzählt er VICE. "Heute sind es meistens Menschen, die mit ihrem Leben nicht klarkommen." Vor einiger Zeit waren Menschen außerdem weniger zimperlich, was Tote angeht: "Früher war es ja ganz normal, dass man die Leiche nochmal für eine Woche aufgebahrt hat. Heute würden es Leute ja schon freakig finden, zwei Tage einen Toten in der Wohnung zu haben."

Dr. David Pfister, ein Berliner Psychotherapeut, der sich auf Trauer spezialisiert hat, sieht die Ursache dieser Fälle darin, dass viele Kinder der Nachkriegsgeneration nie den Umgang mit Verlust gelernt haben. "Sie haben von klein auf gesagt bekommen haben, sie sollen sich nicht so anstellen und nicht heulen. Wenn eine nahestehende Person stirbt, kann derjenige nicht damit umgehen", sagt Pfister und verweist auf das Modell der Trauerphasen. Das besagt, dass Menschen in mehreren Schritten mit Trauer fertig wegen: zuerst Leugnen, dann intensive Emotionen wie Trauer und Wut, später Loslassen und Suche nach einem neuen Weltbezug. "Menschen, die mit Leichen zusammenleben, sind meistens in der Phase des 'Leugnens' stehengeblieben", erzählt Pfister uns.

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Psychotherapeut David Pfister | Foto: Privat

"Wenn Menschen nicht mehr den Unterschied zwischen einer Person und einem toten Körper verstehen, dann muss das Verhältnis der beiden schon vorher gestört gewesen sein", meint Mark Benecke. Und stinkt das nicht fürchterlich? "Angenehm riecht das natürlich nicht, es gibt aber durchaus Unterschiede", sagt Benecke. "Die Verwesung kann bereits nach einem Tag, je nach Temperatur und Umgebung, aber auch erst nach einer Woche oder in der Kühltruhe auch gar nicht einsetzen."

Außerdem komme es auf das Gewicht des Verstorbenen an: "Bei dicken Leichen läuft das Fett aus und das gibt ein Riesengematsche", sagt Benecke. "Bei dünnen Menschen kann es aber sein, dass die langsam vertrocknen und mumifizieren. Das stinkt gar nicht so stark und sieht recht normal aus." Dass jemand Monate oder sogar Jahre mit einer solchen Leiche unter einem Dach lebt, sei also nicht völlig absurd: "In diesem Zustand kann der Tote in seinem eigenen Bett liegen", erzählt Benecke. "Der Verwandte lüftet die Wohnung ab und zu und kann sich so langsam an den bei vertrockneten Leichen recht schwachen Geruch gewöhnen."

Mark Benecke mit einer mumifizierten Leiche | Foto: National Geographic Channel

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