Ich stehe am Tresen, als ein Stammgast von mir in die Bar kommt. Er ist die Sorte Person, die man landläufig als Nerd bezeichnet. Er läuft mit dem Laptop herum, trinkt Mate, ist begeistert von Electro-Schrott, macht Witze über Dinge, die die meisten Menschen (auch ich oft) nicht verstehen und das Internet ist sein wahres Zuhause. Er schaut auf sein Handy und gröhlt los, streckt mir den Bildschirm hin, darauf ein Foto: Vor Wüstenhintergrund steht ein schwarz gekleideter IS-Kämpfer mit dem Kopf von Anders Breivik, daneben kniet ein Ungläubiger in orange, dessen Haupt mit jenem des deutschen Hass-Predigers Pierre Vogel ausgewechselt wurde. „Kennst du pr0gramm.com?”, fragt er.
In der Folge erklärt er mir, was das pr0gramm ist. Ein deutschsprachiges Imageboard, irgendwo zwischen Imgur und 4chan, aber doch anders. Viel Witziges, aber auch kranker Scheiss. Der nerdige, dabei oft derbe, schwarze Humor von Reddit, Imgur, 9gag oder 4chan, der Mutter all dieser Seiten, ist zwar durchaus meiner (schon als 12-jähriger lachte ich über die Tote-Babys-Witze meines Schulkumpels), doch ich verbringe auch ohne alle diese Seiten schon genug Zeit im Internet. Dann taucht noch der zweite meiner Nerd-Stammgäste auf und auch er scheint auf pr0gramm aktiv zu sein.
Videos by VICE
Ich erfahre: Wie auf anderen Imageboards kann man für Posts und Kommentare Punkte sammeln. Die aber werden dann nicht einfach als Likes oder Sternchen oder was weiss ich angegeben, sondern als Benis-Länge (ja, das „B” könnte auch ein „P” sein). Und da man auch Downvotes verteilen kann, ist es gut möglich, dass sich dein Benis irgendwann ins Negative zusammenzieht. Und du zum „Fliesentischbesitzer” wirst. Der RTL-Assi-TV-Prototyp nämlich ist die unterste Stufe im Status-Ranking auf pr0gramm. Darüber in aufsteigender Reihenfolge: Neuschwuchtel (kleinere Benis-Länge als 5000 beziehungsweise weniger als 6 Monate dabei), Schwuchtel, Altschwuchtel, Lebende Legende.
Ist das pubertär und niveaulos? Auf jeden Fall! Vor allem die Stati, die wohl eher von sorgenlos infantilem Humor denn von Rassismus gesteuert werden (offen rassistisches Gedankengut wird tendenziell eher mit dem Stutzen des Gemächts vergütet). Doch gleichzeitig erscheint mir zumindest die Sache mit dem männlichen Geschlecht grundehrlich und zwar nicht nur, weil sich der Männeranteil auf pr0gramm mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwo zwischen 85 und 99 Prozent bewegen wird. Was sind all die Likes, die Twitter-Sternchen und Instagram-Herzchen denn anderes als digitales Selbstbefriedigen, als Schwanzvergleich 2.0?
Schaut man sich die Sache genauer an, merkt man: Nicht nur in Sachen Punkteverteilung sind sich die Pr0grammer ihrem Aussenseiter-Status bewusst. Auch in den Kommentaren und den nicht minder wichtigen Tags (auch die kann man up- und downvoten) thematisieren, ja glorifizieren, die Nerds mit liebevoll grantiger Ironie das Bild, das die Gesellschaft von ihnen hat. Von „wir Kellerkinder” ist da die Rede und mit „einer von uns” werden da fette Menschen ebenso getaggt wie der traurig ausschauende Franz Kafka oder ein Hund, der sich genüsslich an den Eiern kratzt.
Wie auf verwandten Seiten wie imgur ist dabei das Drumherum um die Beiträge mindestens so unterhaltsam wie die Videos, Memes und Screenshots selber. In den Kommentaren offenbaren sich die Persönlichkeiten der User, die Hierarchien und, um dem ganzen einen wissenschaftlichen Touch zu geben, Diskursregeln. Und in den Tags, die jeder Verteilen und ebenfalls bewerten, ein ganz eigener Slang: So ist eine Katze eine Kadse,ein Hund logischerweise eine Bellkadse, während mit Bausparkadse natürlich nichts anderes als ein Fuchs gemeint sein kann.
Und wir Schweizer? Welches Bild wird von uns gezeichnet? Wir haben die Alpen und wir haben das Geld. Die Konsequenz daraus: Bergjuden.
Ich bekomme Lust, mitzumachen bei diesem grenzdebilen Haufen. Doch wer das will, muss entweder von einem User eingeladen werden oder sich mit 29 Euro im Jahr einkaufen. Das macht Sinn, denke ich, auf die Schmähung durch den Normalbürger mit der Gründung eines elitären Zirkels im Kellerloch zu antworten, in welchem man selber zum sozialen Regulativ wird. „Oder einfach damit das pr0gramm nicht von den „NewFags” aus Fagbook und 9Fag überschwemmt wird”, erklärt mir mein Stammgast und schickt mir einen Invite. Ausserdem könne man nur als angemeldeter User den wirklich kranken Scheiss sehen. Als ich mich einlogge, erhalte ich von meinem Stammgast eine Willkommensnachricht mit Tipps und dem Hinweis, dass ein allfälliges Fehlverhalten meinerseits auf ihn abfärben könne. Wie im echten Leben eben, wenn man eine neue Person in seinen Freundeskreis bringt.
Also halte ich mich an seine Ratschläge, schalte als erstes die „not safe for work”- und „not safe for life”-Contents frei. Und vorbei ist es mit der Kadsen-Unschuld. Viel nackte Haut, auch tote Haut springt mir entgegen. Ich bin enttäuscht. Statt Weirdness sehe ich viel übelsten Sexismus und abartige Masturbationsvorlagen. Als ob es im Internet nicht schon genug Pornos gäbe, stimmt mir auch mein Stammgast zu. „Aber wenn du die NSFW- und NSFL-Buttons nicht einschaltest, verpasst du eben auch viele andere geile Sachen”, erklärt er mir. Und es ist ja auch nur logisch: In Kellern wird eben nicht nur gelacht und das eigene Aussenseitertum gefeiert. Vor dem einsamen, kalten Licht des Bildschirms wird auch masturbiert, der Misogynie und anderen kranken Gedanken freien Lauf gelassen.
Kissi auf Twitter: @kissi_dk
Vice Schweiz auf Twitter: @ViceSwitzerland