Sex

BDSM mit Behinderung: So lebt Christian seinen Fetisch aus

Mensch mit Behinderung wird bei BDSM-Session ans Bett gefesselt

Christian gibt seine Freiheit ab, als sie ihn aus dem Rollstuhl heben. Wie ein Neugeborenes tragen sie ihn zum Himmelbett, vorsichtig, eine Hand um den Nacken, die andere unter seinen Knien. Sie ziehen ihn aus. Erst das T-Shirt, dann die Jeans und die Socken, bis er nur noch in Boxershorts auf dem weinroten Bettbezug liegt. Christians Rippen stechen aus der Haut hervor, neben seinem Bauchnabel verdeckt ein Pflaster die Öffnung einer Magensonde. Christian schaut zum Fenster. Draußen scheint die Sonne, doch durch die Schlitze des Rollos scheinen nur Lichtsprenkel. Im Zimmer ist es dunkel.

Dann fesseln sie ihn.

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Einer seiner beiden Begleiter schnallt Christian nietenbesetzte Ledermanschetten um Hände, Füße und Oberschenkel. Es sind die schmalsten, die Christian im Internet finden konnte. Trotzdem sitzen sie so locker, dass er seine Hand theoretisch herausziehen könnte. Kann er aber nicht. Denn sie sind steif, seit er ein Kind ist. Die andere Begleiterin knotet die Manschetten mit Seilen an den Holzbalken fest. “Zieh, zieh, zieh!“, sagt Christian. Seine Gliedmaßen bilden nun ein krummes X, ein Bein hängt in der Luft. Als sei Christian in einem schwarzen Spinnennetz gefangen.

Christian Kiermeier, 29, bekam in seiner Kindheit die Diagnose “Spinale Muskelatrophie Typ Zwei”. So nennen es Ärzte. Normale Leute, Leute wie Christian, sagen: Muskelschwund. 21 Jahre sollte er alt werden, maximal. Dann kam er in die Pubertät und entdeckte seinen Kink: BDSM. Das ist für ihn kein Widerspruch. Es ist sein Leben.

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Früher hat Christian viel gezockt. Die World-of-Warcraft-Figur links auf dem Regal hat er nach 10 Jahren Abonnement bekommen

Wenn Christian von Dreiern erzählt, über Elektrostimulation redet oder dass bei Fesselspielchen auch “richtig was ankommen muss”, dann wirkt es zuerst ungewohnt offen, schnell aber wie das Normalste auf der Welt: Nur ein junger Mann, der über Sex plaudert. Eigentlich.

Dann sieht man den Rollstuhl. Man sieht den knochigen Oberkörper, den zwei große Hände umschließen könnten. Die Schultern, die nur wenig breiter sind als der Kopf. Man sieht Arme und Beine, die kaum dicker sind als der Knochen und die Haut, die sich so straff darüber spannt wie Plastikfolie über eine Salatgurke. Und plötzlich wird aus der scheinbaren Normalität ein Widerspruch: Behinderung und Sex? BDSM im Rollstuhl? Passt das zusammen?

Es sind Fragen, die Christian häufig hört, auch von seinen Freunden: “Die fragen das einmal und dann nie wieder.” Aber es sind ja nicht nur seine Freunde. Das Problem ist die Gesellschaft, die Sex und Behinderung zu einem Tabuthema verschweigt. Vorschläge etwa die Sexualassistenz auszubauen, die das Sexleben von Menschen mit Behinderung verbessern sollen, tun Politiker teils als “Abenteuer” und unnötig ab. Deshalb will Christian seine Geschichte erzählen, die eines jungen Mannes, der seine Sexualität ausleben will, wie jeder andere – in einem Leben, das jeden Tag zu Ende sein könnte. Was kann man von ihm lernen?

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“Ich will zeigen, dass Behinderung und BDSM kein Widerspruch ist”, sagt Christian

Man hört Christian, bevor man ihn sieht. Es surrt und piept, Gummireifen quietschen über den Fliesenboden, hier im Haus seiner Eltern im Norden Münchens. Mit seinen gescheitelten Haaren und der eckigen Halbrandbrille könnte Christian auch Steuerberater sein; mit seinen überschlagenen Beinen und den Armen auf den Lehnen sieht es fast so aus, als sitze er auf einem Thron statt in einem Rollstuhl. Auf Christians Knien liegt ein silberner PS4-Controller, er zockt gerade FIFA19 mit einem Kumpel. Weil er manche Tasten nicht greifen kann, braucht er “Verlängerungen”: Eine Rolle Mülltüten klebt unter dem Controller, ein alter Fahrradschlüssel an den oberen Tasten L2 und R2. Nach 15 Sekunden schießt Christian das erste Tor, dann lässt er drei Bälle rein. Als ein Pass nicht ankommt, grummelt er wie ein Kaffeekocher.

“Fuck, seit wann schießt du denn so gut?”, sagt Christian

“Ha! Schreib’s auch in den Artikel, wenn Chris weint, weil er verliert, ja?”, antwortet der Freund.

“Bis dahin rannte Christian mit einer Laufhilfe durchs Haus”, sagt seine Mutter. “Dann ist er nicht mehr vom Fleck gekommen.”

Christians Zimmer wirkt wie das vieler Junggesellen. In der Ecke summt ein Gaming-Rechner, an den Wandregalen stapeln sich Blu-Rays und DVDs, ordentlich aufgereiht wie in einer Videothek, etwa 800 Filme sollen es sein. Nur kleine Hinweise zeigen, dass Christian nicht wie die meisten anderen aufgewachsen ist: Die Beatmungsmaschine, ohne die er nachts nicht schlafen kann. Oder der 40-Liter-Sauerstofftank für Notfälle oder zum Wachwerden. “Besser als Kaffee”, sagt Christian.

Als Christian geboren wurde, wog er 3330 Gramm, war 49 Zentimeter groß – und gesund. “Ein sonniges Kind”, sagt seine Mutter Connie heute. Eines Tages nimmt sie ihn aus dem Bett, will ihn hinsetzen, doch Christian fällt zur Seite um. Er bleibt liegen und bewegt seinen Kopf nicht mehr. “Bis dahin rannte Christian mit einer Laufhilfe durchs Haus”, sagt Connie. “Dann ist er nicht mehr vom Fleck gekommen.” Ein Arzt nimmt Christian Blut ab. Wenige Tage später das Ergebnis: SMA Typ 2. Die Ärzte sagen, er werde nie wieder laufen können, seine Muskeln schwinden mit der Zeit, seine Lunge werde schwächer. Eine unheilbare Krankheit, ausgebrochen wegen eines Gendefekts, den Christian schon immer in sich trägt. Sie geben ihm höchstens 21 Jahre.

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Den PS4-Controller hat Christians Vater präpariert: “Playstation ist nicht wirklich barrierefrei”

“Ein Arzt hat mich gefragt, ob ich den Christian behalten wolle. Ich könnte ihn auch einem Pflegeheim übergeben”, sagt Connie. “Ich hab ihn gefragt, ob er noch ganz dicht ist.”

Mit drei Jahren bekommt Christian seinen ersten Rollstuhl, als er sieben ist, merken Ärzte, dass seine Wirbelsäule verkrümmt ist. Die Wirbel drücken auf Christians Lunge. Sie schneiden seinen Rücken auf und implantieren einen Teleskopstab aus Titan, der die Wirbelsäule begradigen soll wie die Rankhilfe einer Schlingpflanze.

Mit 15 sieht Christian mit seiner Mutter im Fernsehen, wie einem Patienten die Luftröhre aufgeschnitten wird. Danach sagte er: “Mama, du schwörst mir jetzt: Das lässt du nie an mir machen. Lieber sterbe ich.” Sie willigte ein.

Drei Tage später schwillt Christians Hals derart zu, dass er sofort ins Krankenhaus eingeliefert und intubiert werden muss. Weil er eine schwache Lunge hat, sehen Ärzte nur eine Lösung: ein Luftröhrenschnitt. Dabei bestehe das Risiko, dass Christian nie wieder reden könne. “Da hätte ich mich watschen können”, sagt Connie.

Fünf Wochen lang liegt Christian auf der Intensivstation, seine Mutter fragt ihn immer wieder, ob er seine Meinung ändern wolle. Weil Christian in dieser Zeit nicht reden kann, kommuniziert er über Buchstaben, die er auf seine Hand zeichnet: “Nein.”

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Auf dem Foto ist Christian zwei Jahre alt. Damals konnte er noch selbst essen und trinken. Seine Lieblingskombination: Pizza und Kaba

14 Jahre sind seitdem vergangen, jetzt rollt Christian aus dem Wohnzimmer auf die Terrasse. Vor unserem Interview frage ich Christian, ob ich ein paar seiner Freunde sprechen kann, um zu verstehen, wie sie miteinander umgehen. Jetzt sitzen wir zu sechst am Tisch, Umarmungen, Handschläge, man kennt sich. Einige wohnen direkt um die Ecke, in der Münchner Umgebung, andere sind für das Treffen fast 400 Kilometer gefahren.

“Und, woher kennt ihr Christian so?”, frage ich.

“Der Einzige an diesem Tisch, mit dem ich noch nichts hatte, bist du”, sagt Christian.

Vor einem Jahr hatte Christian seinen ersten “richtigen Kuss”. Bis dahin kennt er nur Schmatzer auf die Wange

Wenn Christian lacht, bricht er nicht in brüllendes Gelächter aus. Er zieht die linke Oberlippe hoch, sein Körper zittert leicht, und ein Lächeln tanzt von seinen Augen über seinen Mund. Es ist dieser trockene Humor, den seine Freunde an ihm schätzen. Er hat sie alle in Dating-Foren kennengelernt. Für Christian sind sie Spielgefährten und Freundschaft Plus. “Weniger als eine Beziehungen, aber mehr als eine Affäre.” Da ist Rob, der sagt: “Viele denken, Behinderte sind schwach, aber Christian ist das Selbstbewusstsein pur.” Da sind Mike und Lina, die anders heißen, und für die “Chris” der beste Zuhörer der Welt ist. Da ist Julia, mit der Christian vor einem Jahr seinen ersten “richtigen Kuss” hatte.

Bis dahin kannte Christian nur Schmatzer auf die Wange. Während früher andere Teenager auf dem Schulhof rumknutschten – “Ha! So unschuldig war ich im Leben noch nicht!” – klärt sich Christian im Internet selbst auf. Mit 12 schaut er seinen ersten Porno, merkt, dass er auf Frauen, Männer und auch auf “das dazwischen” steht. “Ich habe nie zwischen Geschlechtern getrennt”, sagt Christian. Beim Umziehen und auf der Toilette halfen ihm männliche und weibliche Pfleger. Mit 21 meldet sich Christian in Dating-Foren an, mittlerweile habe er zehn verschiedene Konten. Auf einem schreibt er: “Mein Name ist Christian, ich sitze im Rollstuhl und ich bin Pansexuell.” Seine Behinderung habe er noch nie verheimlicht. “Die Leute sollen wissen, worauf sie sich einlassen.”

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Die BDSM-Ente mit eingebautem Vibrator hat Christian von seinen Freunden Mike und Lina geschenkt bekommen

Und sie schreiben ihm. Neugierige, die “nur mal fragen wollen”, oder Fetischisten, die auf Behinderungen stehen. Christian bekommt Nachrichten wie: “Wenn du mir 100 Euro gibst, darfst du mir einen blasen.” Er hält nichts davon, aber er antworte immer, aus Höflichkeit. Andere wollen aus Mitleid Sex mit ihm haben. “In dem Moment ist mein Interesse schon vollkommen weg”, sagt Christian. Viele würden sich auf die Behinderung fixieren, der Mensch dahinter sei denen nicht mehr so wichtig. Für Christian muss Sex immer auf Augenhöhe sein. Pansexuell heißt, dass für Christian der Charakter wichtiger ist als Geschlecht, Alter oder Aussehen. Er deutet mit dem Kinn auf seinen Arm. Dort hat er sich drei Blumen in den Farben der Pansexuellen tätowiert: Rosa, Gelb, Himmelblau.

Vielleicht legt Christian so viel Wert auf das Wesen, weil er auch so wahrgenommen werden will: Als Mensch. Ohne Vorurteile.

Connie Kiermeier hockt vor ihrem Sohn und schnürt ihm die Schuhe, schneeweiße Adidas. Zwei Stunden später wird Christian an die Balken eines Himmelbett geschnallt sein, er hat sich mit Mike und Lina, seinen Freunden, zu einer BDSM-Session verabredet.

Christian ist 20, als er sein erstes BDSM-Date hat. “Die hilflose Position gefiel mir”, sagt er.

Heute weiß Connie, dass Christian Dates hat. Früher aber sei das lange kein Thema gewesen.

“Du hast nie was gesagt”, sagt die Mutter

“Ich hatte ja auch ewig niemanden”, antwortet der Sohn.

Christian hielt seine Treffen geheim. Und die Eltern fragten nicht nach. Nur als er heimkam, und seine Mutter ihn wusch, kamen auch die Hinweise: Wachs auf dem Rücken, blaue Flecken, Striemen. Und damit die Fragen. Christian lässt sich eine Triskele auf den Hals tätowieren, eine Dreifach-Spirale, die für die Rollenverteilung im BDSM steht: Sub, Dom und Switch. Weil Christian seinen Eltern die Bedeutung nicht verraten will, kommt Streit auf. Er schreit seiner Mutter ins Gesicht, dass er auf Männer und Frauen und vor allem auf BDSM steht. “Das fühlte sich an wie ein Outing”, sagt Christian heute.


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Mit Mitte 20 findet Christian im Internet seine ersten Dates. Seine Pfleger, die gleichzeitig auch zu seinen Freunden werden, fahren ihn. In dieser Zeit lernt er einen Typen im Internet kennen. “Er fragte, ob ich mich auf eine BDSM-Session mit ihm einlassen wollte”, sagt Christian. “Er war dominant und ich sollte der Sub sein.” Bisher kannte er BDSM nur aus Pornofilmen. Christian war nervös, sagte aber zu. “Schauen wir mal”, dachte er. Ob das mit seinem Körper geht, darüber habe er nicht nachgedacht. Sie trafen sich in einem Stundenhotel im Norden Münchens, wie bei allen Dates, nur diesmal wird Christian ans Bett gefesselt. “Die hilflose Position gefiel mir.”

“Fühlst du dich sonst hilflos?”, frage ich.

“Eigentlich nicht. Es ist eher die Umgebung, die dich einschränkt”, antwortet Christian. “Wenn ich nicht in einen Raum komme, ist es nicht die Behinderung, die das verhindert, sondern weil es keine Rampe gibt.”

Er kann nicht woanders übernachten, weil immer jemand auf ihn aufpassen muss: Ihn begleiten, wenn er aufs Klo muss. Ihn füttern, wenn er Hunger hat. Ihn nachts umdrehen, weil er sich nicht selbst bewegen kann. Christian hat keine Privatsphäre. Ob sie ihm fehle? “Ja, manchmal”, sagt Christian. “Aber es geht nicht anders. Ich brauche diese Person.” Christian ist nie alleine. Und manchmal isoliert ihn das.

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Christian geht nur zu BDSM-Sessions, wenn er fit ist: “Wenn ich Anzeichen von Schwäche fühle, sage ich ab”

Christian liebt wie jeder andere, nur das auszuleben geht nicht so leicht. Im Bett gebe es anfangs immer die Unsicherheit. Wie hebt man ihn aus dem Rollstuhl? Wie zieht man ihn aus, tut man ihm weh? “Am Anfang sind sie immer vorsichtig”, sagt Christian, aber das müsse man ablegen. “Ich bin nicht zerbrechlich.”

In der Öffentlichkeit wird über Sex geredet und über Behinderung, nur beides zusammen wird selten erwähnt. 2017 schlug die pflegepolitische Sprecherin der Grünen, Elisabeth Scharfenberg, vor, Sexualassistenz für Pflegebedürftige staatlich zu unterstützen. Ihre eigene Partei verhöhnte sie, die Medien verglichen die Idee mit “Prostitution auf Rezept”. Der Tübinger Bürgermeister Boris Palmer zeterte auf Facebook, man würde die Grünen als “weltfremde Spinner” abstempeln.

“Wir stehen nicht im Mittelpunkt der Gesellschaft”, sagt Christian. “Wir sind nur eine Randgruppe.” Ist das so? 7,8 Millionen Menschen in Deutschland sind schwerbehindert, ein gutes Zehntel der Bevölkerung, die meisten aufgrund einer Krankheit. Und die meisten hätten sich damit abgefunden, in einem unfreiwilligen Zölibat zu leben, sagt Christian. Wegen übervorsichtiger Eltern oder Pflegeeinrichtungen, die nicht über solche Themen diskutieren wollten. Oft ist es aber ein vergifteter Gedanke, der eigentlich helfen will, am Ende aber doch schadet: “Diese Menschen haben doch ganz andere Probleme.”

“Ich könnte alles mit ihm machen”, sagt Christians Freund Mike. “Er kann sich ja nicht wehren.”

Das Stundenhotel “Bel Amie”. Mike parkt jetzt den grauen Bus, klappt die Laderampe aus, er stemmt sich gegen den Rollstuhl, während Christian langsam herunterrollt. Es ist dasselbe Stundenhotel, in das er immer fährt, mittlerweile sei er schon Stammkunde. Innen sieht es aus wie man sich einen Fetischclub vorstellt: samtrotes Himmelbett, prunkvolles Mobiliar, schalldichte Polstertüren. Irgendwo stöhnt eine Frau. Christian fährt vorbei an einem Zimmer mit Gynäkologenstuhl, “unterhaltsames Spielzeug”, und einem Bett, das aussieht wie eine Folterbank: “Das hab ich auch schon gemacht!” Er sagt es so beiläufig als erzähle er von seinem letzten Nordseeurlaub. “Folter liegt doch im Auge des Betrachters.”

Im Hotelzimmer liegt nun der süßlich-verbrannte Geruch von Bienenwachs in der Luft. Lina, Christians Begleiterin, hat eine Kerze angezündet, ihr Freund Mike legt ein rotes Handtuch unter Christian. Lina setzt sich auf ihn, sie hält die Kerze nah an seinen Arm, lässt ihn die Flamme spüren, dann neigt sie die Kerze leicht. Heiße Wachsperlen tropfen auf Christians Brust. Er zieht scharf die Luft ein. “Ich könnte alles mit ihm machen“, sagt Mike. “Er kann sich ja nicht wehren.”

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Christian ist ein Switch, das heißt er kann dominant und devot sein. Als “Dom” gibt er meistens verbale Befehle

Es ist dieser Schmerz, der Christian das Leben intensiver spüren lässt. Er mag ihn, sagt er, so wie er das Spiel dahinter mag. “Bei BDSM geht es um Macht und Unterwerfung”, erklärt Mike. “Du musst die Scheu vor Christian als Mensch verlieren. Ich kann ihm weh tun. Ich kann ihn aber auch gern haben.” Er beugt sich runter zu Christian, kreist mit dem Zeigefinger über seine Nippel. Er kichert. “Ich weiß, welche Knöpfe ich drücken muss, um ihn an seine Grenzen zu bringen”, sagt Mike. In diesen Momenten sehe er Christian noch klarer als Menschen als sonst.

Mittlerweile wisse Mike, wie weit er bei Christian gehen könne. Er nimmt ein Lederpaddel, eine Art Gürtel, spannt es stramm und lässt es auf Linas Rücken peitschen. Sie schweigt. “Das Ding zieht ordentlich”, sagt Christian. Ihn könne man nicht so fest schlagen, weil er kaum Fettmasse habe. “Aber ein guter Dom passt sich da an.”

Es ist seltsam. In der Welt von BDSM führen Fesseln zu Freiheit und Vertrauen zu Kontrolle. Irgendwie paradox. Aber genau deshalb passt Christian in diese Welt: Er fragt nicht “Warum”, sondern “Warum nicht?”. Und so desillusioniert er auch den vermeintlichen Widerspruch Behinderung und BDSM – der eigentlich keiner ist.

“Es gibt zwei Möglichkeiten, wie das Ganze endet”, sagt Christian. “Entweder ersticke ich oder mein Herz hört irgendwann auf zu schlagen.”

Das Vertrauen schält sich aus langen Gesprächen, Experimenten und Fragen: Was magst du, was magst du nicht? Warum magst du es? “Dadurch lernt man einen Menschen feinfühliger kennen”, sagt Christian. Er hat vier Treffen gebraucht, bis er sich bei Mike und Lina ganz fallen lassen konnte und ihnen vertraute. Dazu gehört auch, dass Mike lernte, wie man Christians Lunge “abdrückt”, sollte sie sich verschleimen: mit beiden Händen auf den Oberkörper drücken, ähnlich wie bei einer Reanimation, während Christian ausatmet. Ohne Hilfe könnte Christian ersticken. Die Gefahr bestehe alle paar Tage und könne auch während einer Session passieren.

Für SMA Typ 2 gibt es keine Heilung. Ein neues Medikament, Spinraza, könne aber eine Verschlechterung abbremsen. Doch die Warteliste ist lang und der Eingriff bei Christian schwierig: Das Medikament muss in die Wirbelsäule gespritzt werden und der Teleskopstab in seinem Rücken blockiere den richtigen Einfallswinkel für die Injektion. “Es gibt zwei Möglichkeiten, wie das Ganze endet”, sagt Christian. “Entweder ersticke ich oder mein Herz hört irgendwann auf zu schlagen.”

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“BDSM hat nichts mit Stress zu tun, sondern mit Zeit und Vertrauen”

Wie lange Christian noch leben wird, kann kein Arzt einschätzen. Es gebe SMA-Patienten, die 50 Jahre alt werden, andere sterben mit 15. Christian weiß nur, dass er diesem Verlauf ausgeliefert ist. Und vielleicht reizt ihn deshalb das Spiel mit der Macht: Mit BDSM kann Christian selbst entscheiden, wem er sich ausgeliefert oder wen er kontrolliert. Wem er sich und seinen Körper anvertraut. Deshalb lebt und erlebt Christian sein Leben intensiver.

Wieder zu Hause drückt Christian ein paar Tasten auf seinem Bedienfeld, es piept und surrt, dann rollt er über die abgesenkte Rampe in den Garten. “Du kannst dich da auf die Liege legen”, sagt er und deutet mit dem Kinn auf die Wiese. Wieder piept es, seine Rückenlehne neigt sich nach hinten und Christian lässt die Sonne auf sein Gesicht scheinen. Irgendwo im Haus ruft seine Mutter, dass es gleich Abendbrot gibt. Er schließt die Augen. Entspannt sieht er aus.

“Macht dir das eigentlich Angst, der Tod?”, frage ich.

“Nee”, antwortet Christian. “Schauen wir mal.”

Es ist diese Einstellung, die sich durch sein Leben und Wesen zieht. Schauen wir mal. Und wenn man ihm zuhört, scheint es zu funktionieren. Irgendwann vergisst man Christians Behinderung, die Krankheit, zumindest jetzt im Moment. Dann ruft die Mutter nochmal. Jetzt gibt’s erstmal Fleischsalat.

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