Sandra Muis wuchs als einzige sehende Person in einer blinden Familie auf. Sandras Mutter und Schwester leben mit Aniridie – das heißt, ihre Augen haben keine Iris. Sandras Vater verlor wegen einer Diabetes-Erkrankung mit 18 sein Augenlicht. Sandra ist heute 31 Jahre alt und arbeitet für die niederländische Hilfsorganisation für blinde Menschen, über die sich ihre Eltern kennengelernt haben. Uns erzählt sie, wie es war, in einer blinden Familie groß zu werden.
Wenn du in einer blinden Familie aufwächst, nimmst du die Welt ganz anders wahr. Mir war bis zum Kindergarten zum Beispiel nicht bewusst, dass andere Menschen sehen können, was ich mache. Das war ein ziemlicher Schock für mich. Zu Hause konnte ich mir in der Nase bohren oder mehr Süßigkeiten nehmen als erlaubt, aber im Kindergarten fiel den Leuten das auf. Ich bekam Ärger. Ich fühlte mich plötzlich bloßgestellt.
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In der Grundschule fingen meine Mitschüler an, mich zu hänseln. Sie nannten meine Eltern nur “die Blinden”. Einmal malte ein Junge in meiner Klasse ein Bild, auf dem mein Vater gegen einen Laternenpfahl läuft. Das war richtig beschissen. Mir wurde dadurch bewusst, dass meine Eltern anders waren – und ich auch, weil ich eine andere Kindheit hatte.
In der Mittelstufe lernte ich dann, dass man während eines Gesprächs Augenkontakt halten sollte. Darauf musste mich aber auch erst jemand hinweisen. Meine Eltern haben mir beim Reden schließlich nie in die Augen geschaut.
Ich lernte außerdem, wie wichtig die äußere Erscheinung ist – und dass ich absolut kein Gespür für Mode besaß. Ich lief damals noch in Disney-Outfits rum. Meine Eltern hatte ihr Aussehen nie wirklich interessiert – Hauptsache, die Klamotten waren praktisch.
Heute machen wir uns für spezielle Anlässe alle schick, weil ich das mag.
Zu Weihnachten tragen meine Schwester und ich hübsche Kleider, meine Eltern ziehen ihre Weihnachtspullover an. Ich beschreibe dann allen, wie sie aussehen. Deswegen macht ihnen das inzwischen auch richtig Spaß.
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Es fiel mir schwer, meinen Platz in der Welt zu finden. Ich wusste einfach nicht, wie ich aussehen sollte. Zu Hause hatte mir das nie jemand vorgemacht. Deswegen gehe ich immer noch sehr kritisch mit meinem Äußeren um – und habe immer mit meiner Identität gehadert.
Früher habe ich mich für meine Mutter geschämt. Sie verließ das Haus nur mit Gehstock, hatte die Haare kurz geschnitten und trug immer eine Mütze. Manchmal sah sie dabei etwas merkwürdig aus. Sie war immer auf meine Hilfe angewiesen. Mit der Zeit hat sie aber anfangen, sich mit ihrem Erscheinungsbild mehr Mühe zu geben. Heute sagt sie, dass sie das sogar gerne tut. Ich hingegen habe immer noch meine Schwierigkeiten, wenn es darum geht, was ich anziehen und wie ich mich präsentieren soll.
Seitdem ich laufen kann, sind meine Eltern immer mal wieder auf mich angewiesen. Ein Beispiel: Wenn mich meine Mutter von der Schule abholte, musste ich ihre Hand halten – nicht nur, weil sie mich nicht verlieren wollte, sondern auch, damit wir die Straße sicher entlanggehen konnten.
Früher hatte ich Schuldgefühle, weil ich als einzige in meiner Familie sehen kann. Egal, ob zu Hause mit meinen Eltern und meiner Schwester oder draußen unter Leuten: Ich fühlte mich immer als Außenseiterin.
Weil ich sehen konnte, hatte ich immer mehr Verantwortung. Vor dem Schlafengehen musste ich die Klamotten meiner Eltern und meiner Schwester auf Flecken überprüfen, damit sie am nächsten Tag nichts Schmutziges anzogen. Ich las meinen Eltern die Post laut vor, half meiner Mutter beim Einkaufen und der Einkaufsliste. Und wenn meine Eltern von ihren Freunden unterstützt wurden, hatte ich immer das Gefühl, mich dann um meine Schwester kümmern zu müssen.
Was ich in meiner Kindheit und Jugend aber definitiv vermisste, war ein Auto – die Familien meiner Freundinnen hatten alle eins. Stattdessen waren wir auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. So hat alles immer viel länger gedauert.
Mit 18 beschloss ich, dass es für mich Zeit war auszuziehen. Ich hatte mich immer um meine Eltern und meine Schwester gekümmert. Jetzt musste für mich selbst herauszufinden, was ich mit meinem Leben anfangen soll.
Aber ich helfe ihnen immer noch, besuche sie etwa zweimal im Monat. Manchmal hocken sie dann alle im Dunkeln. Natürlich brauchen sie nicht wirklich Licht, also mache ich es auch immer aus, wenn ich da bin und vor ihnen ins Bett gehe. Aber es ist schon sehr komisch, das mit anzusehen.
Im Großen und Ganzen hatte ich eine glückliche Kindheit. Meine Mutter hat immer versucht, ihre Probleme selbst zu lösen und mich so wenig wie möglich zu belasten. Ich habe viele Bilder und Videoaufnahmen von den ganzen schönen Sachen, die wir zusammen gemacht haben. Natürlich musste ich die Kameras immer selbst aufbauen und einstellen, aber ich weiß, wie gerne meine Familie sich die Tonspur der Videos anhört. Meine Mutter macht immer noch viele Fotos und bewahrt sie alle in einem großen Ordner auf. Manchmal setze ich mich neben sie und beschreibe ihr die Bilder. So kann sie die ganzen schönen Erinnerungen wertschätzen, ohne sie zu sehen.
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