Ponichala: Die Siedlung, in die Georgien Blinde steckte


Die beiden größten Wohngebäude der Siedlung ragen über die Tannen, von denen sie umgeben sind hinweg. Der schmale Fußgängerweg, der durch das Bild führt, zeigt den Standort der ehe­maligen Mauer.

Aus der The Holy Cow Issue

Abseits von Tiflis, der lauten und schnelllebigen Hauptstadt Georgiens, liegt am östlichen Rande eine einst von Mauern umschlossene, ehemalige Siedlung für blinde Menschen: Ponichala.

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Mittlerweile heruntergewirtschaftet und seit dem Untergang der Sowjetunion in einem sich stetig verschlechternden Zustand erzählt der Ort, der einst dem größten Teil der blinden und sehbehinderten Menschen des Landes ein zu Hause bot, viel über das Georgien zu Zeiten der UdSSR.

In den 1930er Jahren errichtete die Regierung unter der Führung der SSR und mithilfe der schon damals bestehenden Blinden Gesellschaft an einem Ort, der zu dieser Zeit noch nicht Teil von Tiflis war, die ersten Wohngebäude in Form von Heimen. Bis in die späten 1980er Jahre wurde die Siedlung um sieben weitere Wohngebäude erweitert—von zwei neunstöckigen Gebäuden, über fünfstöckige bis zu Häusern mit zwei Etagen.

Die SSR überzeugte die Blinde Gesellschaft davon, dass sie den Menschen dort, außerhalb der Stadt, ein gemeinsames Leben unter Gleichgesinnten bieten wollten. Der Hintergrund sei allerdings ein anderer gewesen: In Georgien sowie auch in vielen anderen Teilen der ehemaligen Sowjetunion galt es, ein großes utopisches Experiment an der Gesellschaft durchzuführen. Sie sollte radikal und zu ihrem Besseren verändert werden. Also begann man, die blinde Bevölkerung umzusiedeln, um das Gesicht einer gleichen, guten und gesunden Gesellschaft der UdSSR zu wahren. Diese Absicht zählt heute als eine der möglichen Erklärungen für die Umschließung der Siedlung mit Mauern.


Mariam (Mari) Kapanadze (26) hofft, dass ihr ehrenamtliches Engagement in einem Chor für blinde Frauen sie ein Stück weit unabhängiger macht. Außerdem kann sie dadurch ein wenig ihrem Alltag entkommen.

Die Bevölkerung von Ponichala wuchs schnell auf mehrere Hundert Menschen an, was der Infrastruktur der damaligen Siedlung sehr zugute kam. Wo vorher zu viele Menschen auf zu engem Raum in Wohnheinem hausen mussten, schufen mehrere Wohnhäuser in Form von Sowjetblocks Abhilfe.

In den späten 30er Jahren wuchs auch die Anzahl der Arbeitsstätten, in denen Verbrauchsgüter, Werkzeuge, Möbel, Fahrzeugteile und andere Dinge hergestellt wurden, stark an. Berichten der letzten, heute noch dort lebenden Generation der Arbeiter zufolge, wurde hier auch für das sowjetische Militär produziert.

Zu dieser Zeit wurde Ponichala schon als Ghetto bzw. als Arbeitsghetto deklariert.Weitere Umsiedlungen aus den großen Städten und ländlichen Regionen während der jahrzehntelangen Sowjet-Ära führten zu einem stetigen Bevölkerungswachstum.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion zerbrach auch die Infrastruktur Ponichalas. Die Fabriken und Häuser wurden verkauft und die Menschen entlassen. Einige hatten genügend Ersparnisse, um ihre Mietwohnungen zu kaufen, andere versuchen seitdem genug für die Mieten aufzubringen, wiederum anderen wurden die Mietwohnung nach der Schließung und Umstrukturierung des Ghettos zugesprochen, und so wurden sie zu Eigentum.


Sauri Pabuashvilis (76) Esszimmer ist mit klassischem Mobiliar aus der sowjetischen Zeit eingerichtet. Hinter dem Esstisch zieren religiöse Ikonen gemischt mit Familienfotos die Vitrine.

Aus der Siedlung wurde zudem ein ganz neuer Stadtbezirk. Die Grundfläche Ponichalas wurde von der Regierung vergrößert und neue Hochhäuser im Sowjet-Stil wurden errichtet. Sehende und Blinde trafen aufeinander und es zog immer mehr Sehende an. Über 20 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion ist Ponichala heute zweigeteilt in Upper Ponichala und Lower Ponichala. Im Ersteren leben ausschließlich die seit den 1990er Jahren zugezogenen, die den damals neuen Bezirk für sich entdeckt haben, und in Lower Ponichala befinden sich die Überbleibsel des ehemaligen Arbeiterghettos. Der größte Hinweis auf das vergangene Leben dort ist die heutige Bevölkerung in der Siedlung. Es ist die Folgegeneration der damaligen blinden Arbeiter, welche neben ihren Tätigkeiten in dem Ghetto natürlich Familien gründeten und zum Großteil ebenfalls blinde oder stark sehbehinderte Kinder bekamen.

Die meisten von ihnen leben heutzutage in Armut. Für viele ist die einzige Erwerbsquelle das Betteln in einer der zahlreichen U-Bahnstationen der Stadt. Neben einer Sozialhilfe oder Rente, welche jeweils um die 70 Euro beträgt, versuchen die Menschen so ihre Familien zu versorgen.

Viele der Älteren sehnen sich nach dem Sozialismus. Heute ist es vielen egal, dass sie damals quasi ein- bzw. weggesperrt waren. Sie hatten Arbeit, Geld und der Staat kümmerte sich damals um die Instandhaltung der Straßen, Wohnhäuser und um die Infrastruktur. Aktuell gibt es keine staatliche Unterstützung für Ponichala oder andere Einrichtungen für Menschen mit Behinderung.

Vieles liegt heute brach, die Gebäude sind marode und wenig bis gar nicht gepflegt. Es scheint alles über die Zeit in sich zusammenzufallen, wie die UdSSR vor 25 Jahren. Trotzdem bleiben die heute rund 250 registrierten blinden Bewohner in Ponichalat.

Das liegt vor allem an der Sorge, in anderen Bezirken in ähnlichen bis schlechteren Verhältnissen leben zu müssen, aber auch am hektischen Leben im Zentrum, sowie an der Aufgabe des letzten Stücks Unabhängigkeit. In der kleinen Siedlung können sie sich mehr oder weniger frei und gefahrlos bewegen und pflegen ein Miteinander, das die meisten nicht mehr aufgeben wollen.


Vorderansicht eines der beiden neunstöcki­gen Wohnhäuser.


Nino verbringt viel Zeit bei ihrem Onkel Dawid. Sie bringt ihr Spielzeug mit, um sich zu beschäftigen, oder versucht ihrem blinden Onkel zu helfen, so gut sie kann. Ganz kann sie es noch nicht verstehen, dass ihr Dawid sie nicht sehen kann, und es wird langsam deutlich, dass Nino sich dadurch eingeschüchtert fühlt.


Hier wurde einst die Siedlung von der damaligen Mauer verborgen.
Heute führt ein kleiner befahrbarer Weg an den Häusern vorbei zu der größeren Schnellstraße.


Mit einer krankheitsbedingten Sehbehinderung geboren, wuchs Sofo Beroshvili (23) in einem zentralen Bezirk Tiflis auf, bevor ihre Familie nach Ponichala zog. Ihr Augenlicht verlor sie vollständig, als sie 13 Jahre alt war. Seitdem führt Sofo ein Leben in völliger Abhängigkeit. Nur ihre Schwester darf sich um sie kümmern, und so verbringen sie nahezu 24 Stunden am Tag miteinander. Man könnte fast meinen, dass sie es gern hat, wenn man sie darüber reden hört. Sofo hat eine strenge und präzise klingende Stimme, eine gerade recht unbewegliche Haltung und die einzige Regung zeigen ihre Hände, die sie ständig ineinander verschränkt und währenddessen ihre Finger knetet. Trotz ihrer Behinderung besuchte sie die reguläre Schule und ging Hobbys wie der Malerei nach. Damit fuhr sie auch nach ihrer vollständigen Erblindung weiter fort. Sofo lebt sehr strikt getrennt von der blinden Gemeinde und versucht den Kontakt zu dem Großteil der Siedlungsbewohner zu vermeiden, da sie sich selbst als “nicht dazugehörig” fühlt. Außerdem hat sie weder Blindenschule noch eine andere Art der Lehre für Blinde absolviert. Sie weigert sich auch, einen Blindenstock zu benutzen. Sie sagt: “Ich bin für mich nicht blind. Ich fühle mich nicht so und ich will auch nicht so gesehen werden. Deswegen pflege ich keinen Kontakt zu anderen Blinden.”


Dawid (Dato) Kriviliani (35) wurde in einem kleinen Dorf östlich der Hauptstadt Tiflis—noch sehend—geboren. Auf und ab wankend und mit hastiger Stimme erzählt er von seiner Kindheit und dass er im Nachhinein sehr froh darüber ist, die Welt gesehen zu haben, um sich daran erinnern zu können, bevor er durch einen Unfall als Achtjähriger sein Augenlicht verlor. Ohne ins Detail zu gehen, erzählt er von seiner Arbeit in dem Kulturzentrum Ponichalas. Neben seiner Arbeit ist er im Rahmen seiner Möglichkeiten, äußerst aktiv, Bedingung ist jedoch, dass ihn eine Person begleiten kann. Eins seiner Hobbys ist Bergsteigen. Euphorisch erzählt er, dass er als einziger blinder Bergsteiger den Berg Schchara (5.200 Meter) erklommen hat. Durch eine spezielle russische Smartphone-App, werden ihm Nachrichten vorgelesen. Er nimmt sich einen Moment und hört eine SMS an, die von einer unglaublich schnell sprechenden Stimme vorgetragen wird.


Dieser Schrein befindet sich in der Wohnung von Mariam Kiriakovi, die in der Wohnung ihrer Eltern lebt, die früher als Arbeitskräfte in den Werkstätten von Ponichala tätig waren. Die georgisch-orthodoxe Religion ist für viele Menschen im Land der zentrale Ankerpunkt, was die Präsenz dieser Schreine in den meisten Wohnungen erklärt.


Das klamme, kalte und schmale Zimmer erinnert an einen verlassenen Wohnraum. Jedoch ist es das Schlafzimmer von Niko Golashvili, seinen beiden Töchtern und seiner Frau. Schon in den 1980er Jahren, als Niko noch in den Fabriken tätig war, lebten sie in derselben Wohnung.