In der Geschichte zu kramen, um die Gegenwart zu erklären, ist immer ein bisschen riskant. Denn die Versuchung ist groß, sich eine Erklärung aus der Vergangenheit zurechtzulegen, wenn die Gegenwart gerade nicht so funktioniert, wie sie soll—wie zum Beispiel in der aktuellen Krise in Griechenland.
Seit Anfang der Krise gibt es immer wieder Stimmen, die den Beitritt Griechenlands zur EU schon 1981 für verfrüht hielten—vor allem aus wirtschaftlichen Gründen. In der Welt hat der Redakteur Berthold Seewald am Donnerstag allerdings einen ganz neuen Interpretationsansatz vorgestellt: Die Griechen hätten uns nämlich nicht nur veräppelt, was ihre finanzielle Solvenz angeht—sie seien auch genetisch gar keine echten Griechen mehr!
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Aber von Anfang an: In dem Text, der kämpferisch „Griechenland zerstörte schon einmal Europas Ordnung” heißt, erklärt der Autor die Geschichte der Seeschlacht von Navarino. Am 20. Oktober 1827 zerstörten englische, französische und russische Schlachtschiffe die osmanische Flotte und verhalfen damit dem griechischen Freiheitskampf gegen die Herrschaft des Sultans zum Durchbruch.
Die drei Mächte taten das eigentlich gegen ihre Überzeugung (Völker sollten sich nicht gegen ihre Monarchen erheben), aus reiner Romantik—weil die klassisch gebildeten Westeuropäer die Nachkommen von Homer, Sokrates und Perikles nicht weiter von Türken unterdrücken lassen wollten. So weit, so informativ. Ganz am Ende des Textes erklärt der Autor aber, dass die ganze Aktion in jedem Fall aus den falschen Gründen passiert ist, denn:
„Die Vorstellung, dass es sich bei den Griechen der Neuzeit um Nachfahren eines Perikles oder Sokrates handeln würde und nicht um eine türkisch überformte Mischung aus Slawen, Byzantinern und Albanern, wurde für das gebildete Europa zu einem Glaubenssatz. Dem konnten sich auch die Architekten der EU nicht entziehen. In seinem Sinne holten sie das schon 1980 klamme Griechenland ins europäische Boot. Die Folgen sind täglich zu bestaunen.”
Berthold! Was ist denn da los? Das interessante an der ganzen Aussage ist, dass an ihr bis ganz zum Ende eigentlich nichts auszusetzen ist. Der Autor beschreibt im Grunde nur die romantischen Vorstellungen der Westeuropäer von „den Griechen” und kontrastiert sie mit der Realität.
Tatsächlich kehrten sehr viele West-Europäer vor allem im 19. Jahrhundert bitter enttäuscht von ihrer ersten Griechenland-Reise zurück. Die Griechen, die sie sich dank ihrer klassischen Bildung als stolze und starke Helden (ziemlich genau wie Brad Bitt in Troy) vorgestellt hatten, sahen in der Realität deutlich schwarzhaariger, dunkelhäutiger und krummnasiger aus. Noch 1906 beschwerte sich Virginia Woolf bitter darüber, dass keiner der Griechen mehr ihr richtiges Griechisch verstand—die zweitausend Jahre alte Sprache, die sie aus einem antiken Buch gelernt hatte.
Dagegen wurden schnell zwei Abwehrmechanismen entwickelt: Die eine Gruppe ignorierte die Gegebenheiten einfach komplett. Ein paar Leute hingegen entwickelten schnell die Theorie, dass die „echten” Griechen während des ganzen Mittelalters durch sukzessive Einwanderung von vor allem Slawen und Türken „überfremdet” wurden und dadurch schließlich ganz verschwanden.
Beide Gruppen waren sich jedoch einig, dass nur die Griechen aus Perikles Zeit wirklich gute Griechen waren. Alles, was danach kam, war Mist—vor allem das byzantinische Reich. Dabei ignorierte man geflissentlich, dass das byzantinische Reich (das sich selbst als das oströmische Reich bezeichnete) seit seiner Gründung bis zur Eroberung Konstantinopels durch die Türken 1453 über tausend Jahre überdauert hatte. Über hunderte von Jahren war die byzantinische Kultur allen anderen überlegen—und ganz besonders allem, was in Westeuropa vor sich ging. Im sechsten Jahrhundert baute man in Konstantinopel Paläste, aus der gleichen Zeit findet man in Westeuropa fast kein einziges Haus mit festem Boden. In England hat man nach dem Abzug der Römer sogar über dreihundert Jahre vergessen, wie man Töpferscheiben benutzt, während die Byzantiner Seide herstellen konnten.
Aber zurück zu Seewald: Wenn er die griechische Bevölkerung also als „türkisch überformte Mischung aus Slawen, Byzantinern und Albanern” beschreibt, dann hat er damit vielleicht sogar Recht—da müsste man einen Genforscher fragen, falls es einen interessiert. Was die ganze Passage aber so eigenartig macht, ist der letzte Satz: „Die Folgen sind täglich zu bestaunen.”
Was soll man daraus schließen? Offensichtlich, dass der Autor die gegenwärtigen Probleme Griechenlands (und folglich der EU) darauf zurückführt, dass die Griechen die falschen Gene haben. Diesen Satz kann man eigentlich nicht anders lesen als: Wer ein so verpanschtes Volk in seine Währungsunion reinlässt, der muss sich ja nicht wundern, wenn’s schiefgeht!
Das ist, vorsichtig formuliert, eine sehr eigenartige These. Gehören die Griechen also gar nicht in die EU, weil sie nicht rassisch „rein” sind? Müsste jeder Grieche erstmal ein trojanisches Pferd zimmern, um seine Verbindung zu den homerischen Ahnen nachzuweisen? Und seit wann dürfen Slawen nicht in die EU? Wie rassisch rein sind denn die westeuropäischen Länder? Und vor allem: Haben wir diese Rassen-Diskussion nicht schon eine Weile hinter uns gelassen?
Vielleicht würde es dem geschichtsbegeisterten Seewald helfen, sich noch mal ein paar grundlegende Fakten ins Gedächtnis zu rufen: Alles, was wir an Zivilisation haben, ist im östlichen Mittelmeer entstanden (inklusive des Christentums, Berthold!). Dann haben wir alles wieder vergessen, so dass griechische Gelehrte am Anfang der Neuzeit noch einmal zurückkommen mussten, um uns das ganze Zeug noch einmal mitzubringen—und so die Renaissance auszulösen.
Die Westeuropäer haben das neu gelernte Wissen dann genutzt, um die moderne Demokratie, den Kapitalismus, Schießpulver und den Nationalstaat zu erfinden, die halbe Welt mit Gewalt als Kolonien zu unterjochen und sich schließlich in zwei (2!) monströsen Weltkriegen so gründlich gegenseitig zu zerfleischen, dass am Ende die USA Europa wieder aufbauen mussten.
Es ist nicht alles schlecht, was die Westeuropäer sich in den 500 Jahren ihrer Vorherrschaft ausgedacht haben. Aber anzudeuten, die Griechen wären einfach irgendwie zu „türkisch überbaut” für die EU—sie hätten mit ihrer rassischen Reinheit also auch jeden Anspruch auf EU-Mitgliedschaft verspielt—das ist schon eine interessante Lesart der europäischen Geschichte.
Aber vielleicht ist der Autor auch einfach nur neidisch, weil die Griechen im Gegensatz zu seinen Vorfahren tatsächlich mal ein tausendjähriges Reich hinbekommen haben.