Fehlende Leitplanken; Schluchten, die 800 Meter nach unten gehen; unbefestigte Abschnitte und ein mehr als drei Kilometer langer Anstieg. Das alles macht die Verbindungsstraße zwischen der bolivianischen Großstadt La Paz und dem Regenwaldgebiet Yungas zu einer der gefährlichsten Strecken der Welt: Auf der “Camino de la Muerte” – der “Todesstraße” – sind bis zur Eröffnung einer sichereren Route im Jahr 2007 jährlich zwischen 200 und 300 Menschen ums Leben gekommen.
Gerade aber weil er so gefährlich ist, hat sich der Yungas-Pass zu einem beliebten Ziel für abenteuerlustige Mountainbiker entwickelt. Auch mir schoss beim Gedanken daran, die gefährlichste Straße der Welt hinunter zu radeln, direkt das Adrenalin durch den Körper. Bei meinem Trip durch Bolivien habe ich die Strecke zwischen La Paz und Yungas dann bezwungen. Meine Erfahrungen mit platzenden Reifen, missmutigen Anwohnern und schwindelerregenden Felsabhängen habe ich in einer Art Tagebuch festgehalten.
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8:00 Uhr
Alles beginnt, als ein kleiner Transporter vor meinem Hotel hält. Die vier Passagiere wirken alle noch recht verschlafen. Wir begrüßen uns und fahren zu einer kleinen Werkstatt, dort sehen wir zum ersten Mal unsere Fahrräder. Schließlich ist die Gruppe komplett: Ich werde mit zwei Argentiniern, einer Kanadierin und einem brasilianischen Pärchen unterwegs sein. Die Fahrt von La Paz bis zu unserem Startpunkt, der Passhöhe La Cumbre, dauert eineinhalb Stunden und bringt uns auf eine Höhe von 4.670 Metern.
9:30 Uhr
Umgeben von einer grau-braunen, felsigen Berglandschaft, richten wir ein letztes Mal unsere Klamotten und das Equipment. Wir machen Witze, versuchen damit aber in Wahrheit bloß zu verbergen, wie nervös wir wegen der vor uns liegenden Herausforderung sind. Drei Tourguides unterstützen uns während der Tour – zwei davon ebenfalls auf Mountainbikes, einer in einem Begleitfahrzeug. Sie geben uns zuerst einige Sicherheitshinweise, führen uns in die bolivianischen Verkehrsregeln ein und erinnern uns daran, dass wir hier nicht zum Wettrennen gegeneinander antreten.
Wir alle tragen mehrere Schichten Klamotten – derer wir uns im Laufe der Strecke aber nach und nach entledigen werden. Insgesamt geht die Fahrt gut 3.500 Höhenmeter nach unten. Bevor wir starten, bekreuzigen sich unsere beiden Guides auf den Fahrrädern. Genau in diesem Moment wird mir erst richtig klar, wie schwierig unser Vorhaben ist. Der erste Abschnitt der Strecke führt zwar über eine moderne, geteerte Straße und dauert nur eine Stunde, aber bereits in den ersten Kurven weisen Kreuze darauf hin, dass hier zwei Menschen gestorben sind. Solche Gedenkkreuze werden uns auf unserem Weg noch mehrmals begegnen. Manchmal lassen sie lassen die Route fast wie einen Friedhof wirken.
Schnell bilden sich zwei Grüppchen: Die beiden Argentinier und ich fahren vorneweg, ein paar Meter hinter uns folgen die Kanadierin und das brasilianische Pärchen. Wir sind ziemlich schnell und überholen sogar eine andere Biker-Gruppe, die eine halbe Stunde vor uns losgefahren ist. Ich schieße den Pass mit einer Geschwindigkeit entlang, bei der ich fast nicht mehr über so viel Kontrolle verfüge, wie ich mir eigentlich wünsche. Ich will aber auch nicht den Anschluss verlieren.
10:30 Uhr
Der erste Abschnitt ist geschafft, in der kleinen Ortschaft Unduavi machen wir eine kurze Pause. Hier fängt die felsige Landschaft der Anden an, in eine üppige tropische Vegetation überzugehen. Ein großes Plakat verkündet, dass wir uns ab jetzt auf der tatsächlichen Camino de la Muerte befinden. Vor uns tun sich grün bewachsene, weite Täler auf, durch die sich eine ockerfarbene Straße in Richtung Horizont schlängelt.
Die Straße, die hier auf einer Höhe von knapp 3.600 Metern beginnt, hat mit dem Abschnitt, den wir zuvor bewältigt haben, nichts mehr gemeinsam: Sie ist teilweise sehr schmal (an manchen Stellen keine vier Meter breit), steinig, unbefestigt – und es gibt keine Leitplanken zum Schutz vor den bis zu 800 Meter tiefen Abgründen. Außerdem muss man mehrmals durchs Wasser nahe gelegener Bäche fahren. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, herrscht Linksverkehr. Das soll helfen, auf den zweispurigen Teilen der Strecke die Steilhänge besser einschätzen zu können.
Inzwischen ist niemanden in unserer Gruppe mehr zum Lachen zumute. Und ich frage mich, ob es wirklich eine so gute Idee ist, auf der Straße mit der weltweit höchsten Todesrate Fahrrad zu fahren. Ich murmle schnell ein Stoßgebet vor mich hin.
Bevor wir wieder in die Pedale treten, geben uns die Guides neue Anweisungen: “Vergesst nie, dass ihr dort hinfahrt, wo eure Augen hinschauen. Bewundert also bitte nicht die Landschaft”, sagen sie. “Das ist nicht einfach, aber ihr müsst euch auf den Weg konzentrieren. Das ist jetzt kein Spiel mehr.” Bei diesen Worten muss ich direkt an die Sage von Orpheus denken, dem der Weg aus der Hölle nur unter einer Bedingung gewährt wurde: Er durfte sich nicht umdrehen. Natürlich hat er genau das gemacht.
Einer unserer Guides erklärt uns außerdem, dass viele Bolivianer den Yungas-Pass nicht mögen, weil er vor allem unvorsichtige Touristen anzieht. Hier gebe es zu viele Todesfälle und zu viele Tränen.
Einer unserer Guides verkündet, dass wir an der “Todeskurve” angekommen seien.
Gebaut wurde die Verbindungsstraße zwischen 1931 und 1936, während des Chacokriegs – teilweise von paraguayischen Kriegsgefangen. Seitdem sind dort jedes Jahr mehrere Menschen gestorben. Die schlimmste Katastrophe auf dem Yungas-Pass ereignete sich am 24. Juli 1983, als ein Bus von der Straße abkam und in eine Schlucht stürzte. Alle 100 Insassen kamen ums Leben. Die Tragödie ist bis heute der schlimmste Verkehrsunfall in der Geschichte Boliviens. Niemand weiß genau, wie viele Menschen auf der Verbindungsstraße insgesamt schon gestorben sind, laut Schätzungen sind es mehrere Tausende. Dieser traurige Umstand veranlasste die Interamerikanische Entwicklungsbank dazu, den Yungas-Pass 1995 zur gefährlichsten Straße der Welt zu erklären.
11:00 Uhr
Nach dem obligatorischen Gruppenfoto ist die Pause vorbei, endlich geht es weiter. Das eigentliche Abenteuer beginnt und bei jedem Tritt in die Pedale wird mir etwas schwindelig. Obwohl ich schon lange begeisterter Mountainbiker bin, fällt es mir schwer, mein Fahrrad unter Kontrolle zu bringen. Durch die vielen Steine auf der Strecke rattert mein Untersatz trotz weicher Federgabeln wie verrückt. Ich muss mich mit voller Kraft auf den Lenker stützen, um auf Kurs zu bleiben. Nach einigen Minuten nähern wir uns dem ersten Wasserfall. Die Guides weisen uns an, auf der rutschigen Straße besonders vorsichtig zu sein. Ein paar von uns entscheiden sich sogar dazu, ganz abzusteigen und kurz zu schieben.
Wir erreichen eine Art Plattform mit spektakulärer Aussicht auf die Dschungellandschaft mit ihren vielen Wasserfällen und ihrer unglaublichen Vegetation. Ich setze mich auf die Straßenkante, lasse meine Beine über dem Abgrund baumeln und atme erstmal tief durch. Dann geht es weiter. Nach einer Kurve sehen wir ein Schild mit der Aufschrift “A los Mártires de la Democracia”. Die Gedenktafel für die Menschen, die sich für die Demokratie geopfert haben, soll an einen schrecklichen Zwischenfall aus dem Jahr 1944 erinnern: Genau hier wurden damals fünf bolivianische Oppositionspolitiker in den Abgrund gestoßen.
Einer unserer Guides verkündet, dass wir an der “Todeskurve” angekommen seien – ein steiles 180-Grad-Nadelöhr, bei dem einem schon mal das Herz in die Hose rutschen kann. “Einer der letzten Todesfälle hat sich vor ein paar Jahren hier ereignet. Ein Italiener hat die Kurve zu schnell genommen und ist weggerutscht”, erzählt er. Und 2011 ist ein Stück weiter eine japanische Touristin einen Abhang hinuntergestürzt, als sie ihren Freund mit ihrem Handy filmte. “Sie war sofort tot”, sagt unser Guide.
Im weiteren Verlauf unserer Tour kommen uns drei Laster von örtlichen Bauern entgegen. Instinktiv fahre ich auf die Innenseite der Kurve, wo ich besser geschützt bin. Das wilde Hupen der Fahrer erinnert mich aber daran, dass ich links bleiben muss. Der resignierte Blick der Bauern lässt darauf schließen, dass sie solche Situationen hier öfter erleben.
12:00 Uhr
Plötzlich tauchen zwei Bolivianer und eine Bolivianerin vor uns auf und spannen ein dickes Seil über die Straße. Sie wirken nicht gerade freundlich. In Bolivien ist es aber wohl nichts Ungewöhnliches, dass lokale Gemeinden als Form des Protests Straßen blockieren, zumindest hatte mir das schonmal jemand erzählt. Wir würden durch “ihre” Gegend fahren, deshalb sollten wir ihnen pro Nase 50 Bolivianos [rund 6,20 Euro] zahlen. Unsere Guides sagen, dass die Anwohner so den Touristenboom für sich nutzten, wir geben ihnen das Geld. Zu unserer Überraschung stellt sich uns gut 200 Meter weiter aber schon die nächste “Straßenpatrouille” in den Weg. Dieses Mal haben sie auch ein Nagelband dabei, falls sich jemand gegen das Zahlen entscheidet und einfach so weiterfahren will.
Plötzlich höre ich einen lauten Knall. Ich blicke nach unten und sehe, dass einer meiner Reifen geplatzt ist.
13:00 Uhr
Wir machen eine weitere Trinkpause und sammeln uns kurz. Zwar sind wir alle schon recht erschöpft, aber es liegt noch ein gutes Stück vor uns. Eine alte Frau bietet uns Orangen, Wasser und Koka-Blätter an. Einer unserer Guides kauft ihr ein großes Bündel für seinen Vater ab, denn hier in der Gegend gebe es die besten Koka-Blätter in ganz Bolivien.
14:00 Uhr
Wir befinden uns inzwischen auf dem letzten Abschnitt unserer Tour. Die Landschaft hat sich erneut verändert: Wir sind nicht mehr im Dschungel, sondern umgeben von Grasflächen und nicht mehr ganz so krassen Abhängen. Die Temperatur ist jetzt auch viel höher, mehr als ein T-Shirt hat obenrum niemand mehr an.
Plötzlich höre ich einen lauten Knall, fast wie ein Schuss aus einer Schrotflinte. Ich blicke nach unten und sehe, dass einer meiner Reifen geplatzt ist. Verdammt. Ich halte an und warte auf das Begleitfahrzeug. Der Rest der Gruppe überholt mich. Um keine Zeit zu verlieren, denkt der Guide im Van gar nicht erst daran, meinen Reifen zu flicken, er gibt mir direkt ein Ersatzfahrrad.
Ich muss mich erstmal an meinen neuen fahrbaren Untersatz gewöhnen. Ich trete schwitzend in die Pedale, meine Beine schmerzen, aber ich muss mich zurück an die Spitze der Gruppe kämpfen. Laut dem Fahrer werden wir noch eine Stunde unterwegs sein und ich darf nicht als Letzter ins Ziel kommen. Obwohl wir davor gewarnt wurden, hat mich der Wettbewerbsgedanke jetzt voll gepackt.
Bald habe ich das brasilianische Pärchen und die Kanadierin wieder eingeholt. Da sehe ich, wie einer der beiden Argentinier langsamer wird und von seinem Fahrrad steigt. Auch bei ihm ist ein Reifen geplatzt. Ich fahre an ihm vorbei und winke dabei – fast ein wenig schadenfroh. Wegen der Hitze, meiner Erschöpfung und der Schmerzen in meinen Händen wünsche ich mir aber auch, dass dieses Abenteuer bald vorbei ist.
14:30 Uhr
Nach fünf Stunden voller Adrenalin und Downhill-Mountainbiken mündet der steinige Weg schließlich in eine befestigte Straße, die zur Ortschaft Yolosa 1.098 Meter über dem Meeresspiegel führt. Dort endet unsere Tour. Ich komme als Zweiter ins Ziel. Als die Gruppe nach und nach wieder vollständig ist, beglückwünschen wir uns zu unserer Leistung. Wir haben es wohlbehalten geschafft.
15:00 Uhr
Die Ankunftsparty findet in einem Hotel statt, wo uns auch ein Mittagessen serviert wird. Nachdem wir das Buffet komplett leer gegessen haben, bleibt nur noch eine Sache zu tun: Mit einem verdienten Bierchen darauf anstoßen, dass wir die berüchtigte Camino de la Muerte souverän bezwungen haben.