„Der Teufel wäre die bessere Alternative“—Carl Craig zu seiner Jugend in Detroit, der Liebe zu Kraftwerk und Google als Investor

Der Produzent und DJ Carl Craig ist die wohl bekannteste und wichtigste Figur aus Detroits Musikszene. Als Sohn und Bewohner Detroits sowie seinem in der ‚Motor City’ beheimateten Plattenlabels Planet E ist Craig wohl qualifizierter als die meisten anderen, den Zustand der Stadt richtig einzuschätzen. Ray Philip traf Carl Craig nach der Vorführung von Julien Temples Dokumentation Requiem For Detroit? auf dem Glasgow Film Festival und sprach mit ihm über Detroit und warum C2 lieber dem Teufel die Kontrolle über die Motor City überlassen würde, als einer bekannten Suchmaschine.


Foto: Promo, © Planet E

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Detroit ist eine Stadt mit verschiedenen Gesichtern. Die Heimat von Motown, die Wiege der amerikanischen Automobilindustrie und die Hochburg für elektronische Musik. Dies ist eine Fassade, die derzeit kaum noch aufrecht erhalten werden kann: Die wirtschaftliche Realität ist wie Unkraut über die letzten Überbleibsel gewuchert, die die Stadt noch aus seiner stolzen Vergangenheit vorweisen konnte. Das Einzige, was noch von ihren Einwohnern und Ortsfremden wahrgenommen wird, ist der grassierende Verfall an allen Ecken und Enden. Die glorreichen Zeiten von Motown sind lange vorbei (der Name des Unterlabels, Motown Classics, unterstreicht diesen Punkt) und das Label selbst ist inzwischen nach New York umgezogen.

General Motors und Chrysler, die großen Autohersteller der Stadt, konnten nur durch einen Multi-Milliarden-Dollar-schweren Rettungsschirm der US-Regierung ihrem sicher geglaubten Untergang entgehen. Die Motor City selbst erklärte sich im Juli 2013 mit 18 Milliarden Dollar angehäufter Schulden für bankrott und ist somit die größte Stadt der USA, die sich jemals für zahlungsunfähig befinden musste. Detroits Elend reicht aber viel weiter als diese bloßen Zahlen—etwas, das auch in Julien Temples großartiger Dokumentation Requiem For Detroit? herausgearbeitet wird.

Temple, der Filme über die Sex Pistols und das Glastonbury Festival gemacht hat, beleuchtet Detroits ökonomisches und soziales Schicksal im 20. Jahrhundert: von der Explosion der Automobilindustrie—einer Art moderner Turmbau zu Babel, der von den Arbeitern nicht hinterfragt wurde, bis es zu spät war—und der Abhängigkeit der Stadt von jener Industrie, bis zu den verheerenden Rassenunruhen von 1943 und 1967 sowie der Crack-Epidemie in den 1980ern. House und Techno sind Währungen, mit denen Detroit noch immer wuchern kann. Und die Stadt selber beherbergt weiterhin eine eigenwillige und extrem passionierte Szene elektronischer Musik.

THUMP: Der Film beschreibt die Geschichte von Detroit sehr ausführlich, ungefähr bis zu der Zeit, in der du dort aufgewachsen bist. Kannst du beschreiben, wie es war, im Detroit der 80er und 90er groß zu werden?
Carl Craig: Es gab einen tiefen Graben zwischen Jung und Alt, und eine Idee davon, was Detroit war und was Detroit damals schon nicht mehr war. Der landesweite Trend waren Drive-by-Shootings und Crack, und in Detroit sah es in etwa so aus, wie es damals in den Filmen dargestellt wurde … wie diese Geschichten über Compton oder andere amerikanische Brennpunkte. Grassierender urbaner Verfall, der Tod einer Stadt, einer ganzen Region, wie auch immer …

Bei uns gab es eine Heroingang mit dem Namen YBI—Young Boys Incorporated—, das war damals das große Ding in Detroit. Die sind dann wahrscheinlich auch beim Verkaufen auf Crack umgestiegen. Das war natürlich nichts, was nur Detroit betraf Aber es berührte auch meine Nachbarschaft, natürlich machten sich meine Eltern deswegen Sorgen. Ich hätte da viel tiefer reingeraten können, wenn meine Eltern nicht so übervorsichtig gewesen wären. Aber es gab auch den Bildungsaspekt. Vieles von dem, was wir in Temples Film sehen—vor allem, was die Anfangstage von Ford angeht [als der Arbeitslohn auf 5 Dollar pro Tag angehoben wurde], dreht sich um die Gewerkschaften. Sie kümmerten sich um ihre Angestellten, aber leider wurde die Bildung nicht sehr stark berücksichtigt. Was du dann sehen konntest und was auch die Menschen von Goodwill [Industries, einem Sozialprogramm für Bildung und Arbeit] thematisierten, war, dass die Leute nichts zu tun hatten. Sie lebten einfach in diesen Häusern, verkauften Drogen und nahmen alles auseinander—die halbe Nachbarschaft wurde zerstört, weil sie einfach nichts zu tun hatten.

Thump Interview Carl Craig Foto Still Requiem For Detroit


Still: Requiem For Detroit, © Films of Record / Ten Alps / BBC

Das hat viel mit dem Bildungsgrad der Menschen zu tun. Es konnte sein, dass du wirklich gute Eltern hattest, die arbeiten gingen und sich um dich kümmerten, aber wenn sie dann auf der Arbeit waren und du nicht beigebracht bekamst, was du tun sollst und was nicht, beginnst du, deine Handlungsmaximen aus einem Impuls zu ziehen. Du hast da etwas, das unbedingt raus will und dieser Impuls verwandelt sich leider immer in Zerstörung. Das passiert überall wenn du 16, 17 Jahre alt bist. Aber Detroit war derartig von diesem Problem betroffen, dass wir durch die Gegend liefen und diese Häuser anschauten. Wir begriffen, was um uns herum geschah, ignorierten es aber einfach. Wir versuchten uns um unseren eigenen Kram zu kümmern, damit wir nicht in Gefahr gerieten oder diese Dinge sich auf unser Leben auswirkten.

Der Film schlägt einen Neustart vor, um das zu retten, was noch von den Ruinen der Stadt übrig ist. Im letzten Jahren musste das Detroit Institute of Arts [DIA] einige der bekanntesten Kunstwerke aus seinem Bestand verkaufen—Picassos, Rembrandts, etc. Wäre es so schlimm, wenn Detroit seine Vorzeige-Wertanlagen wie das DIA verlieren würde, wenn die Stadt dadurch einen Neubeginn wagen könnte?
Wie du schon sagst, es sind Wertanlagen. Man versucht so lange an etwas festzuhalten, wie es geht. Einer von Goodwill hat gesagt, dass die Menschen damals weniger zu tun hatten, als die Kunst- und Musikprogramme von den Schulen gestrichen wurden. Wenn du all das verkaufst, nimmst du etwas Wichtiges weg und gibst den Menschen mehr Freizeit, als gut für sie ist. Es gab vorher schon Diskussionen, die Kunstwerke zu verkaufen, um das DIA zu retten. Aber jetzt geht es darum, die Kunstwerke zu verkaufen, um Detroits Schulden zu bezahlen.

Es ist schon an sich ein düsteres Szenario, aber es wird dadurch noch schlimmer gemacht, dass die Stadt bereit ist, alles zu verkaufen, was nötig ist—nur um ein paar Rechnungen zu begleichen. Sogar seine Kultur und seine Geschichte … Wir als Individuen hängen mehr an unseren Dingen. Wenn du dir etwas aus deiner Hinterlassenschaft und deinem Erbe machst, wirst du nicht den Ehering deiner Oma verkaufen, nur weil du deine Heizkosten bezahlen musst. Du wirst wirklich alles tun, einen anderen Weg zu finden.

Die Automobilindustrie ist tief in der Stadt verankert. Welchen Einfluss hatte sie auf deine Musik und dich persönlich?
Sie hatte eigentlich keinen nennenswerten Einfluss auf meine Musik. Ihr Einfluss auf mich als Person wird der gleiche sein, wie für die meisten anderen Menschen in Detroit, einfach weil sie hier so mächtig ist. Sie ist in unsere Kultur eingraviert, in unsere Psyche, in einfach alles. Du kannst dich in Detroit mit jeder beliebigen Person über das neuste Automodell von Ford oder General Motors unterhalten. Sprich nur mal kurz den 2014er Cadillac Escalade an und mit ziemlicher Sicherheit kann dir jeder auf der Straße die ganzen technischen Details zu dem Auto nennen. Wir sind, was diesen unnötigen Schwachsinn angeht, einfach so gut gebildet, weil es unser persönliches Wohlbefinden betrifft.

Thump Interview Carl Craig Foto Still Requiem For Detroit


Still: Requiem For Detroit, © Films of Record / Ten Alps / BBC

Ich habe [1995] eine Platte mit dem Titel Landcruising gemacht, in der es nur darum geht, wie ich mit dem Auto durch Detroit fahre. Es ist auch einfach die einzige Möglichkeit, sich in Detroit zu bewegen. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind sehr schlecht. Für eine gewisse Zeit war die Benutzung auch sehr gefährlich. Wir haben keine U-Bahnen, wir haben keine Straßenbahnen, es gibt in Detroit einfach kein anderes Transportmittel als Autos. Am krassesten finde ich es, wenn die Temperaturen bei uns auf -10°C oder -15°C sinken, die Straßen vereist sind und ich Menschen auf Fahrrädern sehe. Für uns sind Autos so etwas wie eine Rüstung. Sie sind nicht nur zum Angeben da, sondern sind auch einfach notwendig.

Der Film erwähnt das Packard, einen Club mit dem Richie Hawtin viel zu tun hatte. Hattest du viel mit dem Packard oder anderen Detroiter Partys, wie dem Music Institute, zu tun? Wie waren die Partys und in welcher Art unterschied sich das Music Institute damals von anderen?
Die Partys im Music Institute gab es noch vor den Partys im Packard Plant. Ich kam zum Music Institute als Zuschauer und als Musikliebhaber, kurz nachdem es ins Leben gerufen worden war. Damals spielten dort Derrick May, George Baker und Alton Miller. Das Music Institute war meine Musikschule. Es war das, was New Yorks Paradise Garage oder Chicagos Music Box bei uns am nächsten kam. Das Packard war auch ein Resultat der Schließung des Music Institutes. Sie machten ein paar Häuser nebenan auf, aber es war einfach nicht das Gleiche.

Du musst allerdings bedenken, dass das kein richtiger Club war. Du hast das Gebäude ja im Film gesehen, die Decke halb eingestürzt und so weiter—Menschen haben da mal Partys drin gefeiert! Es war nie ein eingetragener Club, aber es war auch nicht wirklich illegal, es war keine etablierte Geschichte; also nicht vergleichbar damit, wie wenn du durch die Türen vom Watergate oder dem Robert Johnson gehst. Du bist damals wirklich in eine Lagerhalle gegangen, hast ein paar Lautsprecher aufgebaut und deinen Freunden Bescheid gesagt. Manchmal hattest du hundert Leute da, manchmal waren es tausend. Es hing wirklich davon ab, aus welcher Richtung der Wind gerade wehte.

Thump Interview Carl Craig Foto Still Requiem For Detroit

Detroit war schon immer Heimat besonders talentierter House- und Techno-Produzenten: Kyle Hall, MGUN und Jay Daniel sind nur drei der Namen, die mir gerade einfallen und es gibt natürlich noch viele mehr. Ihre Musik ist sehr eigenständig und ganz anders als das, was du dir sonst unter dem klassischen ‚Detroit Sound’ vorstellst. Gibt es viel Austausch zwischen Leuten wie dir und dieser neuen Generation von Künstlern? Wie unterscheidet es sich außerdem, 2014 ein Künstler aus Detroit zu sein, verglichen mit der Situation 1994?
Was Kyle und Jay angeht, bin ich extrem stolz auf die Jungs, weil sie etwas machen, das sehr stark mit ihrer Herkunft verbunden ist. Es kommt direkt aus dieser Stadt. Sie sind sehr aufmerksam. Sie holen sich Einflüsse von ihren Vorbildern wie Omar S und Theo Parrish und vermischen sie mit der Musik, mit der sie aufgewachsen sind. Sie geben der Musik aus Detroit eine neue Textur, was meiner Meinung nach auch wirklich benötigt wird.

Als ich anfing, Musik zu machen—ich glaube meine erste Platte ist von 1989 [die No More Words EP, die letztendlich 1991 veröffentlicht wurde]—wollte ich einfach nur so schnell wie möglich raus aus Detroit! Ich wollte die Welt sehen. Ich wollte auf der Autobahn fahren! Wir standen total auf Kraftwerk und wir liebten Prince, [aber] wir wollten nicht nach Minneapolis. Wir wollten nach Deutschland und alles erleben, worum es bei Kraftwerk ging. Ich glaube nicht, dass die neue Generation die gleiche Verbindung zu diesem Aspekt hat. Kraftwerks Musik reiht sich wahrscheinlich für sie eher in die Art von Maschinenmusik ohne Texte ein, die wir machten, die uns beeinflusst hat und die wir dann beeinflussten. Dieser Kreislauf geht immer weiter und weiter und immer weiter.

Kürzlich war zu lesen, dass Google doch einfach Detroit kaufen solle. Der Theorie zufolge hätte Google die Ressourcen und das Kapital um so einen Deal über die Bühne zu bringen. Auf kurze Sicht würde es die Stadt von vielen ihrer derzeitigen Lasten befreien, aber auf lange Sicht sind die Folgen eines solchen Geschäfts natürlich schwer absehbar.
Solche Ideen faszinieren uns natürlich als eine Form von Unterhaltung, wie es halt solche Zukunftsvisionen immer tun. Uns fasziniert auch irgendwie die Idee, dass da so ein großer Konzern ankommt und die Stadt übernimmt, Cyborgs baut und diesen ganzen anderen Kram. Ein großer Teil unserer Musik war mit solchen Vorstellungen verbunden. Wir schauten in den 80ern und 90er Blade Runner und diese ganzen anderen Filme und es beeinflusste natürlich unsere Musik. Die Idee von einem Konzern, der eine ganze Stadt übernimmt, ist aber—vielleicht—nur der erste Schritt von etwas, vor dem wir große Angst haben—nämlich einem Konzern, der das ganze Land übernimmt.

Die USA werden jetzt schon von vielen Konzernen regiert. Aber stell’ dir mal vor, es wäre nur einer. Das wäre vielleicht eine tolle Sache für die Architektur, für das Aussehen der Stadt, aber in Wirklichkeit—über einen längeren Zeitraum betrachtet—wäre es so, als ob der Teufel persönlich gekommen wäre und beschlossen hätte, Detroit zu übernehmen. Der Teufel wäre wahrscheinlich sogar die bessere Alternative. [lacht] Wenigstens hätten wir dann gute Partys.

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