Seit einigen Wochen bekommt eine bestimmte, relativ kleine Gegend in Wien-Ottakring sehr viel Aufmerksamkeit. Es geht um den Bereich zwischen den Stationen Josefstädter Straße und Thaliastraße, dem Brunnenmarkt und dem Josef-Strauss-Park, der am Anfang der Kaiserstraße liegt.
Spätestens, seit sich Thomas Blimlinger, Bezirksvorsteher von Neubau, sehr medienwirksam über die „völlig inakzeptable” Situation entlang der U6 beklagt hat, ist der Ton in der öffentlichen Diskussion gesetzt. Die Gegend um die Station Thaliastraße ist Wiens neuer „Drogen-Hotspot”. Dabei ging es auch immer um die Situation der Anrainer, die das nicht mehr lange mitmachen würden.
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Ich bin einer dieser Anrainer. Ich wohne seit über sechs Jahren in der Gegend, seit zwei Jahren auch wieder direkt in einer der Gürtel-Nebenstraßen in Ottakring. Ich habe verfolgt, wie sich die Situation im letzten Jahr verändert hat. Und ich glaube, es ist notwendig, dazu mal ein paar Dinge loszuwerden.
Der Drogenhandel in Ottakring hat in der Tat merklich zugenommen. Er ist sichtbarer, weil die Dealer mittlerweile in Gruppen an den Ecken stehen und sich am Markt selbst eher vor als hinter den Marktständen herumdrücken. Tagsüber stehen sie meist in den Nebenstraßen der Brunnengasse und auch die Hippgasse runter bis zur Lugner City. Nach Einbruch der Dunkelheit wandern sie an den Brunnenmarkt und den Gürtel. Vor einem Jahr waren auf meiner Straße noch keine Cornerboys, jetzt sind dort immer zwischen 5 und 10 von ihnen. Die Polizei ist ständig mit uniformierten und zivilen Beamten (die man daran erkennt, dass sie gekleidet sind wie in einer 90er-Jahre-Rave-Doku) in der Gegend unterwegs. An mangelnder Präsenz der Ordnungshüter liegt es nicht.
Der quantitative Anstieg wird von allen Stellen bestätigt. „Die LPD Wien stellt seit zirka Mitte 2015 einen deutlichen Trend des Anstiegs ,offener Drogenhandel in Wien’ (Straßenhandel) fest”, sagt LPDW-Pressesprecher Paul Eidenberger. Dafür gibt es auch Zahlen. Trotzdem muss man immer ein bisschen vorsichtig sein: Dass Drogendelikte bei der Polizei gerne für Pressemeldungen benutzt werden, ist kein Geheimnis—dazu gab es letztes Jahr auch eine große Geschichte des Recherchekollektivs Correktiv.
Die Aufklärungsquote liegt bei nahezu 100 Prozent, weil Anzeigen nur eingebracht werden, wenn jemand mit Drogen aufgegriffen wird. Demtsprechend haben auch die Fotos von Gras auf dem Twitter-Account der Polizei Wien zugenommen. Aber auch Quellen, die der Law-and-Order-Politik eher unverdächtigt sind, wie die Sucht- und Drogenkoordination Wien, deren Sozialarbeiter entlang der U6 unterwegs sind, bestätigen die Wahrnehmung.
Ottakring und der Brunnenmarkt sind Verkaufs- und keine Konsumzonen.
Man muss aber auch etwas anderes ganz klar sagen: Ottakring ist weit, weit davon entfernt, eine Drogenhölle zu sein. Erstens sind die Cornerboys durchwegs sehr freundlich, höflich und auch nicht besonders aufdringlich. Sie verkaufen vor allem Cannabis und gelegentlich Partydrogen. Das ist wichtig, weil man verstehen muss, dass mit den Dealern nicht das Heroin samt Szene nach Ottakring gewandert ist.
Der Brunnenmarkt ist eher Verkaufs- und keine Konsumzone. Vergleichbar eher mit der Gegend um das Flex, nicht mit dem Praterstern oder dem alten Karlsplatz. Laut Michael Dressel, Koordinator für Sucht- und Drogenfragen der Stadt Wien, hat das auch wenig mit der seit längerem bestehenden Szene an der Josefstädter Straße zu tun: „Wir sehen hier keine Verbindung. Die Anzahl an suchtkranken Menschen, die sich im öffentlichen Raum aufhalten, ist seit längerem stabil. Bei den Suchtkranken im öffentlichen Raum handelt es sich mehrheitlich um alkoholkranke Menschen, die keine oder nur sehr selten illegale Substanzen konsumieren.”
Dann stellt sich aber die Frage: Warum gibt es den Anstieg dann? Dass sich der an Anteil an Cannabiskonsumenten in Ottakring innerhalb von Monaten sprunghaft gesteigert hat, ist eher unrealistisch. Eine nachfragegesteuerte Sache ist das also nicht. Welche Gründe könnte es dann geben?
Fragt man beim 16. Bezirk nach, dessen Vorsteher Franz Prokop entgegen seinem Kollegen aus Neubau bei dem Thema bislang eher zurückhaltend war, erhält man die Antwort, dass man die Situation selbstverständlich im Auge habe. Vor einigen Wochen habe es ein Gespräch mit Vertretern des Innenministeriums, Justizministeriums und der Polizei gegeben, heißt es aus der Bezirksvorstehung. Daraufhin habe man kleinere Wünsche der Polizei—mehr Beleuchtung an bestimmten Punkten des Brunnenmarkts, Entfernung von Büschen am Gürtel—umgesetzt. Das Problem könne aber nicht auf Bezirksebene gelöst werden, sondern sei Sache der Gesetzgebung.
Auch alle anderen Stellen, die man fragt, haben die Neufassung des §70 StGB in Verdacht, die mit 1. Jänner des Jahres in Kraft trat. Der Paragraph regelt nicht Drogenhandel an sich, liefert aber die Definition für die „gewerbsmäßige Begehung” von Straftaten. Seither geht man im Normalfall erst von einer Gewerbsmäßigkeit aus, wenn man einen Dealer zum dritten Mal erwischt oder mit mehr als 400 Euro aufgreift.
„Das hat sich auch im Milieu herumgesprochen”, sagt Eidenberger. „Während früher viele Ersttäter nach der ersten Festnahme freiwillig aus dem Suchtmittel-Handel ausgetreten sind, ist das nun nicht mehr in dem Ausmaß der Fall.” Seit der Neudefinition landen viele Straßendealer nicht mehr in Untersuchungshaft. Die Gesetzesänderungen erschweren die Verfolgung, hatten aber durchaus ihre Gründe: Die „Gewerbsmäßigkeit” erhöht bei zahllosen Delikten automatisch die Mindest- und Höchstrafe. Es war beabsichtigt, nicht mehr jede Person, die mit zwei Päckchen Gras und sechs 10-Euro-Scheinen aufgegriffen wird, automatisch zu einer Haftstrafe zu verurteilen.
Man kann das Thema nicht besprechen, ohne über Rassismus zu reden.
Die Gesetzesänderungen erklären zumindest das zunehmende Selbstbewusstsein der Händler. „Die offensive und ungenierte Weise, in der derzeit gehandelt wird, und die Tatsache, dass die Händler in Gruppen auftreten, sind neue Phänomene”, sagt auch Dressel. In der Tat werden die Gruppen seit einigen Wochen größer. An der Station Thaliastraße stehen sie manchmal im Pulk. Das ist noch verhältnismäßig unproblematisch, weil diese Stelle gut ausgeleuchtet und hoch frequentiert ist. Aber auch an anderen Ecken der Gegend stehen manchmal vier, fünf junge Männer, die jeden Passanten und jede Passantin mustern. Und das ist tatsächlich etwas, über das man reden muss. Das nimmt nämlich öffentlichen Raum ein und kann subjektive Bedrohungsszenarien erzeugen.
Wir müssen aber auch über etwas anderes reden. Die Hautfarbe nämlich. Ottakrings Cornerboys sind hauptsächlich schwarze Asylbewerber. Sie sind verständlicherweise eher zurückhaltend, wenn man sie fragt. Mehr als die Tatsache, dass sie aus Westafrika kommen und vor kurzem über Italien nach Österreich eingereist sind, kriegt man aus ihnen nicht raus.
Und während einem der Satz „Brauchst du Gras?” früher eher von weißen Wienern, vielleicht noch mit Ex-Jugoslawien-Hintergrund, entgegen gezischt wurde, die im Stadtbild nicht auffielen, stehen hier jetzt vorrangig Gruppen von Schwarzafrikanern herum. Ob die verstärkte Wahrnehmung des Drogenhandels auch mit dieser Tatsache zusammenhängt und welchen Anteil die eigenen rassistischen Vorurteile haben, muss sich jeder Beobachter fragen. Auch ich.
Aktuell geht die konkrete Bedrohungslage durch die Grasdealer in Ottakring wohl gegen null. Trotzdem sind viele Anrainer mit der Situation unzufrieden, das höre ich auch von meinen Nachbarn. Gefühlte Bedrohungszenarien sind schwierig, weil sie ein Dilemma offenbaren: Auf der einen Seite hat niemand das Recht darauf, dass die Realität nur weit weg von seiner Haustür stattfindet. Eine Großstadt kann keine riesige Latte-Macchiato-Zone sein, ein gewisses Maß an urbanen Unannehmlichkeiten wie alkoholkranke Obdachlose, Hundstrümmerl oder Straßenkriminalität gehört dazu. Auf der anderen Seite haben Bürger, Steuerzahlen und Einwohner natürlich trotzdem das Recht darauf, dass die Exekutive ihnen ein Gefühl der Sicherheit gibt. Den Bürgern die Furcht zu nehmen ist seit Thomas Hobbes Leviathan eine der Hauptaufgaben des Staates. Wenn er dieser nicht mehr nachkommt, ist er nutzlos.
Soll der Straßendealer härter bestraft werden als der Nobelwirt?
In der Politik ist seit den Medienberichten ein Diskussion darüber entbrannt, wie man die unbeabsichtigten Folgen der Gesetzesänderung in den Griff bekommen könnte. Wie Der Standard berichtet, gibt es dazu grob gesagt zwei Ansätze: Das Innenministerium würde gerne zur alten Definition der Gewerbsmäßigkeit zurück. Das Justizministerium hingegen will an der Definition der Gewerbsmäßigkeit nichts ändern, weil die alte Version zu unverhältnismäßig hohen Strafen geführt habe. Genauso wie die SPÖ sieht das Justizministerium eher das Suchtmittelgesetz als Ansatz. Eine Herangehensweise, die auch Drogenkoordinator Dressel unterstützt.
„Mein Vorschlag ist, den Handel mit Drogen im öffentlichen Raum als eigenen Tatbestand zu etablieren und—ähnlich wie den Verkauf an Minderjährige—entsprechend härter zu bestrafen.” Auch dieser Ansatz ist allerdings nicht unproblematisch: Es ist schwer einzusehen, warum der Nobelwirt, der seinen Gästen unterm Tresen Kokain verkauft, dafür weniger bestraft werden sollte als der Asylbewerber, der vor der U-Bahn in der Kälte steht.
Auf die Frage, warum sich der Drogenhandel genau in den Nebenstraßen in Ottakring innerhalb eines Jahres so etabliert hat, hat niemand eine zufriedenstellende Antwort. Nicht mal, wenn man den Gesprächspartnern Anonymität zusichert. Vermutlich ist es ganz einfach eine Kette von kleinen Einzelphänomenen. In der U6 ist der Drogenhandel seit längerem stark, auch nachts am Gürtel selbst. Im Zuge des verstärkten Straßenhandels—der, wie weiter oben gesagt, schon seit Monaten festgestellt wird und somit nicht allein durch die Gesetzesänderung ausgelöst worden sein kann—hat sich die Gegend offenbar herumgesprochen.
Insgesamt wäre die Situation wieder einer der Momente, um darüber zu reden, dass die Lage vor allem durch das staatliche Verbot von Cannabis unterstützt wird. Und ja, ich weiß eh: Ein Autor spricht sich im VICE für die Legalisierung von Cannabis aus—stoppt die Druckerpressen. Aber die Situation in Ottakring kennt aktuell keine Gewinner: Nicht die Politik, nicht die Anwohner, nicht die Polizei. Und langfristig wohl auch nicht die Cornerboys. Selbst wenn die Gesetze wieder geändert würden—beim Thema Cannabis stößt die staatliche Repressionspolitik offenbar an ihre Grenzen und hat einen Anteil an den Problemen, die wir jetzt diskutieren. Es wird Zeit, auch darüber wieder zu reden.
UPDATE: Offenbar haben das Justizministerium und das Innenministerium eine Einigung erzielt, wie der Kurier berichtet.
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