So viel war falsch an “All the Things She Said”. Der Track, der im Sommer 2002 vom russischen Pop-Duo t.A.T.u veröffentlicht worden war, wurde schnell zur lesbischen Euro-Dance-Hymne schlechthin. Allerdings waren Jelena Katina und Julija Wolkowain im echten Leben nicht homosexuell. Sie waren zwei offen heterosexuelle Frauen, die für einen Song und ein Video queer spielten. Und viel mehr noch: Die Band war das Produkt zwei alter Typen, die über ein Casting nach Teenagerinnen gesucht hatten, die vor der Kamera knappe Schuluniformen anziehen und miteinander rummachen, um die Verkaufszahlen zu steigern. Wäre das Video etwas später erschienen, hätten sich das Duo vielleicht auf der selben unseligen Bank wie Robin Thicke und Iggy Azalea wiedergefunden. Oder noch viel wahrscheinlicher: Die Idee hätte die Konferenzräume nie verlassen.
Aber sie wurde Wirklichkeit und “All the Things She Said” war sofort ein riesen Erfolg. Der Song hielt sich 19 Wochen in den deutschen Charts, fünf davon auf dem ersten Platz. Weltweit verkaufte sich die Single millionenfach, schaffte es in sieben Ländern auf Gold und in fünf auf Platin. Gar nicht so schlecht für ein Lied, das der russischen Texterin Jelena Kiper bei einer Zahnarzt-OP eingefallen war. Sie war bei der Narkose eingeschlafen und hatte davon geträumt, sich in eine andere Frau verliebt zu haben. Mit dem Aufschrei “Ich habe meinen Verstand verloren” sei sie wieder aufgewacht und habe sofort alles aufgeschrieben – wie ein durchgeknalltes Medium, das aus Narkoseträumen Gold macht.
Videos by VICE
Und natürlich sorgten Song und Video für einige Kontroversen. Dass das Duo für Geld auf queer machte, während echte Queere kaum Sendezeit bekamen, regte allerdings nur die wenigsten auf. Viel mehr störte man sich daran, dass zwei Mädchen in knappen Outfits miteinander rumknutschen, obwohl derartige heterozentristische Darstellungen unsere Bildschirme und Plakatwände zu diesem Zeitpunkt schon seit Jahren bevölkerten. Vor allem in Großbritannien gab es von vielen Seiten Zensurforderung. Entweder hieß es, das Video sei “auf Pädophile zugeschnitten” oder “nicht für Kinder geeignet” – und das, obwohl Britney bereits im knappen Schulmädchenoutfit durch Schulflure gehüpft war und Madonnas Karriere ihre schlüpfrigsten Zeiten schon lange hinter sich hatte.
An den harten Fakten kommt man aber einfach nicht vorbei: “All the Things She Said” ist ein unfassbar großartiger Popsong. Allein wegen seines Sounds hat er sich seinen Platz in den heiligen Hallen des Pop neben “Believe” von Cher und “Fetish” von Selena Gomez für immer verdient. Dieser langsame Aufbau und die hallenden Synth-Lines im Intro; die treibenden Industrial-Beats; die zuckersüß-weichen Vocals inmitten der düster-kratzigen Klangwände; der hochdramatische Refrain, der nur dafür gemacht ist, damit du mitschreist, bis deine Stimmbänder schmerzen. “All the Things She Said” kommt dem perfekten Clubtrack so nahe, wie es in 3:48 Minuten nur möglich ist. Wenn du wissen willst, warum der Song nach all den Jahren immer noch so gut funktioniert, dann hast du sie hiermit bekommen. Ja, so einfach ist das.
Aber es gibt weitere Gründe, warum Song und Video es dermaßen in sich haben. Heutzutage mag queere Sichtbarkeit so populär sein wie Millennial Pink, Astrologie und Starter-Pack-Memes, aber damals, in den frühen 00er Jahren, wurden unsere Lebensrealitäten lediglich von sonderbaren Soap-Opera-Handlungsbögen reflektiert, bei denen am Ende in der Regel jemand starb. Ansonsten gab es nur das popkulturelle Klischee des Schwulen, der dem Heteropublikum als das “witzigere” oder umgänglichere Pendant zur weiblichen Entsprechung präsentiert wurde. In dieser Hinsicht fanden viele von uns ihren Frieden mit allem, was auch nur halbwegs unserer persönlichen Narrative entsprach – selbst, wenn es absolut nicht authentisch, problematisch oder einfach nur Müll war (siehe auch: “I Kissed a Girl” von Katy Perry). Wer weiß, ob der Song so erfolgreich gewesen wäre, wenn er 2017 erschienen wäre. Popstars wie Halsey und Kehlani zögern heutzutage nicht, gegenderte Pronomen in ihrer Musik zu verwenden, aber damals waren solche Tracks absolute Mangelware.
t.A.T.u. waren nicht “echt”, aber ändert das irgendetwas? Oder präziser gefragt: Hat das damals irgendwas geändert? Trotz allem haben sie queeren Teenagersorgen und -wirrungen eine Stimme gegeben – und wir haben daraus eine Hymne gemacht. In dieser Hinsicht schwingt in dem Track ein Element queerer Nostalgie mit, das immer dann seinen Kopf reckt, wenn das Lied bei einer LGBTQ-Party aus denn Boxen erklingt.
Nichtsdestotrotz bewegten sich die Dinge, die das Duo seitdem über die queere Gemeinschaft gesagt hat, irgendwo zwischen schockierend und abstoßend. “Für mich sieht die lesbische Ästhetik viel netter aus als zwei Männer, die Händchen halten oder sich küssen. Ich habe nichts gegen Schwule, ich will einfach nur, dass mein Sohn ein echter Mann wird und keine Schwuchtel”, sagte Wokowa 2014, bevor beide dann ein paar Tage später eine Art Rückzieher machten. Es ist ziemlich unglaublich und abartig, dass sie sich dermaßen an der LGBTQ-Gemeinschaft bereichert haben und dann solche Meinungen äußern. Aber es ist wie so oft bei problematischen Gefälligkeiten: erst werden sie gegeben und dann wieder genommen.
Dieser Song ist dann auch wirklich die einzige positive Sache, die das Duo jemals hervorgebracht hat – und selbst das war nie ihre Intention gewesen. Zugegebenermaßen schaut man nach 15 Jahren gerne verklärt auf manche Dinge zurück, nur weil sie es geschafft haben, sintflutartige Regenfälle und Maschendrahtzäune zu solchen Symbolen zu machen – und der Refrain sich high einfach super anhört. Aber ich denke nicht, dass ich “All the Things She Said” hier mit unverdienten Sentimentalitäten überhäufe. Ernsthaft, hör ihn dir noch mal an. Dieser Song kann einfach alles. Außerdem hat er uns tatsächlich queeren Mädchen die Gelegenheit gegeben, einen Marketingstunt über die Jahre in etwas Kraftvolles, etwas Echtes zu verwandeln. Da kann Wolkowas abstoßende und erschreckende Homophobie auch nichts mehr dran ändern.
Auch wenn dieses Duo Welten davon entfernt ist, queere Vorbilder zu sein, ist der Bedarf an Mädchen, die im strömenden Regen zum Klang eines abgefahrenen Rock-Trance-Hybriden rummachen, in Zeiten von Trump größer denn je. Ich jedenfalls bin jederzeit dafür zu haben.