Mit seinem fettigen, strähnigen Haar, seinem wilden Blick und seinen schorfverkrusteten Armen machte Robert* einen ganz schön kaputten Eindruck. Ich begegnete ihm 2014, als ich den himmlischen Strand von Gokarna im Südwesten Indiens entlang schlenderte. Jeden Morgen kam er bei der Pension vorbei, in der ich wohnte. Jedes Mal sah ihn der gelangweilt wirkende Inhaber schon kommen und hielt ihn davon ab, einzutreten. Robert murmelte eine verwirrte Mischung aus Französisch und Englisch. So weit ich die Situation verstand, hoffte er nur auf ein paar gratis Fladenbrote, doch der Besitzer ließ ihn jedes Mal abblitzen. Robert ging unter genuschelten Obszönitäten wieder seiner Wege—dabei hatte er allerdings trotzdem immer ein Lächeln für die Gäste vor dem Hoteleingang übrig. Er hatte keine Zähne mehr.
Aus Neugier versuchte ich mehrmals, hinter Roberts Geschichte zu kommen. Er war aus Besançon in Frankreich, nahe der Schweizer Grenze. Seinen Aussagen nach musste er ungefähr 50 Jahre alt sein, doch er sah eher wie 60 aus. Mehr erfuhr ich nie über ihn. Robert sprach in einem unverständlichen, eigenen Slang und bat mich bei jeder Gelegenheit um ein paar Gramm Charas—dem örtlichen Haschisch. An seinen Armen hatte er Male, die ihn als regelmäßigen Heroin-Konsumenten auswiesen. Die Einwohner Gokarnas, die mit Touristen zu tun hatten, wiesen ihn sehr direkt zurück. Er hatte kein Einkommen. Einige wohltätige Touristen versorgten ihn mit Essen und Drogen. Doch nach Frankreich zurückkehren schien für ihn keine Option darzustellen. Robert hatte sich buchstäblich auf dem indischen Subkontinent verloren—er litt am sogenannten Indien-Syndrom.
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Robert ist beileibe nicht der einzige westliche Reisende, der sich in Indien verloren hat. In seinem Roman Indisches Nachtstück von 1984 schrieb der Italiener Antonio Tabucchi: “Viele Leute verlieren sich in Indien … dafür ist das Land gedacht.” Persönlich habe ich selbst auch schon oft den Drang gehabt, alles aufzugeben und auf den Straßen dieses Kontinent-Landes zu leben, wo ich mich zu Hause fühle wie sonst nirgends. Gleichzeitig kam ich nicht dahinter, was mich daran so anzog. Je länger ich in Indien lebte, desto deutlicher wurde mir bewusst, dass ich nicht der einzige westliche Reisende war, dem Mutter Indien den Atem verschlagen hatte.
Als der Psychiater Régis Airault Mitte der 1980er in Mumbai eintraf, grübelte er oft: “Macht Indien die Menschen verrückt oder begeben sich verrückte Menschen nach Indien?” In seinem neuen Buch Fous de l’Inde, délieres d’Occidentaux et sentiments océaniques beschreibt er Menschen, denen er in seiner Zeit als Arzt im französischen Konsulat von Bombay begegnete.
Für viele junge westliche Touristen markieren die späten 1970er das Ende des Traums von der Straße nach Katmandu. In seinem autobiografischen Roman Flash ou le Grand Voyage erzählt Charles Duchossois, wie die Romanze zwischen Indien und den Hippies oft zur Katastrophe wurde. Drogensucht, Depression, Delirium—immer häufiger kam es zu Vorfällen mit westlichen Abenteurern. 2014 verbot die Polizei von Gokarna die Raves der dortigen Strandbesetzer-Touristen. Es gab mehrere Polizeirazzien, bei denen Beamte Touristen schlugen. Zu dieser Gewaltanwendung soll es gekommen sein, weil ein französischer Tourist auf LSD in einen Tempel spaziert war. Wie mir der Pandit des Tempels erzählte, löste der Vorfall unter den örtlichen Shiva-Anhängern einen riesigen Skandal aus.
“Unsere Identität scheint in Indien mehr als anderswo und auf dramatischere Weise zu flackern.”
Die französische Regierung beschloss, diesen verlorenen Seelen psychiatrische Hilfe zu verschaffen. Régis Airault war einer der ersten, der Opfern des von ihm so betitelten “Indien-Syndroms” halfen. Zwar kümmerte er sich viel um Drogensüchtige, doch er merkte auch Folgendes an: “Manche Personen, bei denen weder psychische Störungen noch Drogenkonsum vorliegen, überkommt plötzlich ein seltsames Gefühl und sie verlieren den Draht zur Realität.” Er fügte hinzu: “Unsere Identität scheint in Indien mehr als anderswo und auf dramatischere Weise zu flackern.” Airault erklärt diesen “Identitätsumbruch” mit zwei vorausgehenden Phänomenen: dem “Indien-Schock” und der “Indien-Zerreißprobe”.
Ersteres sei ein Gefühl “der Unwirklichkeit, mit dem jeder neu eingetroffene Reisende konfrontiert sei”. Es handelt sich also um einen Kulturschock, der trotz aller romantischen, orientalistischen Fantasien eine Reihe Symptome verursachen kann: “Angstgefühle, Panikattacken, Angststarre, depressive Zusammenbrüche …” Régis Airault erinnert sich an eine junge Frau, die keinerlei psychiatrische Vorgeschichte hatte. Sie wollte sich mit ihren Eltern treffen, indem sie von Indien aus, in ihre Heimatstadt Marseille schwamm. Wenn ihre Freunde sie nicht gerettet hätten, wäre sie ertrunken.
Das zweite Phänomen, die “Indien-Zerreißprobe”, tritt nach mehreren Reisewochen ein und “löst akute psychiatrische Störungen aus: Depersonalisation, Wahnvorstellungen—hauptsächlich mystischer Art—und vager Verfolgungswahn”. Laut Airault spricht Indien “das Unbewusste” an, weil es “ein inneres Erdbeben auslöst und die Vorstellung mit intensiven ästhetischen Emotionen stimuliert, die beim westlichen Reisenden allerdings auch in reine Angstgefühle umschlagen können”.
Airault definiert zwei Arten des Syndroms. Einmal könne es aus einer pathologischen Reise entstehen, bei der also die psychische Störung bereits Auslöser für die Reise ist. Das sind die “Verrückten, die nach Indien gehen”. Bei Drogensüchtigen können zum Beispiel auch die billigen Drogen ein Grund für die Indien-Reise sein. Auf der anderen Seite steht die “pathogene Reise”: Die Reise selbst verursacht den psychiatrischen Zwischenfall; hier ist es das Land, das Menschen “verrückt macht”.
Der extremste Fall, dem Airault begegnete, war Charles Sobhraj, ein Berufskrimineller und Mörder, der in den 1970ern aktiv war. Sobhraj stammte aus dem damaligen Französisch-Indochina (heutiges Vietnam) und zockte Indien-Touristen ab, von denen er auch einige ermordete. Aus Airaults Sicht war es Indien, das Sobhrajs empfindliche Identität zum Kentern brachte und seine narzisstischen und manipulativen Tendenzen verstärkte.
Wahn in Indien ist auch in der Literatur ein wiederkehrendes Thema. Ob in Margerite Duras’ Roman Der Vize-Konsul oder Rudyard Kiplings Der Mann, der König sein wollte, die Protagonisten werden in die scheinbar unzähligen Möglichkeiten des Landes gesogen und verlieren den Bezug zur Realität. Sogar Tim und Struppi bekommen es in Indien mit einem speziellen Giftpfeil zu tun, der Menschen um den Verstand bringt.
Und auch heute noch gibt es genügend Anzeichen für das Indien-Syndrom. Das französische Konsulat in Pondicherry kümmert sich jährlich um etwa sechs betroffene Personen. Ein dreiköpfiges Team soll ihnen helfen, wieder auf den Boden der Tatsachen zu kommen und, wenn nötig, in die Heimat zurückzukehren. Doch natürlich ist es eine riesige Herausforderung, in einem Land mit mehr als einer Milliarde Einwohnern die Betroffenen zu finden.
Dies bestätigt auch eine Quelle aus dem Konsulat. Einheimische Polizeibehörden spielen hier eine wichtige Rolle; sie geben Berichte, die westliche Touristen betreffen, an die entsprechenden Konsulate weiter. Doch selbst wenn die Hilfsbedürftigen ausfindig gemacht sind, gibt es noch einige Fragen: Kann man diesen Patienten in ein Krankenhaus bringen? Ist die Person krankenversichert? Wer zahlt die Rechnung für die Behandlung und die Heimreise? Die psychiatrischen Abteilungen Indiens sind nicht immer in der Lage, sich angemessen um ernste Probleme zu kümmern, sodass es zu vielen Schwierigkeiten kommen kann.
Natürlich sollte an dieser Stelle auch Erwähnung finden, wie viele westliche Touristen ihre Indien-Reise ganz ohne Wahn bestreiten. Selbst wenn das Indien-Syndrom eintritt, muss es nicht gleich so verheerende Auswirkungen haben. Bei meinem Interview mit Régis Airault räumen wir beide ein, an einer Form des Syndroms zu leiden. Wir wollen beide so bald wie möglich nach Indien zurück. Ich habe mich sogar zum Auswandern entschlossen.
Laut Airault ist niemand immun gegen das Syndrom. Indien und die dazugehörige Reise, die zugleich gelebte Fantasie und Initiation darstellt, lassen niemanden kalt. Entweder man gibt sich dem Ganzen leidenschaftlich hin, oder man lehnt gleich das ganze Land ab. Am Flughafen von Neu-Delhi sieht man häufig Neuankömmlinge, die sich weigern, das Gebäude zu verlassen, weil sie sich nicht in das Chaos trauen, das um sie wütet.
Es gibt auch asiatische Touristen, die mit dem Westen nicht fertigwerden. Bereits Ende der 1980er wurde ein solches Phänomen für japanische Reisende in Paris beschrieben, deren enttäuschte romantische Klischee-Vorstellungen sie in eine paranoide oder wahnhafte Krise stürzten. Reisen ist nie ohne Risiken, vor allem wenn das Ziel Indien heißt. Wie Nicolas Bouvier in Die Erfahrung der Welt schreibt: “Man denkt, dass man eine Reise macht, doch dann stellt sich heraus, dass die Reise einen macht.”
*Name geändert.