Sich durch das Archiv eines toten Mannes zu arbeiten, um einen Film zu machen, ist ein unbehagliches Unterfangen. Als Regisseur Brett Morgen die „Schlüssel zur Schatzkammer“ bekommen hat und auf Grundlage dessen die erste autorisierte Dokumentation über Kurt Cobain, Kurt Cobain: Montage of Heck, gemacht hat, musste er sich mit der Frage auseinandersetzen, ob es moralisch richtig ist, Arbeiten zu veröffentlichen, die ein Künstler nicht öffentlich machen wollte; mit der Frage, ob privates Bildmaterial—das der Film im Überfluss bietet—vom Künstler zuhause, der lebt, atmet und nackt ist, allgemein zugänglich gemacht werden sollte.
An manchen Stellen des Films habe ich mich eher unwohl gewühlt, als dass ich neugierig wurde. Ich habe mich gefragt, ob ich und der Rest des Publikums unser Fan-Dasein ins Extreme übersteigert haben; ob wir alle zu perversen Voyeuren geworden sind. Als Kurt Schwierigkeiten hat, sich auf seine Frau und seine Tochter einzulassen, während er der Kleinen ihren ersten Haarschnitt verpasst, und dabei mit großer Wahrscheinlichkeit auf Drogen ist, liegt eine Frage auf merkwürdige Weise in der Luft: Würde er wollen, dass wir das sehen? Sollen wir es gutheißen, die intimste Privatsphäre öffentlich zu machen, wenn die betroffene Person keine Möglichkeit hat, sich zu wehren?
Videos by VICE
Die Kommentare im Internet haben sich intensiv mit diesen Bedenken auseinandergesetzt. „Hat niemand das Recht auf Privatsphäre oder erlischt dieses Privileg, wenn du stirbst? War dieses Eindringen nicht Teil seiner tiefen Unzufriedenheit? Oder ist das alles nur Futter für Fans und Pseudo-Kritiker für eine Art Eigentherapie?“, fragt einer unter dem Guardian-Interview mit Morgen. „Ich bin, seit ich 13 bin, großer Nirvana-Fan, aber das erscheint mir falsch. Nirvanas Musik ist das Einzige, von dem ich sicher bin, dass Kurt es mit der Öffentlichkeit teilen wollte. Dieses Zeug befriedigt die Wünsche anderer Leute“, sagt ein anderer unter dem The Dissolve-Artikel.
Diese Debatte wird den Film wohl weiter umgeben, wenn ihn die Leute ab heute im Kino sehen, und es werden ohne Zweifel auch ähnliche Bedenken aufkommen, wenn die Dokumentation über Amy Winehouse veröffentlicht wird, die ähnlich herzzerreißend zu sein scheint. Aber auch wenn diese Argumente berechtigt und unbestritten wichtig sind, so stehen sie doch im Widerspruch zu dem, was der Film wirklich erreichen will. Was Montage of Heck im Wesentlichen bietet? Eine weibliche Perspektive auf Kurt. Und zwar eine von den Frauen, die ihm am nächsten waren.
Als der Film im Januar beim Sundance gezeigt wurde, hat Regisseur Brett Morgen ihn Kurts Mutter Wendy O’Connor, seiner Schwester Kim Cobain und seiner Tochter Frances Bean gewidmet. Drei Frauen, von denen wir kaum etwas zu ihrem Verlust gehört haben, obwohl sie dazu gezwungen waren, 21 Jahre lang öffentlich zu trauern. Sie wollten, dass die Welt endlich den echten Kurt sieht; dass der Mythos, der in den zwei Jahrzehnten nach seinem Tod durch eine Collage aus Dokumentationen, Interviews und Meinungen—hauptsächlich aus einer männlichen Perspektive—erschaffen wurde, dekonstruiert wird.
Es war Courtney Love, die diese Dekonstruktion des Mythos in Gang gesetzt hat. Im Jahr 2007 hat sie sich an Morgen gewandt und ihn gebeten, eine Dokumentation zu machen, für die sie ihm vollen Einblick gewährt. Von da an war die Künstlerin Frances Bean, Kurts und Courtneys 22-jährige Tochter, als ausführende Produzentin dabei. Ihre Vision war von Beginn an essentiell. Morgen hat dem Guardian über sein erstes Treffen mit Frances gesagt: „Bevor ich auch nur zwei Worte sagen konnte, hat Frances angefangen, mir zu erzählen, wie der Film sein sollte, und es war genau der Film, den ich ihr vorschlagen wollte.“ Sie hat anschließend viele Leute überzeugt, dazu beizutragen, inklusive Kurts Mutter, seinen Vater und seine Schwester—keiner von ihnen wurde jemals zuvor vor der Kamera interviewt. Sie beiden haben das Projekt zu dem gemacht, was es ist.
Die einzige männliche Person, die für Kontext und Geschichten zu Wort kommt, ist Krist Novoselic von Nirvana, um eine Sichtweise der Band zu bieten—und damit die interessanten, notwendigen, aber wenig überraschende Grundlagen für die Geschichte zu liefern. Die seltenen und aufschlussreichen Interviews, die eine zentrale Rolle in der Erzählung spielen, sind die mit den Frauen in Kurts Leben. Als Don Cobain (Kurts Vater, zu dem er ein schwieriges Verhältnis hatte) und seine Frau Jenny (Kurts Stiefmutter) zum ersten Mal interviewt werden, sagt Don wenig. Durch das, was er nicht sagt, wird viel mehr ausgesagt; durch die Stille, in der er sich mit feuchten Augen an seine Armlehne klammert.
Es ist der weibliche und emotionale Input, der nie dagewesene tiefe und sensible Einblicke in seine Persönlichkeit bietet. Die Dokumentation beginnt mit Kurts Kindheit. Aber anstatt sich nur auf ihn als Kind zu fokussieren, gibt es eine Montage der Geschichte seiner Eltern. Wir sehen die Anfänge der Beziehung seiner Mutter zu Don, bis zum letztendlichen Scheitern, das einen oft erwähnten Einfluss auf Kurt hatte.
Während seiner Kindheit fängt er an, sich anders zu fühlen. Er hat es gehasst, blamiert zu werden, und tief im Inneren wollte er einfach dazu gehören. Nicht Don sondern Jenny offenbart mehr über Kurt und sein Leben. „Er wollte unheimlich geliebt werden“, sagt sie. Die Frauen, die ihn in seinen frühen Tagen begleitet haben, fügen weitere Facetten zum komplexen emotionalen Bild von Kurt hinzu. Seine Schwester Kim sagt: „Er wollte Normalität und eine Familie. Aber dann auch wieder nicht, weil er dagegen angekämpft hat.“ Tracy Marander, Kurts erste langfristige Freundin, stellt sich selbst als ein Zwischending aus erster Liebe und mütterlicher, fürsorglicher Figur dar. Tracy wurde bereits vorher vor der Kamera interviewt, in Nick Broomfields Dokumentation Kurt & Courtney, jedoch mit einer sehr spezifischen Agenda und aus einem männlichen Blickwinkel. Hier offenbart sie viel mehr. Liebesbriefe, intime Details und aufschlussreiche Informationen über ihn als kreativen Künstler, was von seinen unveröffentlichten Tonaufnahmen und Kunstwerken begleitet wird.
Die größte Erkenntnis durch diese weibliche Perspektive? Dass seine Beziehung zu Courtney echt war. Über die letzten 21 Jahre wurde ihre Ehe als lustvoll, feurig und kurzlebig abgetan. Als Nirvana-Fan und von Courtney Love besessene Fürsprecherin, habe ich meine Teenagerjahre damit verbracht, jedes einzelne Interview zu studieren, um ein echtes Bild ihrer Beziehung zu bekommen. Ich konnte nie ausreichend darüber erfahren. In ihrem Fotobuch Dirty Blonde gibt es ein Foto von Kurt und einen Tagebucheintrag über ihn, in dem es heißt: „Ich weiß, dass wir trotz meinen Zweifeln noch zusammen wären. Diese Art von Zusammengehörigkeit gibt es nur ganz selten.“ Diese Worte waren das echteste, das ich gefunden haben.
Durch kostbares Heimvideo-Material wird nicht nur die wahre Natur ihrer gegenseitigen Anziehungskraft deutlich, Love füllt auch die Lücke im Verständnis über Kurt und die letzten Jahre seines Lebens. Zum Image, das Kurt-Fanatiker, die ihre Sicht nur übernommen haben, von ihm haben, trägt dies entscheidend bei. Es wird deutlich, dass die Dynamik zwischen den beiden nichts ist, das mit Interviews oder durch die Meinung anderer erklärt werden kann, sondern etwas, das man selbst sehen muss.
Im Film sieht man eine lockige, kurzhaarige Courtney bei einem Nirvana-Soundcheck. Sie fragt, ob die Band ihr lockiges Haar mag. Irgendjemand sagt nein und dass es ihr Gesicht zu rund aussehen lässt. Daraufhin schreit sie auf und stelzt in halb gespielter Wut davon, was einen der überraschend komischen Momente des Films bietet. Anschließend sehen wir Kurt, der nach ihr sieht und zurückhaltend lächelt. Er ist halb am träumen und eindeutig von ihr fasziniert.
Wir sehen die beiden in intimen Momenten; wie sie zusammen leben, sich küssen, atmen, reden, sich waschen, nackt sind und vor allem die Gegenwart des anderen genießen. In einem Clip sieht man sie in Handtücher gewickelt im Bad. Kurt rasiert sich und sie bleicht anscheinend ihren Damenbart. Sie sind kreative, schrullige, witzige und lebendige Charaktere. Sie harmonieren wirklich brillant miteinander. Es ist wie eine reale, skurrile Romantic Comedy aus den 90ern, die es so noch nie gab. Die private Dynamik einer romantischen Beziehung, die nur die zwei Leute, die darin involviert sind, wirklich kennen können.
Diese Perspektive hat dazu geführt, dass der Hass auf Courtney merklich abgenommen hat. Es ist wichtig, dass sie in die Dokumentation nur soweit involviert war, dass sie Morgen Zugang zum Archiv verschafft und die Fragen für das Interview beantwortet hat. Tatsächlich hat sie den Film erst ein paar Tage vor dem Sundance gesehen, als es für Änderungen sowieso schon zu spät gewesen wäre.
Sie hat, ebenso wie Kurt, schon in jungen Jahren über ihren Wunsch, akzeptiert zu werden, geschrieben. Sie haben in der jeweils anderen Person anscheinend jemanden gefunden, der die Leere füllt, der die Ängste und Unsicherheiten des jeweils anderen reflektiert. Als der Film die Courtney der Gegenwart zeigt, die sagt: „Wir waren alles, was wir hatten“, glaubst du es ihr diesmal wirklich.
Mit der Geburt von Frances wird dieses intime Duo um eine Person erweitert. Für mich übergeht ihr Mitwirken als ausführende Produzentin etwas zu leicht jedwede unbehagliche Schuld. Wenn irgendjemand das Recht hat, die intimeren Szenen von Kurt zu veröffentlichen, dann ist sie es. Wie sollte ein Film über Kurt Cobain, den Typen, der Angeber und Bullshit gehasst hat, sein, wenn nicht vollkommen aufrichtig?
Die Dokumentation hat zuallererst unseren Fokus von einer männlich geprägten Vorstellung von Kurt wegbewegt. Morgen hat dem NME für eine Coverstory gesagt: „Ich hatte dieses Gefühl, dass Kurt entweder alleine oder mit seiner Partnerin am glücklichsten war, ob es nun Tracy oder Courtney war, aber auch mit Frauen allgemein.“ Das ist nur einer der vielen Gründe, warum es wichtig ist, dass die Frauen, die ihm nah waren, von dem Kurt erzählen konnten, den sie kannten. Nicht nur, weil sie ihre Wahrheit zu der allgemeinen Vorstellung über ihn beitragen konnten, sondern weil sie in der Lage waren, eine andere Seite von ihm zu sehen.
Morgen hat gegenüber Noisey darauf hingewiesen, dass man ein gewisses Level an Größenwahn und Arroganz aufweisen muss, um zu denken, dass man Kurt Cobain kennen kann. Aber dank des Zugangs zur „Schatzkammer“, den Courtney gewährt hat, und Frances’ entschlossener künstlerischen Natur war Morgen in der Lage, eine Montage aus Film, Klang und Animation zu erschaffen, die alles übertrifft, was vorher in diese Richtung gemacht wurde. Manche behaupten vielleicht, dass dieser Film den Mythos einer Ikone nur durch einen anderen Mythos ersetzt—den von Kurt als einen verliebten Jugendlichen, liebenden Ehemann und Familienmenschen. Aber das ist nicht der Fall. Es trägt die Schichten dieser Ikone ab und liefert ein intimeres, liebevolleres Porträt seiner echten Persönlichkeit.
Montage of Heck läuft am 19. und 25. April im Rahmen der Poolinale im Gartenbaukino. Für die Vorstellung am 25. verlosen wir noch Tickets. Bitte einfach ein Mail mit dem Betreff „“ an Noisey@vice.at schicken.
Folgt Hannah bei Twitter.
**