Das wunderbare Arschloch

Archivfotos mit freundlicher Genehmigung der Fales Library and Special Collections der New York University

Porträt von Richard Kern

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Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal etwas über Gary Indiana schreiben würde; ich wollte ihn einfach nur treffen. Trotz seiner 35-jährigen Karriere als Autor von Büchern, die heftigere Abwehrreaktionen hervorrufen als fremdes Blut, sind bisher lediglich ein paar Zeitschriftenporträts von ihm erschienen. Eine Biografie von Gary Indiana im eigentlichen Sinne hat noch niemand verfasst. In weniger gebildeten Kreisen werden die meisten jungen Leute sicher von ihm gehört haben. Es ist jedoch gut möglich, dass sie an die Stadt Gary, Indiana denken, deren Namen Gary, der als Hoisington geboren wurde, übernommen hat.

Gary ist in erster Linie Romanschriftsteller. Er fällt unter die Kategorie der Nicht-Vergessenen-Aber-Sträflich-Unterschätzten und teilt damit das Schicksal vieler Autoren eines bestimmten Alters. Der Grund dafür könnte darin liegen, dass der auf dem heutigen Büchermarkt vorherrschende literarische Geschmack abgestumpft ist von der Konjunktur jener, wie er es nennt, „untalentierten Schreiberlinge aus Brooklyn, deren Namen mit Jonathan beginnen.“ Seinem Erfolg abträglich war sicher auch der Umstand, dass er sich weigerte, sein Leben nach Karrieregesichtspunkten zu ordnen. „Ich habe nie irgendeine Karriere gemacht!“, blaffte er mich einmal an. „Ich habe nie Karriere gemacht, weil ich keine Scheiße fresse! Wobei diese Widerlinge mit Karriere noch nicht einmal Scheiße fressen müssen. Ihre Mäuler selbst sind verschissene Toiletten.“ Seit seinem ersten Roman Horse Crazy (1989), einer kleinen Milieugeschichte über schwule Liebe und Drogen im New York des Aidszeitalters, hat er unprätentiöse Meisterwerke produziert. Sein enger Freund William Burroughs beschreibt Garys frühen Werke mit großem Respekt: „Archetypische Geschichten, meisterhaft erzählt. Für jeden faszinierend, ganz egal, welche sexuellen Vorlieben er hat – man trifft auf Figuren wie bei Genet.“ Etwas plakativ und reißerisch könnte man sagen, dass Gary einer der letzten Vertreter der anscheinend aussterbenden Gattung amerikanischer Hardcore-Intellektueller ist.

Heute sind viele Bücher von Gary vergriffen. Ich habe den starken Eindruck, dass er selbst seinen Teil dazu beigetragen hat. „Ich bin ein wunderbares Arschloch, aber ein furchtbares Ekel“, sagte er, als ich ihn vorsichtig fragte, inwieweit er für seine randständige Position auf dem Büchermarkt mitverantwortlich sei. „Jeder in meinem Alter, dessen Bücher noch verlegt werden, bewegt sich erfolgreich in irgendwelchen Netzwerken und kriecht jedem in den Arsch, der ihm über den Weg läuft. Ich kann einen Roman schreiben und ich kann diesen Roman auch verkaufen. Aber ich bin nicht dazu in der Lage, mit diesem Roman jedem in den Arsch zu kriechen.“ In einem Interview, das er 2002 der Zeitschrift Village Voice gab, warnte er vor dem eigenen Ausverkauf und kritisierte den angepassten Zeitgeist: „Die Leute denken, du wärst selbstdestruktiv, wenn du bereit bist, die Machtverhältnisse anzukratzen, weil du dir damit auf jeden Fall Feinde machst. Aber wenn du in deinem Leben nur an den Erfolg und dein Bestehen vor den Mächtigen denkst, dann kannst du auch direkt anfangen, dich jeden Tag mit Benzos zuzuknallen.“ Eine klassische Erklärung aus der einsamen Welt einer Person, die sich weigert, Kompromisse zu machen.

Gary ist Anfang 60, sieht aber deutlich älter aus. Sein vorzeitiges Altern passt irgendwie zu seinem Oeuvre. In den vergangenen 23 Jahren hat er sechs bedrückende Romane verfasst, die überwiegend von Macht in sexuellen Beziehungen, Geld, Berühmtheit und Brutalität handeln. Er ist besessen von der Wirkungsweise der Gesetze, von dem Moment, in dem „die Wirklichkeit und das Gesetz auf eine Weise [kollidieren], die die Widersprüche des Systems, in dem wir leben, offenlegt […] in dem die Menschen massenhaft durch ihre Angst vor der Polizei und drohendem Freiheitsentzug oder Hinrichtung in Schach gehalten werden, anstatt sich von einem gemeinsamen Möglichkeitssinn leiten zu lassen.“ Den Stoff für seine Werke liefert ihm oft die Realität, vor allem, wenn es um Verbrechen geht. So verarbeitete er die Verfahren um die Fälle von Rodney King und Jack Kevorkian ausgiebig. Er verfasste außerdem Studien über Pier Paolo Pasolini und Arnold Schwarzenegger.

Links: Gary unterhält sich mit ein paar Freunden über Kokain und Champagner für eine 1980er-Ausgabe der Soho Weekly News; rechts: Gary im Hotel Chateau Marmont in West Hollywood, in dem John Belushi an einer Überdosis Heroin und Kokain starb. 

Gary ist auch Schauspieler. In den 70ern spielte er in Filmen aus dem künstlerischen Umfeld von Rainer Werner Fassbinder, dem harten Kern des Neuen Deutschen Films. Mit Leuten wie Jack Smith, Taylor Mead, Cookie Mueller, Bill Rice, Mike Hodges und Jim Jarmusch arbeitete er in verschiedenen Projekten und medialen Formen zusammen. Er ist außerdem Verfasser beißender politischer Essays, ein talentierter Fotograf, ein subversiver Dramatiker sowie – was vielleicht am bekanntesten ist – ein Kunstkritiker.



Es waren Garys eloquente und beißende Kritiken, die mein Interesse an seiner Arbeit weckten; er schrieb für Artforum, Art in America, Film Comment und unzählige andere Fachzeitschriften der Urban-Left-Bewegung der 80er Jahre. Viele New Yorker Künstler erinnern ihn als den wichtigsten Kunstkritiker bei Village Voice Mitte der 80er Jahre. Er aber tut diese Jahre ab. Nach Garys Worten sind seine Sachtexte so etwas wie Dienst an der Allgemeinheit in einer Gesellschaft, die von moralischen Verdauungsstörungen lahmgelegt wird. Diese Bücher machen sein Werk so wertvoll; es sind bittere und nihilistische Berichte von den Frontlinien des Endes der Welt.

Mein erstes Gespräch mit Gary kam zufällig zustande. Eines Morgens im vergangenen Oktober klopfte mir ein Kollege auf die Schulter. Ich hatte unter meinen Kopfhörern nicht bemerkt, dass mein Telefon klingelte. Vom anderen Ende der Leitung hörte ich eine feminin klingende Stimme nach irgendeinem Frank fragen. Ich wusste, dass das Gary Indiana war. Ich hatte ihm über einen alten Agenten meine Telefonnummer übermittelt und versucht, auf diesem Wege Kontakt mit ihm aufzunehmen. Irgendwie hatte er versehentlich meine Nummer gewählt, wollte aber eigentlich einen Freund anrufen, der nach einer Lungenkrebsoperation im Krankenhaus lag. Ich überwand meine Schüchternheit und verabredete mit ihm zwei Stunden später ein Treffen in der St. Mark‘s Buchhandlung.

Als ich ankam, stöberte er gerade nervös in der philosophischen Abteilung herum. Er war auf der Suche nach einer Kopie von Guibert von Nogents Monodies and On the Relics of Saints: The Autobiography and a Manifesto of a French Monk from theTime of the Crusades. Ich hatte nie davon gehört. Es war das erste von vielen Büchern, Filmen und Kunstwerken, die ich mir während unserer folgenden Gespräche notierte. Gary ist eine erstklassige Adresse, wenn es um gute Empfehlungen geht.1

Während unseres ersten Treffens sprachen wir hauptsächlich über Filme und Fernsehen. Er ist ein glühender Fan von Queen for a Day, eine Show aus den 50er Jahren, in der die durchweg weiblichen Kandidaten einen Wettbewerb um die größte Leidensgeschichte austrugen. Sie erzählten Geschichten von ihren Söhnen, die mit Muskelschwund geschlagen waren, oder von Töchtern, die in Autowracks zerquetscht wurden. Die „Gewinnerin” wurde per Zuschauerapplaus ermittelt und zur Königin erkoren, feierlich gekrönt und mit Waschmaschinen, Mixern und anderen Konsumgütern beschenkt.

Ich erfuhr, dass Gary an seinen Memoiren schreibt. Das scheint sinnvoll, weil es ihm sicher nicht gefallen würde, wenn jemand anderes so intim und in der Ausführlichkeit über sein Leben schriebe. Er steht unter einem gewaltigen Druck, den er sich allerdings, wie viele seiner Sorgen, selbst erzeugt. Er fühlte sich schlecht und litt unter unruhigem Schlaf, er erzählte mir einen Traum, in dem ein riesiges D ihn durch die Straßen verfolgte. Gary rauchte Kette und erwähnte öfters, dass er Arbeit suche. Er bezeichnete sich als einen „alternden Mittelklasseschreiber“ und dachte darüber nach, Sachen unter einem Pseudonym zu veröffentlichen, um mit den jüngeren Romanschriftstellern mithalten zu können – meist literarischen Eintagsfliegen, die aus dem Nirgendwo auftauchen, ein mittelmäßiges E-Book herausbringen, um dann schnell wieder im Nichts zu verschwinden.

1 Er bat mich, den interessierten Lesern das nach seiner Auffassung beste Buch über das Leben, die Politik und Wirtschaft Amerikas zu nennen: The Chapters of Erie von Henry Adams und Charles Francis Adams Jr., die Urenkel von John Adams, ein kurzer Bericht über den Eisenbahnskandal von 1860. Das lustigste Buch, sagt er, sei Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages, John Maynard Keynes witziger Streifzug durch den Versailler Vertrag.


Beweisfoto von Andrew Cunanan, nachdem er sich auf einem Hausboot in Miami den Kopf weggeschossen hatte.

Das nächste Mal als wir zusammen abhingen, trank Gary mich unter den Tisch. Am Morgen einer kühlen Herbstnacht teilten wir uns eine Flasche polnischen Wodka und eine Packung Camel und saßen zusammen in seinem schneeweiß gehaltenen, aus drei ineinander übergehenden Zimmern bestehenden Appartement im East Village, dessen Badezimmer vom Hausflur aus zugänglich war. Er lebt hier seit 1980 – die Wohnung ist nicht nur voller Bücher, sondern scheint von ihnen regelrecht befallen zu sein.

Als wir ein bisschen locker geworden waren, erzählte er mir von seiner Familie. Die Linie seines Vaters war von Gutsbesitzern aus Vermont bestimmt. „Sie hatten große Ambitionen“, erzählte er mir. „Sie sahen sich nicht als Angehörige der Mittelklasse.” In den 40er Jahren gewann sein Vater beim Pokern 50-Dollar-Aktien eines Holzunternehmens und Garys Familie erfreute sich eines unerwarteten Geldsegens. Nicht in anstößigem Ausmaß, aber das Geschäft ermöglichte seiner Familie ein Leben ohne finanzielle Schwierigkeiten. Sein Heimatstaat, sagt Gary, bietet nicht sehr viele Möglichkeiten. „Im südlichen New Hampshire waren die Verhältnisse ähnlich wie im ländlichen Mississippi. Arbeiter in Kleinbetrieben, Fabrikarbeiter, Leute, die noch nie ein Buch gelesen hatten. Sie waren nicht dumm; sie waren arm.“

Er wuchs hier als eine Art Fremdkörper auf und wurde mit sieben Jahren mehrfach von Mitgliedern seiner Gemeinde missbraucht. Wie seine Mutter ihm später erzählte, hatte ihn diese Erfahrung merklich verändert. Im Alter von 12 Jahren versuchte Gary, sich das Leben zu nehmen. Er sagte mir, er sei über diese Erfahrung noch immer nicht weg. Geriet er an der Highschool in Schwierigkeiten? Er verdreht seine Augen. „Ich machte es mir schwer. Ich geriet nicht in Schwierigkeiten.”

Nach einem frühen Highschoolabschluss verschlug es ihn an die University of California, Berkeley, wo er sich in Seminare von Herbert Marcuse schlich, dem prominenten Philosophen der Neuen Linken. In den späten 60er Jahren schmiss er sein Studium hin, er wähnte die Revolution schon in greifbarer Nähe, und fing an, als Rechtsassistent und als Beleuchter bei Pornoshootings zu arbeiten. Er lebte mal in Boston, mal in San Francisco. Schließlich ließ er sich in Los Angeles nieder, wo er die 70er Jahre hindurch blieb und sich viel in Beaux-Art-Wohnanlagen herumtrieb, in denen lauter „Leute mit Schlafstörungen und ohne Führerschein“ lebten.

In L.A. arbeitete Gary in einem Filmtheater, schrieb Bühnenstücke und Kurzgeschichten – bis er auf dem Hollywood Freeway einen schweren Autounfall hatte. „Die Polizei sagte, es war ein Unfall, von dem man nicht einfach weggehen kann… also ging ich verdammt noch mal einfach weg“, erinnert er sich amüsiert. „Die Geschichte ist kurz gesagt die, dass ich Ende 1978 nach New York kam. Ich hatte 40 Dollar und ein TWA-Flugticket in der Tasche. So fing ich also an, in einem Marktforschungsunternehmen in der Stadt zu arbeiten. Dort ging ich der Frage nach, welche Farbe die Leute für die Verpackung ihrer Zahnpasta bevorzugen.“

Er schloss sich Evan und John Luries Band The Lounge Lizards an, fing an, im Mudd Club herumzuhängen und aufzutreten und rief schließlich ein Underground-Theater-Ensemble ins Leben, das im Hinterhof von Bill Rices Wohnhaus auftrat. Er bekam gelegentlich Aufträge, etwas zu schreiben und fuhr zwischendurch nach Europa, um in düsteren Filmen wie Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse und Fräulein Berlin mitzuspielen.
 

Mitte der 90er Jahre schrieb er eine Serie von drei Büchern, für die er wohl am bekanntesten ist. Er nennt sie seine „Krimi-Trilogie”: Zwei Romane (Resentment und Depraved Indifference) und einen nonfiktionalen, auf Recherchen beruhenden Text (Three-Month Fever). Sie alle lassen sich als Kommentare zum schmalen Grad zwischen sadistischer Kriminalität und dem sie begleitenden überfallsartigen Medienrummel lesen.

„Diese beiden Bücher behandeln die zentrale Frage meines Lebens,” sagt er: „Warum begehen Menschen barbarische Handlungen?” Resentment ist eine Fiktionalisierung der Prozesse gegen Lyle und Erik Menendez. Die Brüder hatten ihre Eltern Ende der 80er Jahre erschossen und wurden dafür zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt.     

„Ich empfand große Sympathie für die Brüder Menendez”, sagt Gary. „Niemand bringt seine Eltern ohne Grund um.“ Ein Jahr später erschien Three-Month Fever, das den Fall Andrew Cunanan rekonstruierte. Dieser Mann hatte (mindestens) fünf Menschen brutal getötet, einschließlich des Modeschöpfers Giovanni Versace, bevor er sich selbst erschoss. Für seine Recherchen suchte Gary jede Stadt auf, in der Cunanan einmal gelebt hatte, und verbrachte dort eine Weile. „Ich hatte Mitgefühl für Cunanan. Er war der unbedeutendste Mensch auf der Welt, der den bedeutendsten Menschen der Welt umbrachte. Aber wen hatte er davor umgelegt? Warum hatte er sie getötet? Was waren das für Leute?”         

Das nächste Buch, Depraved Indifference, war dem Mutter-und-Sohn-Mörderteam Santee und Kenneth Kimes gewidmet. „Ich fand sie beide moralisch abstoßend, aber sie schafften es, trotz ihrer Verrücktheit in ganz Amerika gut zurechtgekommen, niemand hielt sie auf. Wenn du genauer hinschaust, dann erkennst du, dass die Leute, die mit den beiden zu tun hatten, entsetzlich dumm waren. Irgendetwas stimmt nicht mit einer Gesellschaft, die es ihnen ermöglichte, als ehrwürdige Bürger durchzukommen, während sie doch offensichtlich zutiefst kriminell waren.“



Gary mit Tina L’Hotsky, einem Stammgast im Mudd Club und Mitglied des namenlosen Theaterensembles, das Gary im Hinterhof von Bill Rices Wohnhaus in der Third Street gegründet hatte. Foto von Ivan Galietti.

Unter Garys Schriften, die in der Fales Library der New York University aufbewahrt werden, ist eine alte Aufnahme des transgressiven Fotokünstlers, Filmemachers, Künstlers und gelegentlichen VICE-Autors Bruce LaBruce. Gary fuhr öfter nach Toronto, wo er Mitte der 90er Jahre in Bruces Queercore-Szene unterwegs war. Sie waren eine Zeit lang eng befreundet, bis Gary sich nach einem übergriffigen Scherz von ihm abwendete: Bruce hatte Gary auf eine Party mitgenommen und sich ein kleines Mikro angesteckt, mit dem er alle anstößigen Bemerkungen seines Freundes aufnahm, um sie später in der Zeitschrift Pussy Grazer zu veröffentlichen.

„Für mich ist er ein Schriftsteller vom Format eines Burroughs“, sagte Bruce zu mir. „Er lebt tatsächlich das Leben, über das er schreibt. Er pflegt keine Attitüden, was man nicht von vielen Schriftstellern behaupten kann. An ihm ist ein Moment des Leidens sichtbar und dieser Aspekt zeigt sich in der Wahl des Stoffes, über den er schreibt – Stricher, Betrüger, Massenmörder. Er ist Teil einer vergangenen Zeit in New York. Die Bezugspunkte dessen, was er vertritt, gibt es nicht mehr. New York hat sich in eine von Konsumdenken beherrschte Einöde verwandelt, Gary ist der Vertreter einer ausgestorbenen Art.“   

Als Gary mit der Niederschrift seiner Memoiren begann, beschloss er, die Arbeit an Diving for Teeth, seinem neuen Roman, zu unterbrechen. Dort greift er das Motiv des Buñuel-Films aus dem Jahre 1962, Der Würgeengel, auf, das er im Setting einer bürgerlichen Long-Island-Party entfaltet. Die Bediensteten verschwinden einer nach dem anderen das Haus und die Gäste sind auf geheimnisvolle Weise unfähig, das Wohnzimmer zu verlassen. Die Akkus der Handys sind leer, die Essensvorräte neigen sich dem Ende zu, und so flüchten die Gäste sich in den Kannibalismus. „Vielleicht habe ich das Motiv von Buñuel geklaut“, sagt er, „aber ich gehe noch weiter – in seinem Film isst niemand jemand anderen auf.“      

Die Memoiren beginnen mit dem Jahre 1975 und enden 20 Jahre später, als Gary nach Indien reiste, um Charles Sobhraj zu interviewen, einen Serienmörder, Drogendealer, Schwindler und Juwelendieb, der gerade in Nepal eine lebenslange Haftstrafe absitzt. „Ich habe da eine bestimmte Frage fokussiert, die mich viele Jahre gefesselt hat“, kommentiert Gary dieses Projekt. „Etwas, was ich nicht begreifen konnte. In gewisser Hinsicht war Sobhraj die Verkörperung des Bösen schlechthin.“

Die indischen Behörden legten seinem Vorhaben manche Steine in den Weg, und so dauerte es Monate, bis Gary die Vorbereitungen für das Interview abgeschlossen hatte. Schließlich trafen die beiden zusammen. „Ich fragte ihn offen: ‚Warum hast du diese Menschen umgebracht?‘ Sobhraj speiste mich mit einer flüchtigen Antwort ab. Er erzählte mir, er sei von der chinesischen Mafia angeheuert worden, ein paar kleine Drogendealer aus dem Weg zu räumen. Ich wusste, dass das nicht stimmte, und wollte nicht wissen, wie er sie getötet hatte. Mich interessierte, was ihn zu dieser Tat befähigt hatte. Wir saßen im Vorzimmer eines Gerichtsgebäudes. Er stand auf und schaute mich auf dem Weg zur Tür  noch einmal an, als er sagte: ‚Das ist geheim‘. Mir war klar, dass er mir nichts weiteres mehr erzählen würde.“ 

Gary möchte seine Memoiren mit dieser Erkenntnis beschließen: Er wird nie eine Antwort auf seine Frage über Sobhrajs tatsächliches Motiv bekommen, die einzig wirklich fixe Idee, von der er je besessen war. „Gewisse Dinge beschäftigen dich aus klar definierten Gründen”, sagt er. „Du musst dir darüber klar werden, welcher Mensch du sein möchtest. Kann ich mein Leben rechtfertigen? Habe ich moralisch gelebt? Du hoffst schließlich, dass die Leute einmal gut über dich sprechen, wenn du tot bist, dass du etwas von Wert zurücklässt und niemand dich verachtet. Dann gibt es aber andere Dinge – Fragen, die einfach irgendwie auftauchen in der Zeitspanne, die dir gegeben ist, und die du nie ganz klären kannst.” 

Er schaut mich an und hat auf einmal jüngere Augen. „Da bleibt noch die Frage“, sagt er mit ernster Stimme. „Warum gibt es so viel Böses auf der Welt? Warum tun die Leute einander so schreckliche Dinge an?“ Das ist eine andere Welt als die, in der Gary sich seinen Weg bahnte, aber er lässt sich nicht von seiner ursprünglichen Frage abbringen. Er hält versonnen inne und zündet sich seufzend eine Zigarette an. „Ach, verdammt. Das meiste im Leben ist Scheiße. Das ist der Grund. Warum sollte ich bekannter sein? Warum sollte ich überhaupt irgendetwas sein?”