Kann ein ehemaliger Insasse ein Gefängnis reformieren?

Porträt von Ryan Shorosky

Aus der The Road to Nowhere Issue 2015

Im Februar 1988 saß Stanley Richards im Gefängniskomplex auf der New Yorker Insel Rikers Island und wartete auf seinen Prozess wegen Raubes.

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Richards war bereits seit fast zwei Jahren dort und hatte davor kleinere Haftstrafen abgesessen. In der Zwischenzeit hatte er einen Weg gefunden, das Gefängnisleben besser zu verkraften. „Ich hatte immer geglaubt, dass mein Leben so aussehen würde, dass ich auf den Straßen Geschäfte mache und zwischendurch immer wieder im Gefängnis lande”, sagte er.

Eines Mittwochmorgens in jenem Winter griffen sieben Häftlinge, die wegen Verstößen gegen ihre Bewährungsauflagen vorübergehend in Rikers Island saßen und den rauen Umgang dort nicht gewöhnt waren, bei einer gewaltsamen Durchsuchung ein. Sie lösten einen Aufstand aus, in dessen Verlauf sich mehr als 550 Insassen mit Betten und Schränken in ihren Zellen verbarrikadierten. Sie legten der Belegschaft eine Liste mit Forderungen vor. 200 mit Schlagstöcken und Tränengas bewaffnete Wärter stürmten da­raufhin das Gefängnis. Als der Alarm schrillte, arbeitete Richards in der Küche und wurde so Zeuge des Aufstands. In nur drei Jahren war es der vierte in Rikers Island, das hauptsächlich für Untersuchungshaft und kurze Haftstrafen genutzt wird. Ein Insasse rief United Press International an, um die Gewalt in dem Gefängnis zu melden. „Die Leute haben es satt, wie die Polizei die Insassen hier verprügelt”, sagte er. „Anders kommt das nie ans Licht.”

Heute, 27 Jahre später, müssen die Bedingungen in Rikers noch immer aufgedeckt und geändert werden, und Richards ist wieder Zeuge. Doch diesmal ist er nicht als Insasse, sondern zur Überwachung dort. Im Mai wurde er vom New York City Board of Correction, der zivilen Überwachungsorganisation, die Mindestanforderungen für New Yorker Gefängnisse festlegt, zum Mitglied ernannt. Richards hat sich seit seiner Entlassung 1991 der Verbesserung der Lebensbedingungen der Insassen verschrieben. Als er seine viereinhalbjährige Strafe für Raub abgesessen hatte, wegen der er 1988 beim Aufstand in Rikers zugegen war, hatte er mehr als zehn Jahre in New Yorker Gefängnissen verbracht. Während dieser Zeit hatte er seine Hochschulreife und einen Uniabschluss gemacht (er hatte das Glück, ein Stipendium zu erhalten, bevor Clintons Gesetzesreform 1994 Häftlinge davon ausschloss) und erkannt, dass er sich nicht mit einem Leben ständiger Haft abfinden musste. Nach seiner Entlassung bekam er einen Job bei der Fortune Society, einer NGO, die ehemaligen Häftlingen bei der Wiedereingliederung und Stellensuche hilft. Es war der Anfang einer 24-jährigen Karriere, in der er sich um die Reformierung eines Systems bemühte, das ihn hinter Gittern hatte halten wollen.


Alle Fotos aus Behind These Prison Walls von Lorenzo Steele Jr., einem ehemaligen Justizvollzugsbeamten von New York City, der 1987 bis 1999 in Rikers Island diente. Viele der Bilder zeigen die brutalen Bedingungen, unter denen Insassen in der Einzelhaft leiden.

Als Alexander Rovt, ein milliardenschwerer Immobilieninvestor, der seit 2005 Mitglied des Board of Correction (BOC) gewesen war, dieses Jahr seinen Rücktritt bekannt gab, setzten Fürsprecher die Stadtratsvorsitzende Melissa Mark-Viverito unter Druck, ihn durch jemanden zu ersetzen, der selbst eine Haftstrafe hinter sich hatte. Für den Großteil ihrer 58-jährigen Geschichte hat die Organisation Entscheidungen zu den Haftbedingungen in New York getroffen, ohne dass unter den neun Mitgliedern ein ehemaliger oder aktueller Häftling gewesen wäre. „Um effektive Regeln für die Strafjustiz aufzustellen, sollte man die Menschen mit einbeziehen, die von diesen Regeln betroffen sind”, sagte Johnny Perez, ein Mitglied der Jails Action Coalition, der mit 16 in Rikers inhaftiert war.

Diesen Frühling stellte der Stadtrat Daniel Dromm der Vorsitzenden Richards vor, die ihn angesichts seiner Erfahrung sowohl inner- als auch außerhalb der New Yorker Gefängnisse bald da­rauf als Rovts Nachfolger auswählte. Richards ist das erste vom Stadtrat ernannte Mitglied, das früher inhaftiert gewesen ist. „Ich hoffe, diesem Rat eine realistische Perspektive geben zu können”, sagte mir Richards. „Ich werde ihnen sagen, wie es auf der Insel zugeht, wie es ist, wenn zusätzliche Einschränkungen auferlegt werden, wie es ist, wenn jemand zur Strafe in die Einzelhaft muss, denn ich wurde mit Einzelhaft bestraft.”

Das Board of Correction wurde 1957 gegründet, um die Aufsicht über die Gefängnisbehörde der Stadt zu übernehmen, weil man sich sorgte, wegen der Überfüllung der Haftanstalten könne es zu Aufständen kommen. Es hatte bereits kleinere Zwischenfälle gegeben. Die ersten neun zivilen Mitglieder des Rats, die allesamt von Bürgermeister Robert Wagner ernannt wurden, hatten wichtige Positionen in den karitativen, politischen und religiösen Einrichtungen der Stadt.

Die damals von der Gruppe behandelten Themen zeigen, wie wenig sich in den vergangenen 50 Jahren im Justizsystem von New York geändert hat. Im ersten, 1958 veröffentlichten Bericht empfahl das BOC, Kautionen abzuschaffen und nur Leute aufzunehmen, die ein Verbrechen gegen eine andere Person begangen hatten. 1960 rief der Rat zu „erneuten Bemühungen, allen Insassen so schnell wie möglich den Prozess zu machen” auf. Heute werden jedes Jahr 45.000 Personen nach Rikers verwiesen, weil sie sich die Kaution zum Zeitpunkt der Anklage nicht leisten können, und 1.500 der aktuell etwa 9.000 Insassen warten dort bereits seit mehr als einem Jahr auf ihren Prozess. Die Bronx, wo Richards Ende der 1980er angeklagt wurde, hat von den fünf New Yorker Bezirken die meisten Verzögerungen: Mehr als 70 Prozent der Fälle verstoßen gegen die Vorschriften des Bundesstaats zur schnellen Prozessabwicklung.

Der Rat ist heute weiterhin die Hauptauf­sichtsinstanz für Rikers und die anderen Gefängnisse der Stadt und hat dank der Stadt­satzung von 1977 auch zusätzliche Befugnisse. Er gibt der Gefängnisbehörde Department of Corrections (DOC) Mindestanforderungen und Regeln vor, an die sie sich halten muss. Richards ist zu einer Zeit Mitglied des Rats geworden, als mehr prüfende Blicke auf Rikers gerichtet sind denn im gesamten vorherigen Jahrzehnt. Letztes Jahr veröffentlichte die Bundesstaatsanwaltschaft für den Südbezirk von New York einen Bericht, in dem es Rikers „eine kaputte Institution” nannte, „in der rohe Gewalt den ersten Impuls statt den letzten Ausweg darstellt; wo verbale Beleidigung mit Körperverletzung vergolten wird; wo Schläge Routine sind und Verantwortlichkeit selten; und wo eine Kultur der Gewalt zusammen mit einem Kodex des Schweigens existiert”. Vier Monate später zeigte das Justizministerium die Stadt wegen der „tief verwurzelten Kultur der Gewalt” in ihren Gefängnissen an.

Diesen März stellten Bürgermeister Bill de Blasio und der Commissioner des DOC, Joseph Ponte, ein Reformpaket mit 14 Punkten vor. Zu den vorgeschlagenen Änderungen gehören Einschränkungen des Rechts der Insassen auf Besuche mit Körperkontakt und auf Paketempfang, da so die Zahl der Waffen im Gefängnis reduziert werden könne. Weil der Plan eine Änderung der Mindestanforderungen für Rikers vorsieht, bedarf es der Zustimmung des BOC.

Am Morgen des 14. Juli versammelten sich Justizvollzugsbeamte, Fürsprecher und Anwälte in einem Hörsaal in Südmanhattan zu Richards’ zweiter Versammlung als Mitglied des Board of Correction. Die Gruppe besprach, ob sie für die vom DOC vorgeschlagenen Einschränkungen in Rikers eine Regeländerung genehmigen sollte. Bevor der Rat entschied, ob er die Vorschläge überhaupt in Betracht ziehen würde, bat dessen Vorsitzender, Stanley Brezenoff, die anwesenden Fürsprecher um Kommentar. So teilten die Legal Aid Society, ein Stadtratsmitglied, eine Sozialarbeiterin der Brooklyn Defenders Services und andere dem Rat der Reihe nach mit, sie seien gegen die Änderungen, und drängten ihn, dagegen zu stimmen.

Als die Ratsmitglieder an der Reihe waren, ihre Meinungen mitzuteilen, stimmte Richards gegen die Änderung. Während einige Mitglieder sagten, sie würden dafür stimmen, da sie dem Ruf des Commissioners als Reformer trauen würden, gab Richards zu bedenken, dass die Formulierung von Verordnungen zu den Ausnahmefunktionen des Rats gehöre und dass das DOC es nicht ausreichend gerechtfertigt habe, „die vielen Besucher einzuschränken, die geliebte Menschen im Gefängnis aufsuchen”. Außerdem habe eine Analyse des New Yorker Department of Investigation gezeigt, dass das wahre Problem in Rikers nicht Waffen sind, die von den Besuchern hineingeschmuggelt werden, sondern von den Gefängniswärtern. Richards sagte mir später, Ponte würde „versuchen, in eine Anstalt für vo­rübergehende Haft eine Hochsicherheitsmentalität einzuführen”. Die meisten Menschen in Rikers sind keines Verbrechens für schuldig befunden worden und nur inhaftiert, weil sie sich die Kaution nicht leisten können. „Man sollte ihnen die Unschuldsvermutung zuteil werden lassen und sie sollten dieselben Rechte und Privilegien haben wie alle anderen Bürger”, sagte er.

Als Richards in Rikers war, durften Insassen sich ohne Begleitung durch die Haftanstalt bewegen. Heute müssen sie von Wärtern herumgeführt werden. Als Richards als Ratsmitglied 30 Jahre später dorthin zurückkehrte, fiel ihm auf, wie sehr solche Regeln die Stimmung verändert haben. „Was die Hoffnung angeht, ist hier nun alles düsterer”, sagte er. „Es gibt weniger Bewegung und Fokus auf zweite Chancen und viel mehr Bestrafung. Wenn du dort hineinkommst, siehst du Insassen, die an keine Veränderung mehr glauben. Sie glauben, ihre Zukunft sei in dieser Zelle, in der Haft.”

An Ende stimmten nur zwei andere Mitglieder Richards in seiner Ablehnung der Änderungen zu. Obwohl sie ihre Bedenken und Sorgen bezüglich der DOC-Vorschläge und Regelverstöße zum Ausdruck bringen, stimmt der Rat beständig für die Gefängnisbehörde. Zwar ist der Rat ermächtigt, die Mindestanforderungen festzulegen, doch es passiert herzlich wenig, wenn das DOC sich an diese nicht hält. „Das einzige Mittel, das uns zur Verfügung steht, wenn [das DOC] die Anforderungen missachtet, ist eine Unterhaltung”, sagte mir Richards ein paar Wochen nach der Ratsversammlung im Juli.

„Wir versichern uns, dass sie sich an unsere Anforderungen halten, und wenn nicht, dann sprechen wir sie darauf an.”

Manchmal entschuldigt sich das DOC und hört sofort mit den Regelübertretungen auf. In anderen Fällen entschuldigt sich das DOC, und dann sehen Ratsmitglieder Wochen später bei einem Besuch in Rikers dieselben Probleme. Als ich fragte, wie man das ändern könne, schlug Richards vor, der Rat müsse ermächtigt werden, Sanktionen gegen das DOC zu verhängen, wenn die Verhältnisse im Gefängnis nicht den Anforderungen entsprächen, doch diese Idee hat nicht viel Zuspruch gefunden.

Letzten Dezember hat der erste ge­schäftsführende Direktor des Board of Correction, John Brickman, bei einer Anhörung zur Einrichtung einer erweiterten Überwachungseinheit für Rikers vor dem Rat ausgesagt. Brickman sah darin, wie viele andere auch, eine neue Art der Einzelhaft und rief den Rat auf, dagegen zu stimmen. Er nutzte seine Aussage auch als Gelegenheit, der Organisation ein paar Ratschläge zu geben. „Sie als Rat sind sehr effektiv und sie haben die besten Chancen, Veränderungen durchzusetzen, wenn Sie sich Ihren Abstand vom Department of Corrections bewahren. Es muss eine gesunde Spannung geben”, sagte er ihnen. „Der Rat hat seinen größten Einfluss ausgeübt, wenn er seine Unabhängigkeit vom Department und auch vom Stadtrat demonstriert hat.”

Trotz Richards’ Frust angesichts der Vorgehensweise des Rats stimmt er nicht mit Brickman überein. Um Rikers in Ordnung zu bringen, sagte er mir, müsse er mit dem Commissioner und dem Bürgermeister zusammenarbeiten. Richards Gefängniserfahrung hat ihn nicht zum Werkzeug zur „Aktivisten-Abspeisung” gemacht, das Brickman gern gehabt hätte. Er war im Gefängnis, nun ist er im System—und setzt darauf, von hier aus Rikers verändern zu können.