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Der Mann mit dem Loch im Magen

Für den wissenschaftlichen Fortschritt sind des Öfteren einige Opfer nötig. So dokumentierte der Schlangenforscher Karl Schmidt seinen eigenen Tod minutiös nach einem Reptilienbiss. Doch manchmal kommt auch der Zufall der Forschung zupass, und das Untersuchungsobjekt wird dem Arzt schicksalhaft direkt vor die Linse gesetzt—und zum lebenden Versuchskaninchen, ob es ihm passt oder nicht.

So geschehen im Jahr 1822, als dem jungen kanadischen Trapper Alexis St. Martin eine Gewehrkugel aus einem Meter Entfernung ein Loch in den Magen bohrte. Der Schuss mit Entenschrot hatte sich versehentlich aus dem Gewehr gelöst, als der zu diesem Zeitpunkt circa 20-Jährige in der Zentrale seines Arbeitgebers, der Amerikanischen Pelz-Gesellschaft, vorbeischaute.

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Der herbeigerufene Arzt, ein gewisser Herr Beaumont, entfernte dem Verunfallten zwar umgehend alle abgesplitterten Rippenstücke, Hautfetzen und die Munition, rechnete ihm jedoch eine magere Überlebensprognose von gerade mal 36 Stunden aus.

Alexis St. Martin in jungen Jahren | Bild: Wikipedia | Public Domain

„Ich wurde gleich nach dem Unfall zu ihm gerufen. Fand einen Teil der Lungen, so groß wie ein Truthahnei, aus der externen Wunde herausschauen, zerfetzt und verbrannt. Darunter befand sich eine Vorstülpung, die wie ein Teil des Magens aussah. Ich konnte auf den ersten Blick gar nicht glauben, dass sich das Organ in diesem Zustand befand und die Person überhaupt noch lebte. Es handelte sich jedoch wirklich um den Magen, der ein so großes Loch hatte, dass ich dort meinen Finger hineinstecken konnte, mit dem ich dann etwas von dem Essen, das er zum Frühstück zu sich genommen hatte, herausholte. Ich schätzte die Lage so ein, dass es völlig unmöglich sei, ihm das Leben zu retten”, wird Beaumont in dem 1912 erschienenen Buch Life and letters of Dr. William Beaumont zitiert.

Dr. William Beaumont | Bild: Wikipedia | Tom Jones – NYPL Digital Gallery | Gemeinfrei

Wundersamerweise erholte sich St. Martin jedoch nahezu vollständig. Lediglich das Loch blieb erhalten und erinnerte noch an die Verletzung. Es hatte sich eine permanente Fistel herausgebildet, eine „röhren- oder röhrennetzartige Verbindung zwischen einem inneren Hohlorgan und anderen Organen”—beziehungsweise der Körperoberfläche, die einen direkten Zugang durch die Haut zum Inneren des Magens freigab. Ein Geschenk des Himmels, wie der Arzt William Beaumont, der seinen Patienten vorsorglich in seiner Obhut behalten hatte, schon bald feststellen sollte.

Schon in seinen ersten „Lehrjahren” hatte sich Beaumont sein medizinisches Fachwissen in erster Linie durch praktische Untersuchungen anstelle dem Studium von Büchern angeeignet. Er lernte durch das genaue Beobachten von Menschen und führte in seinen Jahren als Militärarzt zahlreiche Autopsien durch, wie in dem Fachbuch Clinical Methods beschrieben wird. Dennoch kannte der Militärchirurg Beumont auch die europäische Medizinliteratur und war mit der Debatte um die Geheimnisse der Verdauung vertraut. Anfang des 19. Jahrhunderts existierte noch kein Wissen darüber, in welcher Form die aufgenommene Nahrung im Körper verarbeitet und verdaut wird. So wurde in Fachkreisen darüber diskutiert, ob diese im Magen vielleicht wie in einer Mühle zerkleinert wird, wie in einem Kochtopf zerkocht oder gar wie in einem Gärbottich chemisch zerlegt. Bisher hatte noch kein Mediziner den Verdauungsprozess am Menschen beobachten können.

In dieser Zeit ließ es sich Beaumont nicht nehmen, einige morbide Pionierarbeit am lebenden Subjekt durchzuführen und stürzte sich auf die vernarbte Schusswunde St. Martins. Dass sein Patient als Trapper arbeitsunfähig geworden war, nutzte der Forscher aus—und präsentierte ihm einen Vertrag, in dem er sich als Diener und Versuchskaninchen in den Dienst Beaumonts stellen sollte. Dem durchlöcherten St. Martin blieb kaum eine Wahl—er unterzeichnete. Drei Jahre nach dem Schrot-Unfall führte der Mediziner die ersten Experimente an dem Trapper durch. „Während dieser Zeit und den Intervallen der Untersuchungen, führte er [St. Martin] alle Pflichten eines gewöhnlichen Knechts aus, Holzhacken, Lasten tragen etc. Er erlitt dabei kaum Beeinträchtigungen durch seine Wunde”, ist in Doctors on Horseback: Pioneers of American Medicine nachzulesen.

Eine Zeichnung seines Studienobjekts von William Beaumont | Bild: Wikimedia | CC BY 4.0

Beaumont beschreibt, wie sich der Magen aus der Wunde herausstülpt | Bild: Wikimedia | CC BY 4.0

Am 1. August 1825 um zwölf Uhr mittags befestigte Beaumont „ein Stück stark gewürztes Rindfleisch, ein Stück rohes, gesalzenes Schweinefett, ein Stück altes Brot und ein Stück rohen Kohl”, an einem Seidenfaden, und bugsierte alles durch die Fistel in St. Martins Magen, schreibt der Medizinjournalist Rainer H. Bubenzer. Zwei, drei Stunden später zog er das Essen wieder heraus und konnte fasziniert feststellen, dass die Magensäfte hervorragende Verdauungsarbeit geleistet hatte. In einem anderen Versuch zapfte Beaumont seinem Patienten Magensäure durch das praktische Loch ab und legte ein Stück Corned Beef (gepökeltes Rindfleisch) hinein. So fand er in seinen Untersuchungen heraus, dass für die Verdauung nicht die „Lebensenergie” verantwortlich ist (wie es bis dato eine weit verbreitete Annahme gewesen war), sondern die Nahrung vom Magensekret zersetzt wird. Diese Erkenntnis war revolutionär.

Nachdem der Doktor seinen Wissensdurst ein Jahr lang dank des Gucklochs in den Magen St. Martins stillen konnte, verschwand sein lukratives Versuchskaninchen von einem Tag auf den anderen. Erst drei Jahre später spürte der Mediziner seinen Knecht mit der wertvollen Öffnung wieder auf, der sich inzwischen mit Frau und zwei Kindern in Kanada angesiedelt hatte. Es bedurfte Beaumont, der scheinbar jegliche ethische Bedenken zugunsten der Wissenschaft vernachlässigt hatte, einiger Überzeugungsarbeit und finanzieller Anreize, um St. Martin endlich wieder in seine Obhut zu bekommen. Dieser erklärte sich nach einem wohl unschlagbaren Angebot jedoch ein weiteres Mal bereit, die Untersuchungen weiterhin über sich ergehen und sich diverse Lebensmittel in den Magen stecken zu lassen.

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Der heute gerne als Vater der Magenphysiologie bezeichnete Beaumont führte insgesamt 238 Experimente an St. Martin durch, die er minutiös beschrieb und in den beiden Bänden Experiments and Observations on the Gastric Juice and the Physiology of Digestion veröffentlichte. Viele seiner Erkenntnisse wurden in späteren Jahren durch fortgeschrittenere Untersuchungsverfahren bestätigt—seine Bücher gelten als Grundstein der Gastroenterologie.

So fand Beaumont beispielsweise heraus, dass die wichtigste chemische Komponente in der Verdauung die Salzsäure ist und entdeckte die Existenz einer zweiten Chemikalie, welche später als das Enzym Pepsin bekannt werden sollte. Sein wichtigstes Versuchsinstrument, den jungen Trapper, erwähnte er jedoch kein einziges Mal.

Alexis St. Martin mit seiner Fistel | Bild: Wikipedia | Public Domain

Ironischerweise wurde Beaumont, der im Alter von 68 Jahren bei einem Glatteis-Sturz tödlich verunglückte, von seinem Versuchskaninchen um einige Jahre überlebt. Da sich die Quellenangaben über das wirkliche Alter St. Martins nicht einig sind, lässt sich lediglich sagen, dass er auf jeden Fall in seinen 80ern war, als der Vater zahlreicher Kinder das Zeitliche segnete.

Sein Loch im Magen nahm er mit ins Grab, nachdem seine Kinder die Beerdigung so lange hinausgezögert hatten, dass die aufgebahrte Leiche bereits zu verwesen begann. Erst dann ließen sie ihren Vater in 2,5 Meter Tiefe unter dicken Steinen vergraben—angetrieben von der Angst, auch sein Leichnam könnte noch für weitere wissenschaftliche Untersuchungen missbraucht werden.

Die Forschungen Beaumonts zeigen nicht nur, dass hier die richtige Person zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen ist, sondern werfen auch Diskussionen über die Grenzen ethischer Forschungspraktiken zugunsten neuer Erkenntnisse auf. St. Martin wurde schließlich von dem Mediziner als seine persönliches Laborratte gehalten, wozu er sich durch diverse Geldgeschenke überreden ließ. Der bedeutende medizinische Pionier legte jedoch einen wichtigen Grundstein für die Gastroenterologie. Er gilt als der erste Physiologe Amerikas und steht mit seinem Namen auch heute noch Pate für verschiedene moderne Forschungsinstitutionen.