Seine erste Leiche sah Mingma David Sherpa, als er 2010 den Everest bestieg. Der damals 20-Jährige wusste, dass der Weg zum Gipfel mit über 200 Toten gesäumt war. Bergsteigende verwenden die Verunglückten mit ihrer grellbunten Funktionskleidung oft, um Entfernung und Höhe abzuschätzen. Als er zum Beispiel “Green Boots” sah, die Leiche eines indischen Bergsteigers mit neongrünem Schuhwerk, wusste er, dass er die sogenannte Todeszone erreicht hatte, 8.000 Meter über dem Meeresspiegel.
“Ich fühlte mich schlecht”, sagt Mingma, als er sich daran erinnert, wie er einen leblosen Körper nach dem anderen passierte – alle eingefroren im Augenblick ihres Todes. “Ich kam an mehreren Menschen vorbei, die in Not gekommen waren, aber nicht gerettet werden konnten.”
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2016 wurde Mingma vom australischen Fernsehproduzenten Anthony Gordon angeheuert, um das erste Sherpa-Rettungsteam der Welt zusammenzustellen. Das siebenköpfige Team wurde mit Kameras ausgestattet und die Aufnahmen von ihren Rettungseinsätzen zur Dokumentation Everest Air zusammengefügt.
Mingmas Team rettete und barg die Körper von 52 Menschen vom Everest und dem benachbarten Makalu, dem fünfthöchsten Berg der Welt. Die Sherpas hatten aber nicht nur mit dem unzugänglichen Terrain zu kämpfen, sondern auch mit der ständigen Bedrohung durch den menschengemachten Klimawandel. Erst im Jahr davor hatte das ungewöhnlich warme Wetter eine Lawine am Khumbu-Eisbruch ausgelöst. 16 Menschen starben.
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“Du kannst nicht mehr voraussagen, was passieren wird”, sagt Mingma. “Manchmal gibt es zu viel Schnee in den Bergen, manchmal weniger.”
Das Tauwetter fördert Leichen zutage, manche von Menschen, die seit Jahren als verschollen gelten, und dazu tonnenweise Müll: Dosen, Flaschen, Ausrüstungsgegenstände und menschliche Hinterlassenschaften. Allein in den Basislagern befinden sich über 5.000 Kilo Fäkalien.
Eine Fünfjahresstudie des International Center for Integrated Mountain Development (ICIMOD) kam zu dem Ergebnis, dass die Gletscher im Hindukusch und Himalaya rapide schmelzen. Wenn wir unseren CO2-Ausstoß nicht in den Griff bekommen, könnten sie auf ein Drittel ihrer Größe schrumpfen.
2019 starben am Everest elf Menschen beim Auf- und Abstieg. Es war eine der tödlichsten Saisons bisher. Als eine der Ursachen gelten die Staus, die sich aufgrund des großen Andrangs am Berg bilden. Im Mai ging das Foto eines solchen Gipfelstaus viral. Die nepalesische Regierung, die mit 383 Besteigungsgenehmigungen so viele wie noch nie ausgestellt hatte, wurde dafür kritisiert, sich rücksichtslos an dem fragilen Ökosystem zu bereichern. In einem Land mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von 821,40 Euro ist der Tourismus allerdings von nationalem Interesse. Everest-Expeditionen brachten Nepal, dem drittärmsten Land Asiens, allein dieses Jahr vier Millionen US-Dollar ein.
Viele sind allerdings der Meinung, dass die Verantwortung zu gleichen Teilen bei Privatunternehmern und der Zivilgesellschaft liegt. Ang Tshering Sherpa, dessen Familie in der vierten Generation davon lebt, Everest-Expeditionen anzuführen, sagt, dass die Aufräumaktionen nicht nur der Umwelt zugutekommen, sondern auch wirtschaftlich Sinn ergeben. “Wenn wir das Geschäft ausweiten müssen, müssen wir auch Verantwortung für die Umwelt übernehmen”, sagt der 73-Jährige.
“Mein Urgroßvater hat seit den 1920ern Expeditionen angeführt. Aber die erste große Aufräumoperation wurde 1996 von der Nepal Mountaineeing Association durchgeführt. Ich war zusammen mit rund 40 anderen Sherpas beteiligt. Wir haben etwa sieben Tonnen Müll weggeschafft.”
Die Aktion kostete Tausende Dollar und wurde privat finanziert. Da sich die Regierung bislang nicht darum kümmert, können derartige Unternehmungen nur sporadisch durchgeführt werden.
Seit 2008 hat Ang Tsherings Reiseagentur, Asian Trekking Pvt Ltd, 20 Prozent ihrer Profite an die jährlichen Aufräumaktionen gespendet. Die “Eco Expeditions” der Agentur haben seitdem über 20 Tonnen Müll gesammelt, der sich über dem Basislager angehäuft hatte. Außerdem bargen sie sieben Leichen in über 8.400 Metern Höhe. “Die Bergung in solchen Höhen ist nicht leicht”, sagt Tshering. “Aufgrund des Eises kann der gefrorene Körper eines durchschnittlichen Menschen bis zu 160 Kilo wiegen. Aber die Sherpas tun es für die Umwelt.”
Angetrieben von mehreren solcher freiwilligen Aktionen führte die nepalesische Regierung 2014 eine Regel ein, dass jede Trekking-Gruppe vor dem Aufstieg 4.000 US-Dollar Pfand hinterlegt. Diesen bekommt man zurück, wenn jede Person aus der Gruppe mit acht Kilo Müll zurückkehrt. Um das Problem mit den menschlichen Ausscheidungen in den Griff zu kriegen, sind die Bergsteigenden dringend dazu angehalten, alles in Beuteln zu sammeln und nach dem Abstieg zu entsorgen. Laut Tshering Tenzing Sherpa, Koordinator bei der NGO Sagarmatha Pollution Control Committee, sind die Maßnahmen effektiv.
Anfang dieses Jahres wurde die NGO von der Regierung damit beauftragt, eine Reinigungsaktion durchzuführen. Im Frühling, als die Route zum Everest für Besteigungen geöffnet wurde, durchsuchte ein achtköpfiges Team die Berge und kehrte mit zehneinhalb Tonnen Müll und sieben Leichen zurück. Tshering Tenzing sagt, dass er plane, diese Aktionen noch mindestens fünf weitere Jahre fortzuführen.
Trotzdem befinden sich Schätzungen der Everest Summiteers Association zufolge immer noch rund 30 Tonnen Müll auf dem Berg. Vergangenen Monat verbot die nepalesische Regierung die Verwendung von Einwegplastik im Everest-Gebiet. Um die Zahl der Todesfälle zu verringern, sollen Genehmigungen nur noch an Menschen ausgegeben werden, die bereits mindestens einen 6.500 Meter Gipfel in Nepal bestiegen haben.
Aufklärung, Umweltbewusstsein und nachhaltige Bemühungen seien am Ende immer noch die effektivsten Lösungen, sagt Tshering Tenzing. “Der Everest ist Nepals Mutter. Wir müssen sie retten.”
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Update, 05.02.2020: In einer früheren Version dieses Artikels haben wir geschrieben, dass in der Saison 2019 die meisten Menschen gestorben sind. Das ist falsch. Wir haben die entsprechende Stelle geändert.