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Unsere diesjährige Fotoausgabe beschäftigt sich mit Vorbildern. Wir haben Nachwuchsfotografen und -fotografinnen gefragt, wer sie inspiriert hat, diesen Beruf zu ergreifen. Wir haben ihre Idole kontaktiert und dazu eingeladen, ihre Arbeit ebenfalls bei uns zu veröffentlichen. Das Ergebnis ist ein Dialog darüber, wie sich ältere und jüngere Künstler gegenseitig beeinflussen.
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Im April 2014 hatte Luisa Dörr den Auftrag, den Schönheitswettbewerb “Miss Brasil Infantil” (Junge Miss Brasilien) zu fotografieren. Sie war schon vor Beginn des Wettbewerbs vor Ort, denn auch die Mädchen im Publikum interessierten sie. Eine Zuschauerin fiel ihr besonders auf: Maysa Martins, eine Elfjährige in einem hübschen grünen Kleid. Dörr sprach Maysa an und fotografierte sie draußen unter einem Baum. Maysa erzählte, sie hoffe, eines Tages selbst Miss Brasilien zu werden. Schon als Kleinkind habe sie davon geträumt und vor der Kamera posiert. Allerdings gab es da ein Problem.
Beim Wettbewerb erfuhr Dörr, dass schwarze Teilnehmerinnen in einer eigenen Kategorie antreten mussten. Obwohl etwa die Hälfte aller Menschen in Brasilien sich selbst als “schwarz” oder “gemischt” bezeichnet, ist Rassismus in dem Land sehr verbreitet. Kinder wie Maysa, die in der Favela Brasilândia in São Paulo lebt, führen eine Existenz am Rande der Gesellschaft. Manche Eltern versuchen, ihre Familie durch ihre Kinder zu retten, und hoffen für sie auf lukrative Karrieren als Fußballspieler oder Schauspielerin.
Ein paar Monate nach dem Wettbewerb kontaktierte Maysas Mutter Dörr und bat sie, Fotos für das Model-Portfolio ihrer Tochter zu schießen. Sie wollte 2015 an der Wahl zur Jungen Miss Brasilien teilnehmen. Dörr erklärte sich bereit, die Fotos gratis zu machen. Was als einfacher Gefallen begann, wurde zu einer dauerhaften Zusammenarbeit und engen Freundschaft. Sechs Monate später gewann Maysa die Wahl zur Jungen Miss São Paulo in der Kategorie “Schwarze Schönheit”; der kleinere Regionalwettbewerb hatte dieselbe Einteilung nach Hautfarbe wie Junge Miss Brasilien. Der landesweite Wettbewerb wurde jedoch zur Enttäuschung für Maysa: Der Organisator verschwand und die Misswahl gibt es nicht mehr.
Doch 2017 durfte Maysa live im brasilianischen Fernsehen vor einer Jury über den Laufsteg gehen. Sie erhielt einen Modelvertrag und die Gelegenheit, ihre Geschichte zu erzählen.
Als Sage Sohier Mitte der 1980er anfing, schwule und lesbische Paare zu fotografieren, war das Thema für sie sehr persönlich. Doch erst nach einiger Zeit verstand sie, wie sehr das Leben ihres Vaters sie zu dem Projekt motiviert hatte. Der Weltkriegsveteran und Anwalt hatte sich von ihrer Mutter getrennt, als Sohier ein Kleinkind war. An die Stelle der jungen Frauen, die sie manchmal an seiner Seite sah, traten irgendwann junge Männer. Meist stellte er sie als “Arbeitskollegen” vor. Sohier fand schließlich Mitte der 1970er heraus, dass ihr Vater schwul war. Er wohnte im Laufe der Jahre mit einer Reihe von Partnern zusammen, bekannte sich seiner Familie gegenüber aber niemals direkt zu seiner Sexualität.
Sohiers Band mit intimen Schwarz-Weiß-Porträts von homosexuellen Paaren, At Home with Themselves: Same-Sex Couples in 1980s America, erschien 2014. Entstanden sind die Fotos allerdings mitten in der Aids-Epidemie der 80er. Die Bilder brechen mit den damals vorherrschenden Stereotypen homosexueller Promiskuität: Ein Mann hat sich zum Schlafen über den Schoß seines Partners gelegt, sein Liebster fährt ihm mit den Fingern durchs Haar. Zwei Männer küssen sich auf einem Bett, ein dritter sieht skeptisch zu. Zwei Frauen liegen einander in den Armen, nackt auf einer ramponierten Matratze.
Sohier, heute 63, begann mit diesem Projekt zu einer Zeit, als die Menschen noch befürchteten, HIV sei auch durch alltäglichen Kontakt übertragbar. Die Fotografin sagt, sie habe Bilder machen wollen, die “die Menschen herausfordern und bewegen und sie sowohl visuell als auch emotional ansprechen”. Diese Fotos wurden in Sohiers Buch nicht verwendet und sind hier zum ersten Mal zu sehen.
Luisa Dörr: Warum hast du dich dazu entschieden, Fotografin zu werden?
Sage Sohier: Schon im jungen Alter faszinierte mich die Fotografie, sie erlaubte es mir, sowohl zu beobachten als auch rauszugehen und Dinge zu entdecken. Meine Eltern waren auf verschiedene Arten und Weisen sehr theatralisch. Ich konnte also ohne Probleme die Rolle der Beobachterin einnehmen, was auch zu meinem zurückhaltenden Charakter passte.
In der Schule brachte ich mir dann die Fotoentwicklung in der Dunkelkammer bei. Während des Studiums fotografierte ich für das Unimagazin. Aber erst als ich meinen ersten Fotografie-Kurs belegte, wurde mir bewusst, dass Bilder genauso viel erzählen können wie eine geschriebene Geschichte. Deswegen wollte ich in diesem Bereich weitermachen. Zwar hatte ich auch mal überlegt, Autorin zu werden, aber ich bin viel zu rastlos, um stundenlang etwas abzutippen. Außerdem finde ich es viel faszinierender und herausfordernder, mit den Menschen draußen in der Welt zu interagieren.
Du konzentrierst dich vor allem auf Menschen in ihren natürlichen Umgebungen. Was genau interessiert dich als visuelle Geschichtenerzählerin daran?
Meiner Meinung nach verraten Häuser und die Gegenstände, die sich darin befinden, viel über die Leute, die darin wohnen. Außerdem stehe ich auf komplexe Bilder. Für mich ist es eine Herausforderung, so viel wie nur möglich in ein Foto zu packen, das aber trotzdem noch funktioniert.
Du machst sowohl ungestellte Bilder als auch Porträts. Wie gehst du visuell gesehen an eine Geschichte ran?
Ich versuche, meine Porträts so psychologisch interessant wie nur möglich zu gestalten. Ich zeige gerne die Beziehungen zwischen Menschen auf – sowohl die Intimität als auch die Zwiespältigkeit. Und mir gefällt es, Leute in Situationen zu dokumentieren, in denen man sie sonst nicht sieht. Zum Beispiel in Schlafzimmern, in Kellern und so weiter.
Was ist dir wichtig, wenn du ein Porträt schießt? Ist es da besser, das Vertrauen deiner Motive zu gewinnen oder ein wenig Unbehagen zu schaffen?
Vor den Shootings unterhalte ich mich immer lange mit den jeweiligen Menschen, um herauszufinden, wie sie drauf sind und welche Bilder wohl mit ihnen möglich sind. Natürlich will ich ihr Vertrauen gewinnen und dabei hilft es ungemein, wenn sie meine bisherigen Arbeiten sehen. Ich will, dass das Fotografieren eine Zusammenarbeit ist. Deshalb höre ich auch auf die Vorschläge meiner Models, denn die sind oftmals besser als alles, was ich mir ausdenken könnte.
Zu nett darf man jedoch auch nicht sein. Man muss schon auf das Bild bestehen, das man haben will. Das bedeutet manchmal, dass ich die Leute etwas über ihre Grenzen gehen lasse. Wenn ich da jedoch genügend Enthusiasmus und Dankbarkeit an den Tag lege, dann ist das für alle Beteiligten schon in Ordnung.
Hast du bei deiner Arbeit einen roten Faden?
Auf dem Weg zu den Shootings motiviere ich mich immer selbst, indem ich mir sage: “Gib dich nicht zufrieden! Finde das eine Element, das die Bilder außergewöhnlich macht! Frage dich immer, was es noch gibt, was das Foto noch braucht!”