Die beharrliche Suche nach der Identität einer 96 Jahre alten Leiche

Als J. Todd Matthews vergangenen März auf den Friedhof von Georgetown, Kentucky, fuhr, dachte er über einen Toten nach, den man dort nur als “Some Mother’s Boy” kennt. Diese drei Worte wurden vor 96 Jahren anstelle eines richtigen Namens auf einen Grabstein gemeißelt. Dort hatte man einen 19-Jährigen beerdigt, der von einem Zug erfasst und getötet worden war.

Im Laufe der vergangenen drei Jahrzehnte hat sich Matthews viel mit dem jungen Mann in diesem Grab beschäftigt.

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Der inzwischen 47-Jährige war erst 17, als er das Grab des “unbekannten Sohnes” zum ersten Mal besuchte. Er hatte in einem Kriminalmagazin von dem mysteriösen Toten gelesen. Im gleichen Heft wurde auch von einem anderen ungelösten Todesfall berichtet: dem des “Zeltmädchens”. Diesen Namen hatte Barbara Ann Hackman Taylor aufgrund des Zelttuches erhalten, in dem ihre 1968 gefundene Leiche eingewickelt war. Matthews Interesse an ungelösten Todesfällen zieht sich wie ein roter Faden durch sein Leben. Vor 19 Jahren machte er sich das frühe Internet zunutze, um Hackmann Taylor zu identifizieren. Dabei war er weder in Polizeiarbeit noch im Bereich der Gerichtsmedizin offiziell ausgebildet.

Bis dato hat die Datenbank geholfen, 1.092 Tote zu identifizieren und 1.660 vermisste Menschen zu finden – leider mit einigen Überschneidungen.

Seitdem hat sich Matthews vom Mitarbeiter eines Automobilzulieferers zum bekannten Namen auf dem Gebiet der Leichenidentifizierung gemausert. 2007 gründete er NamUs mit, eine US-amerikanische Online-Datenbank, in der die Daten nicht identifizierter Toter mit denen vermisster Personen aus den gesamten USA abgeglichen werden. Bis dato hat NamUs dabei geholfen, 1.092 Tote zu identifizieren und 1.660 vermisste Menschen zu finden – leider mit einigen Überschneidungen.

Trotz der vielen Erfolge hat es Matthews bis heute nicht geschafft, den richtigen Namen von “Some Mother’s Boy” herauszufinden.

Vor Kurzem hat die Forschungsabteilung des US-Justizministeriums angekündigt, DNA-Tests in Vermisstenfällen dieses Jahr nicht zu finanzieren. Dennoch hat sich Matthews erneut ganz dem geheimnisvollen Grab von Georgetown verschrieben. Ihm zufolge nimmt das FBI nämlich immer noch vereinzelt Proben für Tests an – so auch die Überreste von “Some Mother’s Boy”. Die einzige Bedingung: Es müssen Familienmitglieder gefunden werden, mit denen man die Proben abgleichen kann.


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Am 10. März machte sich Matthews schließlich mit den Gerichtsmedizinern John Goble und Gary Ginn, ihren Angestellten und der Kentucky State Police auf den Weg zum kurz vor Georgetown liegenden Friedhof – mit dabei ein Bagger und Schaufeln. Dort hoben sie das alte Grab aus, das Matthews keine Ruhe lässt.

“Die Leute fragen sich, warum wir uns mit einem 96 Jahre alten Fall beschäftigen. Für mich ist das eine Chance zu zeigen, wie weit uns die forensische Wissenschaft und moderne Ermittlungsmethoden in ungelösten Fällen bringen”, erklärt Matthews, der bei NamUs derzeit als Kommunikations- und Fallmanagement-Direktor tätig ist. Wenn man eine Leiche selbst nach so vielen Jahren mit einer Identität verknüpfen kann, dann gibt das den Leuten laut Matthews Hoffnung: “Wenn es sich um ein vermisstes Familienmitglied handeln würde, dann würden viele von uns mit der Sache abschließen wollen.” Eine Identifikation bringt Gewissheit und hilft dabei.

Die meisten der bekannten Fakten zu “Some Mother’s Boy” beziehen sich auf den Zug, der ihm zum Verhängnis wurde.

In der Nacht vom 1. auf den 2. April 1921 überquerten zwei Männer die Bahnschienen von Georgetown. Einer der beiden schaffte es unversehrt auf die andere Seite, der zweite wurde von einem Zug erfasst und starb am darauffolgenden Morgen in einem nahegelegenen Krankenhaus. So stand es damals in einem Zeitungsartikel der Georgetown Times. Der andere Mann war derweilen ins gut 145 Kilometer weiter südlich gelegene Somerset gereist, wo ihn die örtliche Polizei ausfindig machte. Er gab jedoch an, den Toten nicht zu kennen und ihn erst kurz vor dessen Tod in einem Zug nahe Cincinnati kennengelernt zu haben.

Die Leiche wurde zunächst identifiziert – dennoch blieben einige Ungereimtheiten bestehen.

Den offiziellen Angaben zufolge war der Tote 1,70 Meter groß und wog knapp 50 Kilogramm. Außerdem hatte er blaue Augen, braunes Haar und einen hellen Teint. Seine Klamotten trugen das Etikett von H.M. Lindenthal & Sons aus Chicago und ein Wäschereiabzeichen mit dem Namen “Jones”. Auf seiner Uhr waren zudem die Buchstaben “W.A.” und “L.H.D.” eingraviert.

Die Zeitung identifizierte die Leiche schließlich als Frank Haynes aus Bronston, Kentucky, und berief sich dabei auf den Gerichtsmediziner sowie einen von der Mutter geschriebenen Brief. Eine offizielle Sterbeurkunde hat es jedoch nie gegeben. Es wurde auch nie gesagt, warum auf dem Grabstein kein richtiger Name steht.

Im August 1921 deuteten Kurzmeldungen im Cincinnati Enquirer und im Richmond Daily Register darauf hin, dass der damalige Bezirksgerichtsmediziner Ernest Ashurst den Toten als Haynes identifizierte. Im Enquirer war außerdem von der mittleren Initiale “A” die Rede. Dennoch blieben einige Ungereimtheiten bestehen.

Die Frau erkannte zwar die Kleidung, die Uhr hatte sie jedoch noch nie gesehen.

“Berichten zufolge hat Franks Vater den Toten auf Fotos erkannt, als der Gerichtsmediziner versuchte, die Identität festzustellen. Trotzdem hatte er anscheinend keine Einwände, seinen Sohn ohne Namen beerdigen zu lassen”, lässt sich in einer Presserklärung von Matthews und Goble lesen. Der Gerichtsmediziner ging dieser Spur nach und schickte ein Foto von den Klamotten und der Uhr zu Haynes Mutter. Im August 1921 bekam er eine Antwort: Die Frau erkannte zwar die Kleidung, die Uhr hatte sie jedoch noch nie gesehen.

Gut zwei Wochen später legten einige Einwohner von Georgetown Geld zusammen und finanzierten so die Beerdigung. Das Grab bekam den mysteriösen Grabstein, der bis heute übrig geblieben ist. So steht es in der Georgetown Times.

Erst diesen März wurden zur Leiche gehörende Knochenfragmente und Zähne ausgegraben und zur DNA-Analyse geschickt. “Uns steht die nötige Technik und Technologie zur Lösung dieses Falls zur Verfügung. Also müssen wir auch alles versuchen”, sagt Goble.

Der 50-Jährige Rick Haynes aus Somerset, Kentucky, kennt seinen 1921 verstorbenen Onkel Frank Albert Haynes nur aus Erzählungen. Besagter Onkel soll nördlich von Somerset von einem Zug erfasst und getötet worden sein. Der Familie war es nicht möglich, seine Überreste zu sich nach Hause zu holen.

“Nach 30 Jahren im Notfalldienst weiß ich, dass DNA-Analysen und forensische Untersuchungen selbst für alte Fälle extrem wichtig sind.”

Haynes befand sich gerade auf dem Weg nach Frankfort, als er davon hörte, dass die Leiche von Frank Albert Haynes vielleicht gefunden worden war. Das war kurz nach der Veröffentlichung eines Artikels zu dem Fall im Commonwealth Journal. “Ich erfuhr, dass die Leiche eines jungen Manns, der von einem Zug erfasst worden war, exhumiert wurde. Als Kind wusste ich noch nichts von Georgetown”, erzählt Rick Haynes. Als er dann von einer möglichen Verbindung hörte, machte er sich direkt auf den Weg, um mit Matthews und Goble zu reden.

“Nach 30 Jahren im Notfalldienst weiß ich, dass DNA-Analysen und forensische Untersuchungen selbst für alte Fälle extrem wichtig sind”, sagt Haynes. “So kann man nicht nur vielleicht mit dem Fall abschließen, sondern auch unrechtmäßige Verurteilungen aufheben.” Zwar hätten ältere Fälle womöglich nicht die höchste Priorität, aber die Technologie könne mithilfe seines Onkels weiterentwickelt werden.

Mehrere Mitglieder der Haynes-Familie wollen sich dem DNA-Test unterziehen.

“Die forensische Wissenschaft ist mehr als nur Blut und Zähne.”

Nachdem Matthews und Goble im März die Exhumierung angekündigt hatten, stießen sie auf einen weiteren Mann aus Kentucky, auf den die Beschreibung passt und der zur gleichen Zeit verschwunden ist. Owen Bennett Wheeler Junior wurde nach einem Streit mit seinem Onkel nie wieder gesehen. Die beiden wohnten 1921 zusammen, so ein entfernter Verwandter.

Die DNA-Tests sollen nächsten Monat durchgeführt werden. Währenddessen will man durch weitere Nachforschungen noch mehr Beweise dafür finden, dass die Überreste entweder zu Haynes oder zu Wheeler gehören.

“Unser Ziel ist es, der richtigen Familie eine standesgemäße Beerdigung zu ermöglichen”, erklärt Matthews. “Die forensische Wissenschaft ist mehr als nur Blut und Zähne.” Irgendwann wurde bei den Aufzeichnungen zum Tod von “Some Mother’s Boy” ein Fehler gemacht. Nun tue man alles dafür, um diesen Fehler zu korrigieren.

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