Drogen

Die Hälfte der deutschen Jugend trinkt nicht mehr: Was hat das zu bedeuten?

Junge Menschen feiern auf einem Bahnsteig in München

Früher war alles besser. Ich war jung und schön und mein Bierbauch nur ein Bauch. Als dann das Bier dazu kam, wurde es richtig gut. Es stand im Mittelpunkt meines Soziallebens, alle sprachen davon, versammelten sich darum, kreisten darum wie Motten um die blaue Brutzellampe. Denn Alkohol war cool und weil meine Freunde und ich ihn tranken, wurden auch wir cool. 

Nie werde ich den Sonntagmorgen vor etwa zehn Jahren vergessen. Ich kam mit meiner WG aus dem Club. Glücklich stolperten wir über die leeren Berliner Straßen, bis wir auf der Friedrichstraße einen Cafétisch fanden, an den vier Stühle gekettet waren. Mein Mitbewohner, ein ganz schön starker Kerl, trug das Ensemble zum Ufer der Spree und warf den Möbelkranz hinein. Wie er auf dem Wasser aufprallte, das Spritzen und Schäumen, es wird für immer untrennbar mit meiner Vorstellung von Sommer verbunden sein.

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Heute trinkt die Jugend nicht mehr. Fast die Hälfte der deutschen Menschen zwischen 18 und 24 gab bei einer YouGov-Studie an, keinen Alkohol zu trinken. Also gar keinen. Nicht hier und da mal ein Glas, alle paar Wochen ein kleiner Vollrausch, zweimal im Jahr Alkoholvergiftung. Die Jugend, ich glaube, das muss man so sagen, ist uncool geworden. Und das ist ein Problem.


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In meiner Jugend gab es noch Flatrate-Partys. Man zahlte Eintritt und dann nichts mehr. Alle Getränke waren kostenlos, wenn man von den Hirnzellen einmal absieht, die wir uns da aus der grauen Masse spülten, den blauen Flecken, die Türsteher uns zufügten, wenn wir mal wieder eine der doch ohnehin kostenlosen Flaschen auf dem Tresen gestohlen oder einen Menschen angepöbelt hatten. Alle waren da. Wir waren die Coolen. Und wir sind es bis heute, ich zumindest.

Bin ich punk?

Ein Freund meinte neulich, er finde meine Attitüde ziemlich “punk”. Wie provokant ich meinen Alkoholkonsum ausstelle, das sei einfach das, was die müffelnden Jungs und Mädels mit den roten Iros und den verlotterten Hunden täten, die ihre Tage vor den Rewes der Stadt verbringen. Er meinte das nicht nett, eher wollte sagen: Robert, dein Verhalten ist aus der Zeit gefallen. Saufen, wollte er sagen, sei nicht mehr cool.

Dabei ist Saufen doch immer noch das Beste auf der Welt. Und ja, wenn man so will, ist es “Punk”, weil man sich damit der neoliberalen Verwertungslogik entzieht. Wer säuft, kann nicht arbeiten. Wer säuft, kann sich nicht selbstoptimieren. Wer säuft, tut einfach nur das, was ihm Spaß macht, was ihn Mensch sein lässt. Ohne Rücksicht auf den Kapitalismus und dessen Zwänge. 

Und das finde ich toll. Ja, ich finde das cool. Wenn saufen Selbstbestimmtheit bedeutet, dann bin ich dabei. Natürlich ist es nicht so, als wäre ich nicht dabei, wenn es etwas anderes bedeuten würde. Saufen hatte mich seit Tag eins, als es noch aus Mixery und Smirnoff Ice bestand und auf einer dunklen Parkbank im Bonner Hofgarten stattfand. Aber mit einem bisschen Systemkritik, ein bisschen Überhöhung, saufe ich noch lieber.

Im Corona-Winter war der Suff mein einziger Lichtblick. Freitags traf ich einen Kumpel am Ufer des Berliner Landwehrkanals. Im Sommer ist das der Hipster-Hotspot. Im Winter liefen hier nur Schwäne ihre unterkühlten Runden und Alex und ich und mit uns drei Flaschen Rotwein. Es war traurig und doch war es wunderschön, denn die Gespräche retteten mich vor dem Wahnsinn, wenigstens vor einer Isolations- und Dunkelheit-induzierten Depression. Ohne den Suff hätte ich Corona nicht ertragen, ziemlich sicher. 

Und auf diese großartigen Erfahrungen, diesen Eskapismus verzichtet die Generation, die derjenigen nachfolgt, die meiner nachfolgte? Wie uncool. 

Wo sind die Alkopops?

Sie ergibt sich damit eben dem, was uns doch ohnehin das Leben schwer macht. Arbeit, Kapitalismus, dem Gefühl, nicht genug wert zu sein, wenn wir nichts Ordentliches mit unserem Leben anfangen. Kein Alkohol heißt halt volle Aufmerksamkeit, 24/7. Keine Ruhe vor dem Sturm des Kapitalismus, keine Erholung von den Strapazen des Neoliberalismus. Was tun sich diese Menschen, 18-24, da an?

Und noch schlimmer: Wie wenig solidarisch verhalten sie sich. Saufen steht als ein Zeichen gegen unsere (Selbst-)Ausbeutung. Die junge Generation entzieht sich also mit ihrem Verzicht auch ihrer Verantwortung. Die Lösung kann nur sein, dass sich Saufen wieder durchsetzt als das, was es ist: Eine coole Freizeitbeschäftigung und ein subversiver Akt. Wo sind die Flatrate-Partys? Wo sind die Alkopops? Wo sind die Mixery-Raw-Deluxes?

Als ich während meiner Journalismusausbildung einmal den erfolgreichen Abschluss eines größeren Projektes feierte, wir hatten gemeinsam ein Magazin gestaltet, besoff ich mich in Maßen über die Maßen – ein Witz, der gestattet sein muss. Wir waren nämlich in München und tranken zu viele Ein-Liter-Krüge Helles. Es war großartig, angemessen und dringend notwendig, denn wir hatten mehrere Wochen lang wirklich intensiv gearbeitet, ganze Nächte hindurch gelayoutet, redigiert, gestritten. Der Suff war ein Befreiungsschlag.

Als ich anschließend mit dem Fahrrad nach Hause fahren wollte, stürzte ich auf gerader Strecke, spürte aber keinen Schmerz und stieg sofort wieder aufs Rad. Dort merkte ich nach wenigen Metern, dass mein rechter Arm sich nicht mehr bewegen ließ und stürzte erneut auf eben diesen Arm. Zum Glück war das Krankenhaus Rechts der Isar direkt daneben. Ich ging in die Notaufnahme, ließ den Arm röntgen, Ellbogenbruch, OP, stationärer Aufenthalt, mehrere Wochen Gips. 

Wie kann man sich ablenken, wenn man stets bei Bewusstsein ist?

Kürzlich kam eine Studie des “Global Burden of Disease”-Projekts heraus, die herausgefunden haben will, dass Alkohol für Menschen unter 40 besonders schädlich sei. Hirn und Herz und Kreislauf litten darunter, hinzu kämen alkoholbedingte, na ja, Versehen: Unfälle, Schlägereien, Totschläge, solcherlei Dinge. Außerdem sterben jedes Jahr etwa 60.000 Menschen in Deutschland an den Folgen von Alkoholkonsum. Wieso entzieht sich die junge Generation diesen zweifelhaften Verheißungen? 

OK, die Antwort steht dort womöglich bereits, aber die Frage bedeutet ja mehr: Wofür braucht die Generation all die Energie? Was macht sie mit der Zeit, die sie so spart? Und womit lenkt sie sich sonst ab von den Grausamkeiten der Lohnarbeit und der Zukunftsangst durch Klimakatastrophe, Pandemien und unbezahlbare Mieten?

Hier muss man natürlich anmerken, dass die YouGov-Studie auch anerkennt, dass die Hälfte der befragten Menschen einen Migrationshintergrund aus dem türkisch-asiatischen Raum haben. Für sie ist Alkohol vielleicht schon von Haus aus weniger Thema als für mich, bei dem sich die Familie zu jedem Weihnachtsfest gottlos vom Planeten geschossen hat. 

Vielleicht ist es auch gar nicht so dumm, dass man Alkohol nicht so einen großen Einfluss auf sein Leben einräumt. Denn wenn es nur um Betäubung geht, gibt es schließlich Mittel, die weniger schädlich wirken. Cannabis zum Beispiel. Hier ist die Wahrscheinlichkeit, dass man sich beim Kiffen mit seinem besten Freund prügelt, auch deutlich niedriger. Der Kater ist auch weniger crazy, man steht zwar neben sich, aber man kotzt nicht den ganzen folgenden Tag. 

Elend, unnütz, ungeliebt

Denn auch das ist die Konsequenz des Alkohols. Einerseits entzieht man sich den Pflichten des Kapitalismus. Man kann schamlos und in trauter Atmosphäre Zeit mit Freunden verbringen, die Seele baumeln und die Leber anschwellen lassen. Doch der nächste Tag bringt einem all die Schuldgefühle, die man am Abend zuvor verdrängt hat, potenziert zurück. Man kotzt ja nicht nur, man fühlt sich elend, unnütz, ungeliebt. 

Denn wenn ich ehrlich bin – ist der Alkohol in meinem Leben viel mehr als Show? Also klar, mein Trinkverhalten ist sicher nicht gesund, ich trinke zu gern zu viel. Aber kann ich wirklich behaupten, dass ich dadurch unangepasst wäre? Ich arbeite fast 40 Stunden pro Woche, komme selten zu spät, gebe mir Mühe bei der Arbeit, obwohl ich weiß, dass sie jemand anderen sehr viel reicher macht als mich. Ich bin nicht gegen das System, ich bin ja großer Fan meines Jobs.

Aus der Zeit gefallen

Die Punk-Attitüde, wie mein Kumpel sie nannte, ist also tatsächlich eher Show. Der Wunsch, ein bisschen Souveränität zu spielen, die ich mit meinem Arbeitsvertrag – aber auch allen anderen Verbindlichkeiten in meinem Leben – längst aufgegeben habe. Meine Wohnung, meine Freundschaften, meine Beziehungen, all das ist doch das Gegenteil von der Freiheit, die die Punks vorm Supermarkt leben.

Und wenn man darüber nachdenkt, ist Suff wirklich ein Zeichen gegen das System? Oder unterstützt er dieses nicht sogar? Denn wer abends nach Hause kommt, völlig geschafft von acht Stunden Arbeit, öffnet sich das Bier ja nicht als Akt der Rebellion. Sondern als Mittel der Erholung oder gar Verdrängung und damit Vorbereitung auf den folgenden harten Arbeitstag. 

Wie in dem dystopischen Roman Schöne Neue Welt von Aldos Huxley kriegen wir einen ungesund hohen Vorrat an Drogen, die uns beruhigen und dafür sorgen, dass wir dem grausamen System nicht zu undankbar begegnen. Natürlich sieht es uns nur als Arbeitskräfte, austauschbar und wertlos, gleichzeitig will es uns gefügig halten, damit wir es nicht hinterfragen. Und besoffen wird man zwar mal laut, aber halt auch glücklich. Und spätestens am Tag danach noch müder.

OK, verstanden. Saufen ist nicht Punk. Saufen ist kein Zeichen für Freiheit. Saufen macht uns kaputt, es unterstützt das System unserer Unterdrücker, hält uns damit in unserer selbstgewählten Unmündigkeit gefangen und wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter aller Länder sich nicht bald vereinigen, dann bleibt das auch so. Aber es macht halt auch wahnsinnig viel Spaß.

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