Ich bin nach Ägypten, um ein Wundermittel gegen meine ALS zu finden

1968 erschien ein Licht in der Form einer Frau über der Kuppel der Marienkirche in Zeitun, Kairo. Sie verschwand nach zwei oder drei Minuten, doch sie erschien in der darauffolgenden Woche erneut—wieder nur für ein paar Minuten. Sie trat in der folgenden Zeit regelmäßig in Erscheinung und zog Menschenmengen an, die in dem Licht die Muttergottes sahen. Das damalige Oberhaupt der Koptischen Kirche, Papst Kyrillos VI., untersuchte die Sichtung und kam zu dem Ergebnis, sie sei tatsächlich eine Marienerscheinung. Der (muslimische) Präsident Ägyptens, Gamal Abdel Nasser, ließ Berichten zufolge als Zeichen seiner eigenen Überzeugung von ihrer Echtheit auf der gegenüberliegenden Seite eine noch größere Kirche errichten. Die ägyptische Polizei und Regierung suchten nach einer irdischen Erklärung, doch im Umkreis von mehreren Kilometern fand sich kein Projektor, der zu dieser Leistung fähig gewesen wäre. Es gibt Fotos, aber sie unterscheiden sich alle voneinander, als sei die Erscheinung zu überirdisch, um sich in einem einzigen Bild einfangen zu lassen. Sie besuchte die Kirche bis 1971, fast drei Jahre lang.

In den frühen 1990ern war ich ein religiöses Kind, das als Christin in Ägypten aufwuchs. Meine Mutter erzählte mir zu meinem Erstaunen, dass Menschen an Marienfesten immer noch in Massen vor der Kirche in Zeitun kampierten, in der Hoffnung, Maria würde erneut erscheinen. Ich war erst fünf oder sechs und die Vorstellung, die ganze Nacht in der afrikanischen Hitze eingepfercht zwischen Hunderten Menschen Gebete zu rezitieren und Kirchenlieder zu singen, klang für mich nach einem Riesenspaß. Und was, wenn sie erschien und wir sie verpassten? Meine Familie schien nicht besonders gut vorbereitet: So würde ich vermutlich nie Marias baraka, ihren Segen, bekommen.

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Wir gingen nie hin, und Maria erschien nie wieder. Doch andere Wunder umgaben mich. Im westlichen Sprachgebrauch ist das Wort „wunderbar” schon zu einem Synonym für unglaublich geworden, und „unglaublich” ist nur ein Synonym für „erstaunlich”, und „erstaunlich” ist einfach nur das Wort, das du verwendest, wenn der Barista sich erinnert, wie du deinen Kaffee trinkst. All diese Wörter sollten für etwas außerhalb unserer menschlichen Fähigkeiten stehen, doch ihr Platz in unserem Wortschatz hat sich verschoben. Bei keinem dieser Wörter würde jemand an eine übernatürliche Macht denken.

Doch in Ägypten tun sie das. Dort geschehen Wunder—und zwar immerzu. Wenn du in Ägypten eine Sorge zum Ausdruck bringst, dann fangen die Leute an, Geschichten von Gottes Werken zu erzählen. Als Kind nährten Erzählungen von Ikonen, die Öl weinten, oder Gelähmten, die plötzlich gehen konnten, meinen Glauben daran, dass die Hand Gottes oft eingriff, um unsere Belange neu zu ordnen. Du musst nur glauben.

Ich verlor meinen Glauben, als ich nach dem Studium aus dem Haus meiner Eltern auszog. Ich verlor ihn nicht in dem Sinne, dass ich ihn noch suchte—ich verlor ihn auf die Art, wie ich die Spielzeugküche meiner Kindheit verlor, als meine Familie aus Ägypten auswanderte. Einst war ich überzeugt, mein blassrosa Herd könne Eier kochen, doch das war einmal. Einst dachte ich, der Glaube könne Berge versetzen, doch das war einmal. Dennoch, an einem sonnigen Septembermorgen letzten Jahres war ich erfüllt vom warmen Trost der Religion, des Glaubens, der wundervoll wahnhaften Hoffnung.

Ich musste meinen Eltern sagen, dass mein 29-jähriges Gehirn nicht mehr richtig mit meinem Körper kommunizierte, dass es—in keiner bestimmten Reihenfolge—langsam aufhören würde, meinen Händen, meinen Armen, meinen Beinen, meinem Kiefer, meinen Stimmbändern und meiner Zunge den Befehl zu geben, sich zu bewegen. Letzten Endes würde es vergessen, meine Lungen auszudehnen, und ich würde ersticken.

Meine Eltern waren die Letzten, denen ich es sagte, denn ich war restlos überzeugt, danach sofort mit ihren Beerdigungsvorbereitungen anfangen zu können. Meine Mutter, die neben ihren Herzproblemen nur noch eine arbeitende Niere und schweren Krebs überstanden hat, würde die schlechte Nachricht nicht verkraften, da war ich sicher.


Am 12. März 1976 fand man vor der Kirche eine Bibel, die im Nil schwamm und die auf Jesaja 19,25 aufgeschlagen war: „Gesegnet sei Ägypten, mein Volk”.

Ich flog von New York zu meinen Eltern nach Cleveland, Ohio, mit meinem Rucksack und einer arabischen Übersetzung der Wikipedia-Seite über ALS. Ich war zehn, als wir Ägypten verließen, also habe ich nie gelernt, was „amyotrophe Lateralsklerose” auf Arabisch heißt. Ich hatte selbst erst ein Jahr zuvor erfahren, wofür die Abkürzung ALS stand, als ich einem Ärzteteam sagte, meine linke Hand funktioniere nicht mehr so wie früher.

Ich war kaum bei meinen Eltern angekommen, als mein Körper von Krämpfen ergriffen wurde und ich nach Luft schnappen musste, noch bevor ich die Gelegenheit hatte, die Wikipedia-Seite herauszuholen oder etwas von dem Festmahl zu kosten, das meine Mutter anlässlich meines Besuchs zubereitet hatte. Ich war außer mir und fing an zu weinen, bis meine Augen aussahen wie die einer Zeichentrickfigur und die Haut auf meinen Wangen ganz ledrig war.

„Die Ärzte sagen, die Lähmung wird sich durch meinen ganzen Körper verbreiten und dann sterbe ich”, schaffte ich in stockendem Arabisch hervorzupressen.

„Sag das nicht!”, wiederholte sie mehrmals. Ihre Augen waren trocken.

Die gesamte Woche über blieb ich in meinem alten Bett aus meiner Highschool-Zeit, ob ich schlief oder nicht, und bewegte mich nur gelegentlich ins Badezimmer.

Nachts schlief meine Mutter neben mir, unter den Leuchtsternen aus dem Geschenkartikelladen, die noch immer an der Decke klebten. Während ich Trübsal blies, ging sie ihrem Alltag nach, kochte und putzte und rief ab und zu Gott an, Ya Rab. Wenn sie in jener Woche auch nur eine einzige Träne weinte, dann sah ich sie nicht. Sie war zäh, eine Rebellin, die über die Wissenschaft spottete. Ganz gleich, was die Ärzte sagten, Gott, da war sie sicher, würde das letzte Wort haben.

„Gott hat mich noch nie blamiert”, sagte sie mit einer Überzeugung, die ich teilen wollte. Warum sollte derselbe Gott, der das Leid und die Ungerechtigkeit der Welt mitansah, meinen unbedeutenden Kummer zur Priorität machen?


Die Autorin notiert neben Heiligenreliquien ein Gebet.

Sie sagte mir, ich solle nach Ägypten gehen; sie war überzeugt, dass ich dort Heilung finden würde. Wir sprechen hier von meiner Mutter—Gott hatte sie noch nie blamiert, und nichts läge mir selbst ferner, also versprach ich ihr am Ende der Woche, dass ich losziehen und um ein Wunder bitten würde. Acht Wochen später betäubte ich meine bangen Gedanken auf dem Flug nach Kairo mit winzigen Alkoholfläschchen. Zwölf Stunden quälte mich die Sorge, dass ein Bischof, Priester oder Mönch aufdecken würde, dass mir die eine Voraussetzung für eine Wunderheilung fehlte—Glaube. Vor meiner Abreise hatte ich mit Verwandten gesprochen, die fassungslos und skeptisch reagierten, dass ich, eine junge und ansonsten gesunde Person, plötzlich eine tödliche Krankheit hatte. „Gott prüft uns, wenn wir von ihm abfallen” war der Schluss, zu dem sie alle schnell kamen. Sogar meine Cousine Evette, eine Pharmazeutin, sagte mir: „Er gibt die schlimmsten Schlachten seinen stärksten Kriegern. Also hab Vertrauen in ihn, noch vor der Wissenschaft.”

Ich rätselte, was mich ihnen als Nichtgläubige verriet. Ich hatte ihnen nie erzählt, dass ich meinen Glauben verloren hatte. Hatte ich zu sachlich über meine Krankheit gesprochen? Hatte ich einen unangebrachten Witz gemacht? Egal woran es lag, ich bezweifelte, dass ich es verbergen können würde, wenn ich um ein neues zentrales Nervensystem bat.

Ich reiste mit einer Mission nach Kairo—mein Versprechen meiner Mutter gegenüber einzuhalten. Aber ich hatte Angst, dass mein Skeptizismus schon fast an Spott grenzte. Obwohl ich auf der Suche nach Heilung war, ging ich die Sache instinktiv immer noch als Journalistin an, nicht als Pilgerin. Ich brachte es nicht einmal über mich, jemandem zu sagen, dass ich krank war. Zunächst einmal verbrachte ich fast so viel Zeit damit, wundersame Geschehnisse in Ägypten zu recherchieren, wie mit der Suche nach meinem eigenen Wunder. Ich musste nicht lange suchen: An meinem ersten Tag bestellte ich einen Wagen, der mich ins koptische Kairo bringen sollte, eine kleine Enklave historischer Kirchen und religiöser Orte, darunter die Gegend, in der sich die Heilige Familie auf der Flucht vor dem Todesurteil des Herodes versteckt haben soll. Im Auto erzählte mir mein Fahrer, ebenfalls Christ, völlig ohne Anlass: „Heute Morgen, auf meinem Weg zu Ihnen, war ich Zeuge eines Wunders.”

Ich hatte ihm nicht gesagt, warum ich in Ägypten war, dass ich krank war. Doch es war Sonntag und wir fuhren zu historischen Kirchen, also machte er seinen Smalltalk über Wunder. Er sah in seinen Rückspiegel, während er mir erzählte, wie eine Stunde zuvor ein Priester einen Exorzismus durchgeführt und einen Jungen von Dämonen befreit hatte.

Er setzte mich ab und ich erinnerte mich wieder, wie uralt und schön und seltsam das koptische Kairo war. Eine Steinmauer, dreimal so groß wie ich, umgibt den Stadtteil. Zwischen den Kirchen, die teils aus dem dritten Jahrhundert stammen, winden sich kleine Friedhöfe und Kalksteinstraßen. Ich erklomm die Stufen zur Hängenden Kirche, die so heißt, weil sie über der römischen Festung Babylon gebaut wurde. Kinder liefen mit Geld in der Hand zu der Kirche, um Kerzen zu kaufen. Auch wenn es eigentlich die Hängende Kirche der Heiligen Jungfrau Maria ist, wanderte mein Blick sofort zu der Ikone und den Reliquien der Heiligen Demiana.


Die Autorin platziert einen Zettel mit ihrem Namen neben den Überresten von Papst ­Kyrillos VI, dem Patriarchen der Koptischen Kirche von 1959 bis 1971.

Meine Eltern sagen, als meine Mutter mit meiner Schwester schwanger war, sei die Jungfrau Maria meinem Vater im Traum erschienen und habe ihm gesagt, er würde eine Tochter bekommen. Er würde sie Demiana nennen, und Demiana würde Nonne werden. Ein gesundes Mädchen wurde geboren. Sie nannten sie Demiana. Doch sie schaffte es nie ganz in den Konvent.

Deedee, wie ich sie seit unserer Kindheit nenne, ähnelt mir sehr, nur ist sie glamouröser, attraktiver und lebhafter als ich. Sie liebt Nachtclubs und glutenfreies Essen. Sie ist 18 Monate jünger als ich, doch sie behandelt mich wie die kleine Schwester. Gut, sie ist auch die Verantwortungsvollere von uns beiden. Obwohl ihre Augen mandelförmiger, ihre Wangenknochen höher und ihre Lippen voller sind, ist sie diejenige, die beleidigt ist, wenn jemand sagt, wir sähen uns nicht ähnlich. Sie liebt mich so sehr, dass sie ihren persönlichen Schwur, im Exil zu bleiben, für mich brach, um mich zum Erntedankfest in Ägypten zu treffen.

Vielleicht war es die Ikone, die meine Tränen auslöste: Die Heilige Demiana ist legendär für ihren Mut. Sie wurde auf Befehl eines heidnischen Kaisers gefoltert, weil sie sich weigerte, ihrem Glauben abzuschwören. Deedee ist mutig. Sie war die Erste aus unserer Familie, der ich von meiner Diagnose erzählte. Ich hatte versucht, sie davor zu bewahren, hatte alle Möglichkeiten erschöpft und sechs Wochen gewartet, bevor ich sie vor der ALS-Klinik des Columbia University Medical Center anrief. Sie fuhr von Washington D.C. nach Brooklyn, ohne auch nur eine Zahnbürste einzupacken. An jenem Abend gingen wir händchenhaltend zum Abendessen und träumten bei Margaritas und Tacos davon, wie ich als erste Frau von ALS geheilt werden würde.

Als ich das Bild der Demiana sah, kräuselten sich innerhalb von Sekunden meine Lippen, meine Augenbrauen zogen sich zusammen und ich weinte im Eingang der Hängenden Kirche. Seit meiner Diagnose waren vier Monate vergangen, und dieses unkontrollierbaren Ausbrechen in Tränen war größtenteils abgeklungen. Als die Nachricht noch neu war, brauchte es nichts Bestimmtes, um meine Tränen auszulösen. Ich weinte auf Gehsteigen. Ich weinte am U-Bahn-Gleis und in der U-Bahn. Ich weinte an meinem Schreibtisch und überall sonst im Büro. Einmal weinte ich in einer Bar, mit einem rosafarbenen Tequila-Cocktail in der Hand.

Fast ein Jahr lang war mein Neurologe sicher, dass meine Krankheit, solange die Schwäche sich auf meine linke Hand beschränkte, behandelbar war. Dann, eines Nachts im April, musste ich mich auf der U-Bahn-Treppe plötzlich festhalten, weil mein linkes Bein anfing zu zittern und ich das Gleichgewicht verlor.

In jener Nacht schluchzte ich den ganzen Weg nach Hause. Die Schwäche in meinem linken Bein bedeutete, dass mir die Optionen ausgegangen waren. Zwei Wochen später, am 1. Mai, wurde ich 29, und als ich die Kerzen auf meinem Kuchen ausblies, wünschte ich mir alles, nur kein ALS.


Ein 2.000 Jahre alter Brunnen in einer koptischen Kirche, die für ihre Wunder­heilungen bekannt ist.

Am 9. Juli 2014, während meines Routinetermins beim Neurologen, nahm ich endlich allen Mut zusammen und erzählte meinem Arzt von meinem zitternden Bein. Ich sehe noch genau den Ausdruck in seinen Augen vor mir, als er meine Reflexe testete und meine Füße jeweils einmal zuckten. Er trat ein paar Schritte zurück und sagte: „Es scheint, als hätten Sie Symptome der oberen Motoneurone.”

Für die meisten hätte sich das wohl wie medizinisches Kauderwelsch angehört, doch ich hatte genug gelesen, um zu wissen, dass diese Worte den Untergang bedeuteten. „Meinen Sie ALS?”, fragte ich. Er nickte.

Als er mich nicht dazu bringen konnte, mit dem Weinen aufzuhören, fragte er: „Sagen Sie, was ist eigentlich zurzeit in Nahost los?” Ich war baff und hörte auf zu weinen. „Alles dort fällt auseinander. Genau wie mein Körper”, antwortete ich.

Ich verließ die Praxis alleine und verwirrt. Ich rauchte Kette, trank Champagner und verbrachte den Rest des Tages verärgert darüber, wie wenig die Unterhaltung, die ich gerade durchgemacht hatte, der Darstellung in Ärzteserien entsprach. In den folgenden sechs Wochen suchte ich die besten Neurologen auf, die ich finden konnte, und wenn einer sagte, wir sollten einen Test wiederholen, dann schlug ich vor, gleich alle zu wiederholen. Ich wollte einfach nicht Deedee anrufen und ihr die schlimmste Nachricht überhaupt überbringen müssen.

Ich hörte mir in der Kirche einen Vortrag an, da ich etwas über die Geschichte und die Macht dieses Ortes lernen wollte, aber nicht gewillt war, jemandem meine eigene Geschichte zu erzählen. Einer der Priester, die den Vortrag hielten, erspähte mich und bedeutete mir, mich an der Führung zu beteiligen. Obwohl ich aufgehört hatte zu weinen, hielt er durchgehend Augenkontakt mit mir, während er sprach. Er war komplett in schwarz gekleidet und hatte einen langen Silberbart und große, braune Augen. Ich saß da und hörte zu, wie er erzählte, wann die Kirche erbaut wurde, welche Eigenschaften die innere Vorhalle hat und dass ein Gemälde der Jungfrau Maria auf einer Marmorsäule eines der unerklärlichen Details der Kirche sei. Auf einer der 13 Säulen der Kirche gab es ein Marienporträt mit überproportional großen Augen und Ohren und einem winzigen Mund, wie es in der koptischen Kunst üblich ist. Doch der Priester sagte, niemand wisse, wie oder wann dieses Heiligenbild entstanden sei—denn, so erklärte er, es sei unmöglich, auf Marmor zu malen.

„Ein Engel könnte es gemalt haben oder die Jungfrau selbst oder ein Mensch”, sagte er. „Wir können es einfach nicht mit Sicherheit wissen.”

„Das wäre dann wohl ein Wunder”, sagte eine Frau mitt­leren Alters wie bestellt.


Maximus Mahros, der ehrenamtlich am Brunnen arbeitet, füllt eine Plastikflasche für die Autorin.

Der Priester stimmte zu und setzte seine Führung in einem anderen Teil der Kirche fort. Ich blieb zurück und schoss Fotos von dem wundersamen Marienbild, das in klare Plastikfolie gehüllt war, wie die guten Möbel im Kairoer Haus meiner Großtante, als ich klein war. Es mag idiotisch klingen, doch ich glaubte ihm. Ich machte Bilder mit meinem iPhone wie irgendein ehrfürchtiger Teenie-Fan, anstatt zu googeln: „Ist es möglich, auf Marmor zu malen?”

Nach seinem Vortrag wollte ich mein Leben in Brooklyn aufgeben und stattdessen in der Kirche den Boden schrubben. Etwas an der Geschichte hatte mir das Gefühl gegeben, gleichzeitig sowohl unbedeutend als auch mächtig zu sein, und hatte meine Schmerzen relativiert. Wen interessierte es, wenn ich starb? Engel malten Marmorgemälde.

Ich verließ die Kirche dann, um in einer weiteren Marienkirche des koptischen Viertels aus einem 2.000 Jahre alten Brunnen zu trinken. Sobald ich auch nur einen Fuß in die Kirche gesetzt hatte, fing ich wieder an zu weinen.

Man schickte mich zu einem ehrenamtlichen Arbeiter mit schiefen Zähnen namens Maximus Mahros, der sich um den Brunnen der Kirche kümmerte. Er brüstete sich mit all den Wundern, die er während seines Dienstes schon gesehen hatte. Einen Monat zuvor, so behauptete er, sei ein todkranker Mann gekommen, um zur Jungfrau Maria zu beten und das salzige Wasser zu trinken. Als der Mann eine Woche später wiederkam, habe er Mahros gesagt, er sei geheilt. Seine Ärzte hätten es als eine wundersame Genesung bezeichnet, sagte Mahros.

Mein Gesicht musste mein Misstrauen verraten haben, denn Mahros fuhr fort: „Er rief mich heute an und sagte, er würde nächsten Sonntag vorbeikommen und mir seine Röntgenaufnahmen und sein Blutbild zeigen.”

Ich fragte ihn nach der Telefonnummer dieses mysteriösen Mannes, doch Mahros wich aus. Aber er bestand darauf, dass der Mann ihn anrief, immer von einer anderen Nummer. „Aber er kommt nächsten Sonntag”, versicherte er mir. „Sie sollten auch kommen und direkt mit ihm sprechen.” Ich willigte ein und ging.


Demiana Fanous legt den Namen der Autorin neben die Reliquien ihrer Namenspatronin, der Heiligen Demiana.

Ich verbrachte den folgenden Tag damit, von einer Kirche zur nächsten zu gehen und von den Wundern zu hören, die andere dort erlebt hatten, wobei ich in jeder Kirche weinte, sobald ich eintrat. Ich ging nach Zeitun, wie ich es mir immer gewünscht hatte, und schluchzte. Ich schluchzte, als ich Öl für meine absterbenden Gliedmaßen entgegennahm. Ich schluchzte sogar, als ich andere beim Beten sah. Ich schrieb meinen Namen auf kleine Zettel und schluchzte, als ich sie neben Ikonen und Reliquien platzierte. Es sollte das letzte Mal sein, dass ich in meiner eigenen Handschrift schrieb. ALS zerstörte sie ein paar Wochen darauf.

Mir meinen Weg durch den Kairoer Verkehr zu bahnen und wahllos an religiösen Orten zu weinen hatte mich all meine Kraft gekostet. Meine rechte Hand verschlimmerte sich in dieser Zeit rasant. Socken anziehen wurde von einer dreiminütigen zu einer fünfminütigen zu einer zehnminütigen Aufgabe.

Als Deedee acht Tage nach mir eintraf, half ihre Anwesenheit, meine Trauer zu lindern. Ich brachte sie zu dem Brunnen, wo Mahros überrascht schien, mich wiederzusehen, obwohl er anderen Besuchern dieselbe Geschichte erzählte wie mir. Er sagte, ich sei zu früh dran, der Mann müsse wohl gerade die Messe besuchen. Ich nahm ihn beim Wort. Zwei ungefilterte Kaffees später ignorierte Mahros meine Anrufe, und es wurde offen­sichtlich, dass der Mann entweder nicht kommen würde oder nicht existierte.

Deedee wollte sehr gern die Reliquien ihrer Namenspatronin sehen, also liefen wir zur Hängenden Kirche, um Kerzen anzuzünden und meine Jagd nach Wundern fortzusetzen. Die Überreste der Heiligen Demiana befinden sich in einem Glaskasten unter der Ikone. Sie sind in eine 30 Zentimeter lange Samtrolle geschlagen, die mit Goldfaden bestickt ist. Deedee steckte meinen Namen durch einen Schlitz in den Glaskasten.

Ein paar Minuten darauf bat ich einen Fremdenführer, mir die Geschichte hinter der Jungfrau Maria auf dem Marmor zu erzählen, in der Hoffnung, wieder in der tröstenden Vorstellung malender Engel zu schwelgen. Stattdessen beschrieb er mir, wie Marmor bemalt wird.

Er erzählte mir allerdings auch von einem nahegelegenen koptischen Konvent, das zu besuchen ein muslimischer Augenarzt leidenden Patienten verschreibe.

Er wusste nicht einmal den Vornamen des Arztes. Er fragte ein paar andere Leute, die von dem Arzt und seinen Wunderrezepten wussten, doch weil niemand Wunder überprüft und der Glaube allen genügt, kannte niemand seinen Namen.


Ein Mann entzündet eine Kerze in der Hängenden Kirche in Kairo.

Das Weihnachtsfasten der koptischen Christen, bei dem sie 40 Tage lang komplett auf Fleisch und Milchprodukte verzichten, hatte gerade begonnen. Als wir ankamen, waren die eisernen Tore verschlossenen. Immer noch nicht ganz sicher, warum ich gekommen war, erzählte ich dem Wächter, ich sei Journalistin aus Amerika und würde über Wunder berichten. Er bestand darauf, dass keine Besucher erlaubt seien. Ich versicherte ihm, wir würden nicht lange bleiben und fragte, ob die Oberin nicht eine Ausnahme machen könne. Nach ein paar Minuten der Stille öffneten sich die Eisentore.

„Ich wollte gern wissen, ob Sie mir den Namen des muslimischen Arztes geben können, der Besuche im Konvent verschreibt?”, fragte ich, doch ich wusste die Antwort, noch bevor sie den Mund öffnete. Sie hatten noch nie von dem Arzt oder auch nur von der Geschichte gehört.

„Glauben Sie nicht alles, was sie im Netz lesen”, sagte mir eine der Nonnen mit sanfter, tröstender Stimme.

„Nun, ich habe noch ein zweites Anliegen”, sagte ich, „gibt es jemanden, der für mich beten kann?”

Dieselbe Nonne fing an, meinen Namen aufzuschreiben, und als sie mich fragte, was das Problem sei, waren die einzigen Worte, die ich durch mein Schluchzen noch herausbrachte: „Die Ärzte können nichts für mich tun.” Ich sah, dass ich meine Schwester mit meinen Tränen angesteckt hatte. Sie kam zu mir herüber und hielt meine Hand. Die Nonne fragte, ob wir Schwestern seien, und wir nickten synchron. Vielleicht sind Wunder, wie alles andere auch, einfach relativ. Anfang 20 machte ich mir Sorgen um Kohlenhydrate und Jungs, heute flehen meine Gedanken einfach nur meinen Körper an: „Bitte vergiss nicht, wie Laufen geht. Bitte vergiss nicht, wie Laufen geht. Bitte vergiss nicht, wie Laufen geht.”

Vielleicht ist das Wunder letztlich die Tatsache, dass meine Mutter ihre Trauer überlebt—nicht durch körperliche Stärke, Liebe oder eine höhere Macht, sondern durch Hoffnung. Sie ist die größte Macht, die ich je erlebt habe, und für manche Menschen gibt es nichts, das Hoffnung so sehr verkörpert wie das Gebet.

Ich erwartete, dass die Nonne mir einen Vortrag über Glauben halten würde, darüber, dass ich mich von Gott abgewandt hatte und dass diese „Prüfung” nur eine vorübergehende sei. Sie sagte nichts von alldem. „Wir leben nicht für dieses Leben”, sagte sie mir. „Wir leben für das Leben nach dem Tod.”

Und selbst wenn ich eine Agnostikerin bin und mehr Angst vor dem Rollstuhl als vor dem Tod habe, ihre Worte waren für mich ein größerer Trost, als das Versprechen eines Wunders es jemals sein könnte.