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Wenn man zu viele Sex-Tipps ausprobiert, fühlt man sich Bett wie ein Zirkustier, das sich von einer Stellung zur anderen hangelt und auf eine Belohnung hofft. In Gedanken geht man die “Tricks” durch und achtet darauf, ob sie der Partner mit Stöhnen goutiert. Bin ich gut? Mache ich alles richtig? Bekomme ich am Ende Applaus?
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So muss es nicht sein, sagen die Psychotherapeutin Meg-John Barker und der Sexualpädagoge Justin Hancock. Sie sind die Autoren des Buchs Enjoy Sex: (How, when and if you want to): A Practical and Inclusive Guide. Darin ist übrigens keine einzige Sexstellung enthalten.
VICE: In eurem Buch zerreißt ihr die gängigen Sextipps und sagt, dass sie genau die Probleme schaffen, die sie eigentlich lösen sollen. Könnt ihr mir ein Beispiel für so einen schrecklichen Sextipp geben?
Meg-John: Nachdem ich 62 Bücher mit sexuellen Ratschlägen durchgelesen hatte, fiel mir auf, dass man im Allgemeinen davon ausgeht, Geschlechtsverkehr sei ausschließlich Penis-in-Vagina-Sex. Deshalb dreht sich ein Großteil dieser Bücher auch nur um solche Stellungen.
Justin: Aufgrund unserer begrenzten Sichtweise beim Thema Sex haben viele Menschen Probleme im Bett und sind verzweifelt. Jeder, der keinen “normalen” Sex haben kann, ist automatisch ausgeschlossen.
Ich bin schon etwas enttäuscht, weil es keine perfekte Blowjob-Technik gibt. Ihr findet es gefährlich, dass man immer wieder von angeblich idiotensicheren Bettaktivitäten liest, aber dabei viel zu wenig betont wird, dass beide Partner dazu einwilligen müssen. Ein Beispiel hierfür ist die ganze “Überrasche deinen Partner”-Sache, die dem Sexleben mehr Pep geben soll.
Meg-John: Oh mein Gott, dazu habe ich ein ganzes Buch gelesen, das in eine “Für ihn”- und eine “Für sie”-Kategorie eingeteilt war. Darin wurde beispielsweise vorgeschlagen, den Partner beim Nachhausekommen auf einen Stuhl zu drücken und zu fesseln oder direkt auf die Knie zu gehen und seinen Schwanz auszupacken. Ich meine, wie einfach ist es denn da, etwas zu tun, was nicht gewollt ist?
Justin: Des Weiteren wird hier die Vorstellung befeuert, dass Männer auf eine bestimmte Sache stehen und Frauen auf eine andere. So wie bei Shades of Grey geht man einfach davon aus, dass Männer den aktiven und Frauen den passiven Part übernehmen. In diesen Büchern stehen aber noch viele andere Mythen: Frauen sind auf der Suche nach echter Liebe, während Männer nur Sex wollen. Das hat laut den Autoren zur Folge, dass Frauen im Bett echte Granaten sein müssen, wenn sie ihren Partner nicht verlieren wollen.
Ältere, transsexuelle und körperlich behinderte Menschen werden oft als besondere Fälle behandelt. Ihrer Sexualität widmen sich eigene Bücher. Eurer Meinung nach ist allerdings jeder Mensch unterschiedlich—sowohl körperlich als auch psychologisch und gesellschaftlich.
Meg-John: In letzter Zeit habe ich über dieses Thema nachgedacht, weil viele Trans-Dokumentationen so nach dem Motto aufgebaut sind: “Hier sind einige wenige Trans-Menschen, sollten sie all die speziellen Dinge bekommen, die sie brauchen?” Ich finde, dass man einfach eine Sendung zum Thema Gender machen sollte. Viele Cis-Menschen lassen sich operieren, zum Beispiel Schamlippenkorrekturen, Brustvergrößerungen, Brustverkleinerungen oder Gesichtsveränderungen. Andere Cis-Menschen nehmen Hormone. Dazu gehört auch die Pille. Wenn man eine Dokumentation über Leute macht, die ihr Gender unterschiedlich ausdrücken, dann sollte man diese Vielfalt auch zeigen. Bei unserem Buch gehen wir genau so vor: Anstatt nur einen normativen Körper zu verwenden, ihn in Tausend verschiedenen Stellungen zu zeigen und ihm eine bestimmte Funktionsweise zuzuschreiben, reden wir von der körperlichen Vielfalt. Auch bei jungen Cis-Männern und Frauen, die weiß und vollkommen gesund sind, gibt es große Unterschiede, wie deren Körper funktionieren und was ihnen sexuell gefällt.
In eurem Buch schreibt ihr, dass Geilheit nur einer von vielen Gründen ist, warum wir Sex haben.
Meg-John: Ich finde es gut, von anderen Leuten zu lernen. Bei Menschen mit Fetischen gibt es zum Beispiel die Community, in der eine Person die andere dominiert, ohne dass sich deren Genitalien dabei berühren. Da kommt bei manchen vielleicht die Frage auf, was das diesen Personen bringt. Nun, für die beiden hat das Ganze eben andere Reize: Eine Person unterwirft sich, erfährt einen Kontrollverlust und kann richtig loslassen, während die andere sich mächtig fühlt, die Zügel in der Hand hat und die Körpersprache des Partners liest. Das alles sind schöne Dinge, die Sex einem ebenfalls bieten kann. Wenn wir einsehen, dass wir aus verschiedenen Gründen miteinander schlafen, dann verschwindet der Druck, unbedingt einen Orgasmus haben zu müssen. Hier ein Beispiel: Manchmal reicht es schon, neben dem Partner zu liegen, wenn der zum Höhepunkt kommt. Das baut auch Nähe auf.
Wie bringt man jungen Leuten bei, dass man mit einem Penis mehr machen kann als penetrieren und mit einer Vagina mehr als penetriert werden?
Justin: Ich habe eine Projekt namens dosreforschools.com. Wir zeigen jungen Menschen, wie man herausfindet, auf was man steht, und wie man das dann kommuniziert. Wir erklären, wie alles sicher abläuft, wie man auf sich selbst achtet, wie man das in die Beziehung einbringt und wie man am besten mit den ganzen Botschaften umgeht, die durch die Gesellschaft auf einen einprasseln.
Meg-John: Einverständnis ist ein Thema, über das man schon im jungen Alter lernen sollte. Dabei ist es nicht mal nötig, das Ganze ausschließlich auf Sex zu beziehen. Alles sollte im Einverständnis geschehen.
Was sind nun eure besten Sextipps?
Justin: Man muss lernen, alles wahrzunehmen und sich nicht irgendein Ziel zu setzen. Wenn wir Sex immer nur als einen festgelegten Ablauf wahrnehmen, an dessen Ende Penetration steht, dann kommt das tatsächliche Vergnügen oft zu kurz. Wenn man darauf achtet, was zwischen einem und dem Partner passiert, dann denkt man automatisch auch an das Thema Einverständnis. Wir wollen aufzeigen, dass Einverständnis und Genuss Hand in Hand gehen.
Meg-John: Ich weiß, dass die diese Tipps nicht allzu sexy klingen, aber meiner Meinung nach ist es extrem attraktiv, wenn man selbstbestimmt auftritt. Man sollte zu seinen Vorlieben stehen und sich fragen, was einen wirklich anmacht – anstatt sich ständig einzureden, dass nur “normaler” Sex gut ist.