“Du kannst dumm in der Ecke steh’n / Ich will lieber tanzen geh’n / Wenn bunte Lichter blitzen / In einer Disco schwitzen / Alltag raus, Video rein / So kannst du ruhig glücklich sein / Ich will beim vier Viertel stampfen / Mich in Ekstase tanzen” – so beginnt der Song “Lustprinzip” von Egotronic (2007).
Wenn du noch nie zwölf Stunden auf einer dunklen, überfüllten, verschwitzten Tanzfläche verbracht hast, kannst du vielleicht nicht nachvollziehen, warum man sich das antun sollte. Aber jede Clubberin, jeder Festivalfan und jeder Raver wird dir erzählen, dass die Anonymität der Dunkelheit, das schamlose Schwitzen und die kollektive Energie eine Art von Freiheit, ja sogar Therapie bieten, die man nirgendwo sonst findet.
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Dancefloors bieten einen Erholungsraum in einer Welt, die zunehmend von Produktivität und Konkurrenz, Image und Hyperindividualität gekennzeichnet ist. Wenn am Ende der Arbeitswoche die Neonlichter in den Bürotürmen endlich erlöschen, gehen die Lautsprecher, Partylichter und Nebelmaschinen in Kellerclubs und auf Raves an. Zwischen all der Zeit, die Menschen mit Arbeit und Alltag verbringen, haben sie ein kleines Fenster, um nur das zu tun: schwitzen, stampfen und sich in Ekstase tanzen.
“Tanzen ist ein Workout”, sagt Hadrien Aujoulat-Mendez, ein Bewegungs- und Massagetherapeut und Dancefloor-Connaisseur aus Marseille in Frankreich. Wie bei anderen Sportarten beansprucht man beim Tanzen verschiedene Körperteile, trainiert Gleichgewicht und Koordination. Und man kommt ins Schwitzen. Kein Wunder also, dass es sich so gut anfühlt.
Für Aujoulat-Mendez ist Tanz außerdem eine Kunstform und eine Form des Widerstands: “Wir neigen dazu, den Körper als eine Maschine zu betrachten, die wir benutzen, die wir ausbeuten können. Tanzen an sich ist also ein Akt der Rebellion gegen Industriegesellschaften. Man kann seinen Körper dabei benutzen, ohne etwas zu produzieren, ohne einen Marktwert zu haben. Man kann seinen Körper nur um seiner selbst Willen benutzen, nur für die schlichte Anmut der Bewegung, um Kunst zu erschaffen. Deshalb denke ich, dass Tanzen den Menschen und generell der Gesellschaft so gut tut.”
Der Bass in den Clubs wummert normalerweise von Mitternacht bis zum Morgengrauen. Weil diese Stunden außerhalb der “Arbeitszeit” der meisten Menschen liegen, bergen sie immer Potenzial: Möglichkeiten, Staunen, Freiheit. Die Leute seien befreit von den Regeln, nach denen sie sich sonst richten, sagt Aujoulat-Mendez. Sie müssen sich nicht definieren, durch ihre Arbeit, durch Smalltalk oder die Sprachen, die sie sprechen.
“Tanz ist eine Sprache und das ist das Tolle an Dancefloors … Man kann durch Bewegungen ein Gespräch führen. Du kannst dich mit dir selbst oder mit anderen Menschen durch Tanz unterhalten, durch Bewegung, durch diesen großartigen Ausdruck, wenn man sich zu dem Beat bewegt.”
Manchmal ist die Sprache unbeschwert und lustig, zum Beispiel wenn man zu einem sexy Lied eng und flirtend mit jemandem tanzt. Manchmal ist die Sprache politisch, wie in der Ballroom- oder der Voguing-Szene, in der nach wie vor gegen Vorurteile und Gewalt gegen LGBTQ-Personen of Color protestiert wird.
Tanzen ist außerdem ein Weg, Gefühle auszudrücken. Laut Aujoulat-Mendez haben das viele Erwachsene fast vollkommen verlernt. Während immer mehr Menschen Probleme mit ihrer mentalen Gesundheit angehen, indem sie ihre Emotionen in Gesprächstherapien oder Tagebüchern artikulieren, lädt der Dancefloor dazu ein, sie umzuwandeln. Das bedeute, die Gefühle durch den Körper zu erleben, sagt Aujoulat-Mendez. Durch die Bewegungen beim Tanzen können Menschen die ganze Bandbreite der Emotionen durchleben, sei es Freude, Traurigkeit oder Wut.
“Wenn man seine Gefühle nicht umwandelt, führt das früher oder später zu einer Neurose. Tanz ist eine echte Form der Therapie”, sagt Aujoulat-Mendez.
Manchmal ermöglichen es Tanzflächen den Menschen aber auch, zu vergessen. Für viele Menschen ist ein Dancefloor, der viele Sinne auf einmal anspricht, der einzige Ort, an dem sie ihre Gedanken abschalten können. Für diejenigen fühlt sich Tanzen nicht gut an, weil sie mit ihren Gefühlen in Kontakt treten, sondern weil sie ausnahmsweise ganz im Moment sein können.
“Ich fühle mich eins mit der Energie der Menge und verliere mich selbst. Ich glaube nicht, dass ich etwas bestimmtes auf der Tanzfläche ausdrücke, eher im Gegenteil: Ich bin einfach im Moment, tanze, bin Teil des größeren Ganzen der Nacht. Das kann ich nur, weil ich überflutet werde von den intensiven Sinneseindrücken der Musik, der Lichter und der Energie, die die anderen Tanzenden ausstrahlen”, sagt Jason Friedlander, ein weiterer Club-Stammgast aus Manila, der Hauptstadt der Philippinen.
Für Friedlander sind Dancefloors ein Ort, an dem sich Unterschiede auflösen, Konflikte beigelegt werden und Gleichheit herrscht.
“Auf der Tanzfläche werden Hierarchien aufgehoben, alle unterwerfen sich dem Zauber von Melodie und Rhythmus. Im Gegensatz zu anderen Gemeinschaften, die aus Sportteams oder den meisten organisierten Religionen entstehen, definiert sich der Kult der Musik weder durch Konflikt noch durch Opposition, sondern durch Harmonie.”
Hideki Ito, ein DJ aus Pampanga auf den Philippinen, sieht Dancefloors als “Zugang, um Menschen und verschiedene Kulturen kennenzulernen, die in unserer Gesellschaft oft nicht richtig dargestellt oder überhaupt erwähnt werden.” Jedes Mal, wenn er am Mischpult stehe, sei das für ihn eine Möglichkeit, über die Leute auf der Tanzfläche zu erfahren, was in der Welt passiert.
Batekoo aus Brasilien ist eine Partyreihe, die in Salvador im Bundesstaat Bahía entstand. Ein großer Teil der dortigen Bevölkerung ist afrikanischer Abstammung, was sich aber nicht im Nachtleben widergespiegelt hat. Das laut dem Projektleiter von Batekoo “sehr Weiß” und “sehr heteronormativ”. Mittlerweile ist Batekoo mehr als eine Partyreihe, die Organisation unterstützt Mitglieder der Schwarzen LGBTQ-Community mit geringem Einkommen durch Ausbildungsprogramme. Sie bilden Menschen in der Nightlife-Eventproduktion aus, in Bereichen wie Tontechnik, Beleuchtung und DJing, damit sie und andere Party-Organisationsteams sie später einstellen können.
“Es versteht sich von selbst, dass Menschen ausbrechen möchten und einen Zufluchtsort suchen, indem sie sich durch Tanz und die Verbindung zur Musik ausdrücken. Aber es ist mehr als das: Es ist ein Weg, um über die Kämpfe, Frustrationen und Probleme nachzudenken, von denen der Durchschnittsbürger sonst vielleicht nichts mitbekommt”, sagt Ito.
Auf Tanzflächen werden all diese Effekte am deutlichsten sicht- und erlebbar. Aujoulat-Mendez, der Bewegungs- und Massagetherapeut, betont allerdings, dass Tanz nicht auf Raves und Clubs beschränkt sein muss. Man muss ihn auch nicht unbedingt mit dem Konsum von legalen oder illegalen Substanzen verbinden. Aujoulat-Mendez sagt, er finde, dass wir versuchen sollten, auch nüchtern zu tanzen, und zwar an allen möglichen Orten.
“Tanzt überall”, sagt er.
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