Eigentlich ist Batié eine verschlafene Kleinstadt im französischsprachigen Teil Kameruns, rund 300 Kilometer nordwestlich von der Hauptstadt Yaoundé. Seit einiger Zeit ist Batié allerdings ziemlich berühmt. Der MMA-Kämpfer und aktuelle UFC-Schwergewichts-Champion Francis Ngannou stammt von dort.
2019 kehrte Ngannou nach Batié zurück, um dort die Francis Ngannou Foundation zu gründen. Mit seiner Stiftung will der MMA-Kämpfer den Kindern und Jugendlichen der Kleinstadt richtiges Kampfsporttraining ermöglichen und ihnen Perspektiven bieten, die er damals gerne gehabt hätte.
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Dank Ngannous internationalem Erfolg wird MMA in ganz Kamerun immer beliebter. In Yaoundé und in der Küstenmetropole Douala werden Vereine gegründet und Turniere veranstaltet. Und die jungen Menschen, die im Dojo von Batié trainieren, wollen natürlich in die Fußstapfen des Champions treten.
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Für das Trainingscenter und das Tagesgeschäft der Stiftung ist Sam Crook verantwortlich. Der Brite mit schwarzem Gürtel in Jiu-Jitsu sollte eigentlich nur ein Jahr in Batié bleiben. Nach sechs Monaten Training mit den Kindern und Jugendlichen entschied er allerdings, sich komplett in Kamerun niederzulassen.
Crook arbeitet vollständig auf freiwilliger Basis. Er investiert sein eigenes Geld und nutzt seine Beziehungen in der MMA-Welt, um an Ausrüstung zu kommen. Er sagt, es sei die Vorstellung, sie alle in zukünftige Champions – sowohl im Sport als auch im echten Leben – zu verwandeln, die ihn immer wieder motiviert. Deswegen unterstütze er die Kinder und Jugendlichen, so gut er kann.
Kamerun ist reich an Rohstoffen – von Öl und Gas über Mineralien und hochwertigem Holz bis hin zu Kaffee, Baumwolle und Kakao. Trotzdem verdienen die Menschen dort umgerechnet nur rund drei Euro pro Tag. Damit gehört Kamerun zu den ärmsten Ländern der Welt. Die Familien in den ländlichen Gegenden werden normalerweise von einem Patriarchen angeführt, der mehrere Ehefrauen und viele Kinder hat. Und von den Kindern wird erwartet, dass sie schon von klein an zum Einkommen der Familie beitragen.
Kinderarbeit ist in Kamerun nicht verboten. Zwar gibt es seit Kurzem Versuche, diese brutale Form der Ausbeutung zu verbannen, aber das Problem ist komplizierter, als man vielleicht denkt. Aufgrund der Entwicklungen in anderen Ländern, die Kinderarbeit verboten haben – etwa Bangladesch –, glauben einige Aktivistinnen und Aktivisten, dass ein komplettes Verbot die Kinder nur zu noch gefährlicheren Tätigkeiten drängen würde. Zum Beispiel Kinderprostitution. Sie fordern stattdessen, dass man Kinderarbeit sicherer macht und die Kinder lieber dazu motiviert, in der Schule zu bleiben.
In Batié gehen die meisten Kinder tatsächlich zur Schule. Zum Schulgebäude sind es allerdings mehrere Kilometer, die man zu Fuß oder auf dem Motorrad zurücklegen muss. Außerdem kann es immer passieren, dass die Lehrer ohne Vorwarnung einfach nicht auftauchen. Hier bildet die Francis Ngannou Foundation eine wichtige Konstante im Leben der Kinder und Jugendlichen. Sie bietet ihnen Sicherheit und einen Ort zum Abhängen, Trainieren und Aufbauen von Selbstvertrauen, damit die jungen Menschen nicht in Schwierigkeiten geraten.
Nach einem Jahr Training hat der 16-jährige Franck gerade den blauen Gürtel in Jiu-Jitsu erhalten und damit die zweite von acht Stufen in der Kampfsportart erklommen. Von allen Mitgliedern der Stiftung war er der erste, der dieses Ziel erreicht hat. Franck hat in zwei Jahren auch nur eine einzige Trainingseinheit verpasst. “Ich trainiere sieben Tage die Woche, drei oder vier Stunden am Tag”, sagt er. “Manchmal komme ich direkt nach der Schule hierher, um vor den Gruppenübungen alleine mit Sam trainieren zu können.”
Dank seiner Führungsqualitäten leitet Franck trotz seines jungen Alters schon selbst Jiu-Jitsu-Kurse. “Wenn Meister Sam nicht hier ist, habe ich ein Auge auf die anderen und bringe ihnen das bei, was ich weiß”, sagt er. Francks Durchsetzungsvermögen zeigt sich aber nicht nur in den vier Wänden der Stiftung, sondern auch bei ihm zu Hause, wo er für seine jüngeren Cousins die Vaterrolle einnimmt. Seine Tante bemüht sich, Franck so viel Trainingszeit wie möglich zu ermöglichen, damit auch er eines Tages Champion wird. Manchmal kommt so die Arbeit zu kurz, die auf den Feldern der Familie erledigt werden muss. Aber das nehmen sie gerne in Kauf.
Kelvin, ebenfalls 16 Jahre alt, stammt aus einem Dorf westlich von Batié, nahe der Grenze zu Nigeria – also aus dem Teil Kameruns, in dem Englisch gesprochen wird. Zusammen mit seinen Eltern, fünf Brüdern und vier Schwestern ist er hierher gezogen, weil in ihrer Heimat der Bürgerkrieg um Ambazonia wütet – ein Konflikt zwischen der kamerunischen Regierung und Separatistengruppen, die das englischsprachige Kamerun zu einem unabhängigen Staat machen wollen. In Batié leben noch viele weitere Geflüchtete aus dieser Region.
Crook sieht in Kelvin einen vielversprechenden, technisch versierten Kämpfer. Nach Franck war Kelvin das zweite Mitglied der Francis Ngannou Foundation, das sich den blauen Jiu-Jitsu-Gürtel erarbeitete. Und genau wie Franck teilt sich auch Kelvin seine Zeit zwischen den landwirtschaftlichen Pflichten und dem Training auf. “Ich stehe um 5:30 Uhr auf, um mich um das Haus zu kümmern. Erst danach kommt alles andere”, sagt er. “Wir beten und arbeiten danach auf den Feldern, bis es zu heiß wird. Dann kommen wir zum Essen nach Hause, anschließend trainieren wir bei der Stiftung mit Sam.”
Ein weiterer Kämpfer mit Potenzial ist der 18 Jahre alte Tale, einer von Francis Ngannous Cousins. Das dritte Stiftungsmitglied mit blauem Jiu-Jitsu-Gürtel lebt mit den vier Frauen seines Vaters und seinen vielen Geschwistern und muss ebenfalls oft die Vaterrolle übernehmen, da sein Papa häufig nicht zu Hause ist. Um seine Familie zu unterstützen, arbeitet Tale auf den Feldern und in der örtlichen Sandgrube.
Tale hat einen großen unternehmerischen Drang. Einmal kaufte er zwei Eber und zwei Säue und ließ die Tiere sich paaren. Dann verkaufte er einen Teil der neugeborenen Ferkel und behielt den Rest für die Familie. “Das war ein gutes Geschäft”, sagt er. Außerdem besitzt Tale ein Motorrad – in Batié eher eine Seltenheit –, das er so gut es geht in Schuss hält.
Falls er es schafft, genügend Geld anzusparen, will Tale Mechanik studieren und eine eigene Werkstatt eröffnen. Derzeit hat Jiu-Jitsu bei ihm aber höchste Priorität. “Hier in Kamerun findet man selbst mit Uni-Abschlüssen keinen Job. Man muss einfach das machen, was kommt”, sagt er. “Früher oder später werde ich MMA-Champion. Da bin ich mir ganz sicher.”
Zusammen mit den drei Cousins von MMA-Kämpfer Francis Ngannou – Tale, Duprince, 8, und Djibril, 12 – geht es zur Sandgrube, in der sie normalerweise arbeiten. Jeden Tag stehen sie gegen 4:30 Uhr auf, um das Haus aufzuräumen und anderen Pflichten nachzukommen. Duprince holt zum Beispiel die Eier aus dem Hühnerstall, während sich Djibril um den Ziegenbock und die Schweine kümmert. Es ist ein volles Tagesprogramm: Nach der morgendlichen Routine Schule von acht Uhr bis zum frühen Nachmittag, dann Arbeit in der Sandgrube oder auf dem Feld, und schließlich stehen ab 16 oder 17 Uhr ein paar Stunden Kampfsporttraining mit Sam Crook an.
Desmond gehört mit seinen 28 Jahren zu den ältesten Schülern der Stiftung. Er hat auch schon fünf MMA-Kämpfe absolviert. Die Umstände dieser Kämpfe können in Kamerun jedoch ziemlich gefährlich sein, weil der Sport hier finanziell kaum gefördert wird. Bei einem von Desmonds Kämpfen waren zum Beispiel die Ringseile so locker, dass einige Turnierteilnehmer fast aus dem Ring fielen. Ein anderer von Desmonds Kämpfen fand komplett ohne Käfig oder Ring auf einem Teppich statt.
Inzwischen wurde eine Online-Spendenaktion organisiert, die es Desmond ermöglichen soll, nach England zu reisen und dort besser trainieren und kämpfen zu können. Sowieso wollen fast alle der Kinder, mit denen wir für diesen Artikel sprechen, aus Kamerun raus. Denn sie haben das Gefühl, dort keine Möglichkeiten zu haben. Die Francis Ngannou Foundation will genau solche Möglichkeiten in Batié schaffen und hofft, dass Desmond diese als erstes nutzt.
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