Die tätowierten Frauen von Myanmar und das Problem mit dem Fototourismus

Daw Har Young, eine Chin-Frau aus Mindat | Foto von Amanda Saxton

Dieser Artikel ist zuerst bei Broadly erschienen.

Kuiyaw Neinpai kennt ihr eigenes Geburtstdatum nicht, doch die meisten Leute sind sich einig, dass sie über 100 ist. Sie sitzt lächelnd in der Hocke auf der Veranda ihres Hauses in Mindat, einem Bergdorf im Chin-Staat in Myanmar (ehemals Burma). Die Tätowierung auf ihrem Gesicht ist verblichen, aber immer noch sichtbar—85 Jahre, nachdem ihre Mutter die Erkennungszeichen ihres Stamms auf ihrer Haut verewigt hat. Als der schmerzhafte Vorgang nach drei Stunden vorbei war, wusch sie das Blut weg, das auf Neinpais Brust gelaufen war.

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Wenn man die Frauen von Mindat fragt, warum ihre Gesichter tätowiert sind, lächeln sie und antworten: „Wissen wir nicht. Wir tun das, weil es unsere Tradition ist.”

„Der alten Legende nach fing [das Tätowieren] an, um den birmanischen König davon abzuhalten, die Chin-Frauen zu stehlen”, sagt Frederic K. Lehman, Professor emeritus der University of Illinois und ein Anthropologe, der die Chin studiert hat. „Danach wurde es aus ästhetischen Gründen gemacht.”

So sieht das auch Shwekey Hoipang, ein Chin-Pfarrer (die meisten Chin haben seit der Annektierung des Staats durch die Briten im späten 19. Jahrhundert eine Mischung aus Christentum und Animismus praktiziert) in einem Interview mit dem Chinland Guardian. Doch er hat auch eine weitere Geschichte. „Laut dem Schlaflied meiner Mutter muss eine Frau ohne Tätowierung nach ihrem Tod dem Richter [‚Monuoi’ im Dialekt der Chin] am Eingang zum Himmel [‚Mopi’] gegenübertreten. Der Monuoi verwehrt allen ohne Tätowierung den Zugang. Ein Gesichtstattoo ist daher ein spiritueller Schutz für weibliche Chin.”

Foto von Amanda Saxton

Heute lassen sich junge, gebildete Chin-Frauen nicht mehr tätowieren. Neinpai ist eine der wenigen tätowierten Frauen, die es noch gibt. Die Praktik wurde 1960 von der birmanischen Regierung verboten. „Die modernisierende, sozialistische birmanische Regierung sah die Praktik als überholt und barbarisch”, erklärt Ashley South, ein Myanmar-Experte an der Universität Chiang Mai in Thailand. Das Tätowieren wurde zwar trotz des Verbots weiterhin praktiziert, doch es verlor stark an Verbreitung. Heute ist die Praktik im Begriff zu verschwinden.

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„Die Kultur der Chin, mit der Tradition des Gesichtstattoos, lockt internationale Touristen, Fotografen und Anthropologen an”, sagt Hoipang. „Es ist offensichtlich, dass die Tattoo-Kultur eines Tages ausgestorben sein wird und es keine Möglichkeit mehr geben wird, sie zu erforschen.” Der Chin-Staat wurde 2011 von der myanmarischen Regierung teils dem Tourismus geöffnet, und 2013 wurden weitere Gebiete zugänglich gemacht. Frauen wie Neinpai finden sich immer häufiger vor dem Objektiv einer Kamera wieder.

„Ich liebe die Touristen”, sagt Daw Har Young, die Schwiegertochter von Neinpai, die in ihren 50er ist. „Aber ich frage mich, warum sie uns fotografieren wollen.” Sie fährt sich mit einer Hand durchs Haar, die Sonne erhellt ihr gestreiftes Gesicht. „Ist es, weil sie uns schön finden, oder weil sie uns hässlich finden? Ich befürchte ja, dass sie die Fotos vielleicht verwenden, um sich über uns lustig zu machen.”

Lin Tee mit ihrer Pfeife | Foto von Nathan Thompson

Lin Tee steht zwischen den Maispflanzen bei ihrem Holzhaus und raucht eine Pfeife. Sie teilt Youngs Sorge. „Einmal haben ein paar Touristen mich fotografiert, als ich von meinem Feld zurückkehrte und dreckig und unvorbereitet war”, sagt sie. „Ich habe mich geschämt.” Beide Frauen sind sich einig, dass es nichts Unhöflicheres gibt, als sie zu fotografieren, ohne vorher um Erlaubnis zu bitten.

„Alle wünschen sich, auf Fotos gut auszusehen, also wäre es mir lieber, wenn ich meine Nationaltracht und meinen Hut tragen könnte”, sagt Tee. „Aber es verschwendet meine Zeit, für Fotos anzuhalten, also muss ich meine Gebühr bekommen.” Young ist anderer Meinung. „Ich will kein Geld”, sagt sie. „Aber ich will, dass sie mir einen Abzug des Bilds schicken.” Ich scherze, dass ihre Wände wohl schnell bedeckt wären, wenn sie das verlangen würde. Sie kichert. „Da hast du Recht.”

Tee tätowierte früher die Gesichter junger Frauen, aber sie hörte vor 30 Jahren auf, als Beamte ihr mit Bußgeldern drohten. Es waren immer die älteren Frauen, meist Verwandte, die Tätowierungen machten. Die meisten bekamen sie im Alter von 14 bis 16. Männer bekamen nie welche, denn die Tattoos gelten als Zeichen femininer Schönheit. „Die Tattoos sind schön”, sagt Tee. „Die Mädchen wussten, dass es schmerzhaft sein würde, also hatte ich nicht zu viel Mitleid mit ihnen, während ich sie tätowierte.”

Foto von Amanda Saxton

Früher hatten untätowierte Frauen keine großen Aussichten auf einen Ehemann. Doch ein paar Mädchen riskierten dennoch die Zurückweisung und weigerten sich. „Ich weiß noch, dass ein paar meiner Freundinnen sich weigerten”, sagt Young. „Aber alle fanden, dass sie hässliche Gesichter hatten, und niemand machte ihnen einen Antrag.”

Zwar tätowieren Berichten zufolge die entlegensten Stämme noch Mädchen, doch die meisten Chin-Frauen verweigern heutzutage die Markierungen. In den Dörfern, die ich besuchte, sah ich keine tätowierte Frau unter 40. Doch als zur Zeit der pro-demokratischen Aufstände 1988 die Regierungsstruktur zusammenbrach, fand die Praktik wieder vermehrte Verbreitung.

Tour-Anbieter brachten sie dazu, sich aufzustellen, während 20 Leute Fotos schossen. Genau das will ich hier nicht.

„Am Ende von 1988 hatte eine der ältesten Chin-Tätowiererinnen sechs junge Chin-Mädchen, darunter ihre eigene Tochter, tätowiert”, sagt Hoipang. Die Tätowiererin wurde später verhaftet, aber im Gegenzug für ihr Versprechen, es nie wieder zu tun, wurde sie wieder freigelassen.

Der Tourismus in Mindat und Umgebung bleibt begrenzt. Die Fahrt dorthin auf schlechten Bergstraßen dauert zermürbende 12 Stunden und die klapprigen Unterkünfte dort können im besten Fall noch als spartanisch beschrieben werden. Zugang zu den entlegenen Dörfern bekommt man nur, indem man anstrengende Wanderungen durch matschigen Wald unternimmt. Doch es werden neue Straßen gebaut. Jedes Jahr kommen mehr Fremde, und manche befürchten, die Chin-Frauen könnten zum Gegenstand einer Freakshow werden.

Foto von Amanda Saxton

Eines Abends trank ein desillusionierter NGO-Angestellter ein Bier in der Hütte, die als Restaurant diente. „Die Leute sagen immer, sie wollen eine Gegend besuchen, bevor sie ‚ruiniert’ ist”, klagt er. „Aber was sie alle nicht verstehen, ist, dass sie selbst es sind, die die Gegend ruinieren.” Bei uns sitzt Jochen Meissner, ein großer und hartnäckiger Österreicher. Er hat vor, ein 110ccm-Moped über die Berge in den benachbarten Rakhaing-Staat zu fahren—was wohl vor ihm noch nie jemand getan hat. Unser Führer, Naing Kee Shein, rät ihm davon ab: „Es ist zu extrem”, sagt er. Meissner zuckt mit den Schultern. „Ich bin ein extremer Typ.”

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Meissner gründet eine Firma für Abenteuertourismus in der Region und ist fest entschlossen, die Einwohner fair zu behandeln. „Ein paar schwedische Touristen haben Mrauk U [ein leichter zugängliches Dorf im Rakhaing-Staat] besucht und mir berichtet, die Chin-Frauen seien aus ihren Häusern gezerrt worden”, sagt Meissner. „Tour-Anbieter brachten sie dazu, sich aufzustellen, während 20 Leute Fotos schossen. Genau das will ich hier nicht.” Manche Chin-Frauen glauben, die Touristen würden nach Hause zurückkehren und die Bilder verkaufen; das Gerücht wurde von einem lokalen Pastor in die Welt gesetzt und hat in der Gemeinschaft einen unterschwelligen Groll hervorgerufen.

Foto von Nathan Thompson

„Wenn die Fotos nur ein Andenken sind, habe ich nichts dagegen”, sagt Young, die tätowierte Schwiegertochter von Neinpai. „Aber wenn jemand damit Profit macht, dann finde ich, dass diese Person mich bezahlen sollte.” Die meisten Chin betreiben Landwirtschaft und sind also kaum wohlhabend. Tatsächlich hat sogar das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen 2013 festgestellt, die Armut im Chin-Staat sei „die höchste im gesamten Land”, auch wenn es in dem Bericht auch hieß, die Armut nehme „relativ schnell” ab.

Am letzten Tag unseres Besuchs fahre ich an Neinpais Haus vorbei. Sie hockt wieder auf ihrer Veranda, die Arme um die Knie geschlungen. Ich sitze hinten auf dem Moped des Cousins unseres Führers, der, wie viele junge Chin, durchgehend von der frohen Botschaft Jesu erzählt. Ich drehe mich um und winke. Die alte Dame braucht einen Moment, um zu reagieren, doch dann zeigt sie ein breites, zahnloses Lächeln und erwidert mein Winken.

Foto von Amanda Saxton