Im Jahr 1990 hat Tania Frangié zu ersten Mal das Essen in einem syrischen Schwimmbad probiert. Sie, ihre Schwester Chahla und ein paar Freunde zogen im Mahatet Baghdad-Viertel von Aleppo um die Häuser. Sie gingen letztendlich ins Jallaa-Schwimmbad, wo die Tanzfläche zu den Klängen von arabischer Livemusik vibrierte. Der Himmel schien so nah, dass Tania dachte, sie könne die Hand ausstrecken und die Sterne berühren. Als dann die Bauchtänzerinnen mit ihrer Performance anfingen, stürzten sich alle auf die Mezze-Teller vor ihnen.
Es gab endlose Kebap-Vorräte, mit Sumak bestreute Salate und eine bunte Reihe an Dips, aus denen die außergewöhnliche Spezialität Aleppos, Mouhamara, hervorstach. Das ist eine mit den Geschmacksnerven spielende Melange aus zerkleinerten Walnüssen, Granatapfelmelasse, Semmelbröseln, Pinienkernen, Kreuzkümmel und Flé-Flé, auch als Aleppo-Pfeffer bekannt. Viele der Gerichte, die sie in dieser Nacht verzehrten, findest du auf der Karte im Restaurant der Familie Frangié in Montreal, Le Petit Alep. „Unser Essen hier wurde von der Stadt Aleppo inspiriert”, sagt Frangié. „Und ein Teil wird dort drüben in Schwimmbädern gegessen.”
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Die Atmosphäre im Le Petit Alep, welches sich gegenüber dem berühmten Jean Talon-Markt befindet, gleicht der Entspanntheit eines Aleppiner Schwimmbads um das Jahr 1990 herum. Natürlich ist das im heutigen Syrien alles nicht mehr so. „Ich glaube nicht, dass sich die Schwimmbäder dort drüben noch in einem guten Zustand befinden”, sagte mir Frangié. „Wir wissen nicht mal, was in Aleppo zur Zeit so los ist.”
Laut Onlinequellen wird das Jallaa-Schwimmbad als „möglicherweise für immer geschlossen” aufgelistet. Bei einem Bürgerkrieg, der inzwischen schon vier zerstörerische Jahre andauert, ist es unwahrscheinlich, dass noch viele syrische Schwimmbäder in Betrieb sind. Friedensverhandlungen sind immer wieder gescheitert und hunderte bewaffnete Rebellengruppen und Milizen bekämpfen sich untereinander und die Assad-Regierung immer weiter. Es wurde darüber berichtet, dass Fassbomben—knapp eine Tonne schwere Ölfässer voller Sprengstoff, Granatsplitter, Nägel, Benzin und selbstgebauter Aufschlagzündern—aus Helikoptern in Schwimmbäder geworfen wurden. Das Chlor, das normalerweise zur Desinfektion des Wassers benutzt wird, wird als chemische Waffe missbraucht. (Hier bekommst du einen Eindruck, was in einer ehemaligen Baath-Freizeiteinrichtung mit Pool so abgeht, die von syrischen Freiheitskämpfern übernommen wurde und jetzt als Jihad-Bad von Aleppo bekannt ist.) Das Ausmaß der Tragödie ist so groß, dass die UN schätzt, dass es bei einem sofortigen Kriegsende immer noch 30 weitere Jahre bräuchte, damit sich Syrien komplett erholt.
Die Traditionen der kulinarischen Kultur von Aleppo vor der Krise werden heute im Le Petit Alep erhalten. Als die Frangié-Schwestern im Sommer 1990 in die Heimat ihrer Eltern reisten (diese sind 1975 von Syrien nach Kanada ausgewandert), war alles immer noch idyllisch. „Normalerweise ist Aleppo eine Stadt der Verständigung, des Spaßes und des Lachens—die Leute kommen gut miteinander aus”, sagt Frangié. „Und was auch immer wo auch immer passiert, Essen ist immer dabei. Du gehst nicht einfach nur spazieren, du gehst spazieren, um ein Eis zu essen. Du spielt nicht nur eine Partie Backgammon, du spielst eine Partie Backgammon mit einer Tüte frischer Pistazien neben dir. Du gehst nicht nur an einen geheimen Strand, du frühstückst unterwegs an einem außergewöhnlichen Ort. Essen spielt bei allem eine Rolle.”
Obwohl die Frangié-Schwestern in der Essensliebhaber-Hauptstadt Montreal aufgewachsen sind, waren sie davon fasziniert, wie Essen in Syrien eine niemals endende Freizeitbeschäftigung ist. „Selbst wenn wir schon irgendwo zu Abend gegessen hatten, haben uns unsere Verwandten zu Hause dann noch mehr Essen aufgetischt”, erklärt sie. „Die Bewohner von Aleppo essen immer. Egal was sie auch gerade machen, sie kauen immer auf irgendwas herum.”
Im Jallaa-Schwimmbad zu essen, wo auch tagsüber Mahlzeiten serviert wurden, hatte trotzdem etwas Transformatives an sich. Beim Mittagessen am Pool drehte sich alles um Toshkas, mit Hackfleisch gefüllte, gegrillte Pitas, und Mahlab, mit Erdkirschkernen gewürzter Aleppiner Käse. „Als uns meine Freunde und Cousins eines Morgens zum ersten Mal mit ins Schwimmbad nahmen, erwartete ich so etwas wie hier in Nordamerika”, erinnert sich Tania. „Mir fiel sofort ein Typ auf, der neben dem Becken kochte. Er hatte einen Holzkohlengrill und zog dieses Barbecue-am-Strand-Ding durch. Ihn habe ich gleich bemerkt, danach aber nicht wirklich weiter beachtet.”
Sie und ihre Crew hingen im Wasser ab, als jemand vorschlug, einen Happen zu essen. „Ich meinte so ‚Was essen wir?’”, sagt sie. „Wir trugen Badeanzüge und lagen auf Handtüchern, deshalb dachte ich, dass wir zum Mittagessen nach Hause gehen würden. Aber stattdessen haben wir gleich dort ein paar Toshkas gegessen. Das hat mich echt überrascht. Hier in Nordamerika gibt es diese ‚Nicht essen und schwimmen’-Mentalität. Dort isst du direkt am Pool. Die Leute chillen und essen wirklich neben dem Becken. Ich hätte niemals gedacht, dass ein Schwimmbad sich so an einem Restaurant orientieren könnte.”
Genau so würden die meisten Leute auch nicht denken, dass sich ein Restaurant so an einem Schwimmbad orientieren könnte. Das Le Petit Alep zollt dieser Esstradition aber auf einen gewisse Art und Weise Tribut. (Nur um eines klarzustellen: Im Restaurant befindet sich kein Schwimmbecken.) Im Le Petit Alep gab es, genau so wie im Jallaa-Schwimmbad, abends und nachts Livemusik, zumindest als das Restaurant 1995 eröffnete. (Heutzutage ist dort für Konzerte zu viel los.) In den Anfangstagen spielten dort Stars der Musikszene Quebecs, wie zum Beispiel Lhasa de Sela und Mononc’ Serge. Es werden allerdings immer noch Ausstellungen von lokalen Künstlern veranstaltet. Und auch wenn du dort nicht ins kühle Nass springen kannst, so ist es dir doch durch die Gerichte und die Geschichte des Restaurants möglich, diese sonnigen Tage irgendwie selbst zu erleben.
“Wir trugen Badeanzüge und lagen auf Handtüchern, deshalb dachte ich, dass wir zum Mittagessen nach Hause gehen würden. Aber stattdessen haben wir gleich dort ein paar Toshkas gegessen. Das hat mich echt überrascht. Hier in Nordamerika gibt es diese ‚Nicht essen und schwimmen’-Mentalität. Dort isst du direkt am Pool.”
„Der Schwimmbad-Vibe im Le Petit Alep sollte schon immer die zweite Generation der Menschen, die von Aleppo nach Montreal gekommen sind, repräsentieren”, erklärt Frangié. „Meine Eltern waren Teil der ersten Generation. Sie sind 1975 rüber gegangen und haben im darauf folgenden Jahr ein Restaurant namens ‚Alep’ eröffnet.”
Das nebenan liegende Alep ist ein normales Restaurant zum Hinsetzen, im Le Petit Alep geht es hingegen einfacher und ruhiger zu. (Die beiden sind durch einen Hausflur verbunden und teilen sich die Küche.) „Das Le Petit Alep galt immer als Ort, wo du schnell und günstig etwas essen kannst”, sagt sie. „Ein Ort für ein Glas Wein und einen Happen zu essen, gesund und nicht zu kompliziert. Das Zeug im Schwimmbad von Aleppo war leicht und lecker, und dieses Gefühl soll hier auch rüber kommen, diese Leichtigkeit. Als wir nur das Alep hatten, gab es auf der Karte keine Pitas. Aber es sind immer wieder Syrier ins Restaurant gekommen und haben gefragt, ob wir ihnen Toshkas machen könnten. Die haben wir jetzt hier.” (In Montreal gibt es eine beachtliche Gemeinde aus dem Nahen Osten, und knapp die Hälfte der nach Kanada ausgewanderten Syrier lebt jetzt in der Provinz Quebec.)
Das Le Petit Alep ist unter Touristen nicht sehr bekannt, aber das Restaurant ist immer voll mit ortsansässigen Leuten. Die Nähe zum Jean Talon-Markt trägt mit zum Erfolg bei. „Meine Mutter ist quasi besessen von Sauberkeit und Frische”, erklärt Frangié. „Es ist so wichtig, dass sich der Markt gleich hier befindet. Wenn wir etwas brauchen, können wir einfach schnell rübergehen.”
Das Le Petit Alep ist auch so außergewöhnlich, weil Frangiés Mutter Jacqueline und ihre Schwester Chahla das Essen selbst kochen (ihr Vater hat das Restaurant mit ihnen zusammen eröffnet, ist 2005 aber verstorben). „Meine Mutter und meine Schwester stehen immer zusammen in der Küche”, erklärt Tania, die sich um den Rest kümmert. Alle Gerichte im Alep und im Le Petit Alep sind im Grunde hausgemachtes, syrisches Essen.
Dieses Familienhafte ist etwas, das man zu Hause nie exakt nachmachen kann. Die Frangié-Ladys haben sich dennoch gerne dazu bereit erklärt, euch die folgenden Rezepte für klassisches Schwimmbad-Essen aus Aleppo mitzuteilen. Mögen diese Gerichte—diese Erinnerungen an bessere Zeiten—auch für den Wunsch nach Frieden, nach Verständnis und nach dem Ende des Bürgerkriegs stehen. Während der Konflikt weiter geht, sind unsere Herzen und unsere Gedanken immer bei der syrischen Bevölkerung.
TOSHKA
Für vier Personen
Eine Toshka ist eine gegrillte Pita, gefüllt mit einer dünnen Schicht gewürztem Hackfleisch, einer Schicht Aleppiner Käse und einer Schicht dünn geschnittener Tomaten. Das Fleisch wird gar, wenn du die Pita grillst, und ist genialer weise durch die Feuchtigkeit der Tomaten vor dem Anbrennen geschützt.
ZUTATEN
4 Pitabrote
½ Pfund Hackfleisch
2 Knoblauchzehen, zerdrückt
1 scharfe, rote Chilischote, gewürfelt
100 Gramm frische Petersilie, fein zerkleinert
1 Esslöffel Aleppo-Pfeffer (Flé-Flé)
1 Teelöffel Piment
1 Esslöffel Olivenöl
Salz und Pfeffer zum abschmecken
4 Tomaten, dünn geschnitten
225 Gramm Aleppiner Käse oder armenischen Käse
Schneide jede Pita in zwei abgerundete Hälften. Mische alle Gewürze in das Hackfleisch. Verteile eine dünne Schicht des rohen Hackfleisches auf einer Seite jeder Pita. Verteile darauf den Käse und bedecke danach die ganze Pita mit einer Schicht Tomaten. Klappe alles zusammen und grille das Ganze bei mittlerer Hitze für ungefähr fünf bis sieben Minuten. Vergiss nicht das regelmäßige Wenden (alle 30 Sekunden), um ein Verbrennen des Äußeren zu vermeiden.
TISANE DU STAFF
Für vier Tees
„Als wir das Le Petit Alep eröffneten, steuerte die Belegschaft auch verschiedene Rezepte bei. Dieses ist eines, das uns allen geschmeckt hat, also behielten wir es auf der Karte”, sagt Frangié. Damit wird eine syrische Schwimmbad-Mahlzeit perfekt abgerundet.
ZUTATEN
4 Limonenspalten
4 Orangenspalten
4 Zitronenspalten
4 frische Minzzweige
12 ganze Kardamomsamen
1 Liter heißes Wasser
Orangenblütenwasser
Rosenwasser
Befestige die Spalten am Rand jeder der vier Teetassen. Gib einen Minzzweig und drei Kardamomsamen in jede Tasse. Fülle jede Tasse mit heißem Wasser auf. Träufle anschließend noch ein wenig Orangen- und Rosenwasser in jede Tasse. („Wenn du das nicht ganz am Ende machst, dann wird sich der Duft verflüchtigen”, warnt Frangié.)
Alle Fotos: Frangié Familie