Mitte September machte Ungarn seine Grenze zu Serbien dicht und verlagert damit die Route der Flüchtlinge auf die Nachbarländer. Kroatien und Serbien waren vorgewarnt und trotzdem tagelang komplett überfordert. Ich habe die Flüchtlinge auf ihrem neuen Weg von Serbien bis nach Österreich begleitet.
Die Grenze war dicht, ein Güterwaggon schloss die letzte Lücke am Übergang in Röszke. Durch die Grenzschließung Ungarns, bzw. den Bau eines Zauns und Konzentrierung auf verschiedene Übergänge in Serbien verschob sich innerhalb kürzester Zeit die gesamte Balkan-Route.
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Die Nachricht erreichte viele der Flüchtlinge zum ersten Mal am 15. September, bei ihrer Ankunft am Grenzübergang Horgos in Serbien: Ungarn hatte seine Grenzen faktisch für alle Flüchtlinge geschlossen. Ein junger Syrer blickte auf seinen Zettel, mit einem Kugelschreiber waren seine Reiseziele markiert. Europäische Städtenamen—alles, was er an Wissen über seine Reise hatte. Auch nach der Grenzschließung strömten Tausende Menschen in die Enge des Grenzübergangs, lediglich ein kleines grünes Tor. Dahinter warteten Hunderte Grenzpolizisten und die ungarische Armee.
Ein kleines Team von „Ärzte ohne Grenzen” sowie einige Mitarbeiter vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen organisierten zusammen mit einer Handvoll Freiwilliger die gesamte Versorgung der Flüchtlinge. Der serbische Staat und seine Verwaltung waren dagegen abwesend, bis auf wenige Polizisten, die vereinzelt durch das Camp patrouillierten. Die Versorgung mit Essen, Wasser, Decken, Zelten und Medikamenten wurde von den Freiwilligen und den wenigen, spartanisch ausgerüsteten Organisationen vor Ort vorgenommen. Über die Autobahn strömten zu jeder Uhrzeit immer neue Menschen in Richtung Grenztor nach Ungarn.
Nachts um vier Uhr ging ich die Felder entlang, welche die zwei Hälften des Camps miteinander verbinden. Mitten auf dem kalten Boden eines ehemaligen Parkplatzes lag ein älterer Mann, ermüdet und mit blutigen Füßen. Ali stammt aus Homs, seine Füße durch den langen Fußmarsch auf dem Asphalt der Autobahn blutig abgelaufen und stark angeschwollen. Nur durch Hilfe anderer Flüchtlinge gelang es, ihn ins Lager zu bringen, wo ihm eine der letzten verfügbaren Matrazen und eine dünne Decke ausgehändigt wurden. Völlig erschöpft sackte er zusammen. In Horgos Alltag.
Eine kleinere Gruppe von Flüchtlingen versuchte nachts durch spontane Sprechchöre die ungarische Polizei vergebens dazu zu bewegen, das Tor zu öffnen.
Tagsüber wurde es heiß, nachts so kalt, dass Schlafen ohne Bedeckung kaum möglich war. Viele Flüchtlinge harrten ohne Decken und Zelte auf der Autobahn aus, die wenigen Decken, die verteilt werden konnten, bekamen vorrangig Kinder. Die Arbeit bei der Verteilung von Hilfsgütern verlangte, vor allem bei den Freiwilligen, enorme psychische Robustheit. Viele waren zum ersten Mal mit derartigem Leid konfrontiert und dementsprechend fiel es ihnen schwer, Leute abzuweisen, die nach Essen, Decken oder Wasser fragten. Der Knappheit der Güter geschuldet mussten Familien mit wenigen Stücken Brot auskommen, andernfalls hätten mehrere andere Familien gar nichts bekommen.
Entlang des Niemandslandes zwischen Serbien und Ungarn steht der Stacheldrahtzaun, an dem stetig gearbeitet wird, Gräben ausgehoben und neue Rollen NATO-Draht verlegt werden.
Das Konfliktpotential wuchs in Horgos über die Morgenstunden heran, am Vorabend hatte es nur kleine Proteste gegeben. Für den nächsten Tag war allen klar, dass es womöglich auf eine Konfrontation hinauslaufen würde. Ein entsprechendes Ultimatum seitens der Flüchtlinge—Ungarn solle die Tore öffnen und einen Dolmetscher schicken—trug am folgenden Tage zur Eskalation mit der ungarischen Grenzpolizei bei.
Nur ein kleiner Kreis von Flüchtlingen stimmte die Sprechchöre an, viele Familien waren mit sich selbst beschäftigt, gestrandet auf einer Straße an deren Ende ungarisches Land lag. Von Kroatien oder Slowenien wollte niemand sprechen, diese Länder waren vielen nicht einmal bekannt. Der handgeschriebene Zettel bildete die Route und von ihr abzuweichen, war nicht im Plan. So harrten die Menschen eher Tag und Nacht auf den Straßen und Feldern aus, anstatt sich alleine auf den Weg nach Kroatien zu machen, ehe sie die Verzweiflung dazu treiben würde.
Tagelang konnten die Flüchtlinge in Horgos hauptsächlich nur mit Brot und Wasser versorgt werden. Deshalb führte vor allem die Verteilung von warmen Mahlzeiten zu Aufruhr und Chaos. Sogar soweit, dass sich die Fahrzeuge mit dem Essen zurückziehen mussten, wenn sie nicht gestürmt werden wollten.
All die Anspannung entlud sich schließlich in den Ausschreitungen mit den ungarischen Grenzpolizisten am 16. September. Aus einer Demonstration vor der Grenze Ungarns heraus wurde ein Ultimatum von den Flüchtlingen formuliert: Ein Dolmetscher und die Öffnung der Grenze, ansonsten garantiere man für nichts mehr. Wenig später flogen Tränengas, Steine und es schossen die Wasserwerfer. Was folgte, waren Chaos und Verletze auf beiden Seiten.
Direkt neben dem Grenzübergang stand ein ehemaliger Duty-Free-Shop, er diente als Lager für die Hilfsgüter. Als die Tränengasgranaten flogen, flüchteten sich vor allem die Frauen und Kinder in das Gebäude, nur wenige Meter von den Ausschreitungen entfernt. Gebannt verfolgten die Leute das Geschehen aus den großen Schaufenstern des Shops. Es flogen immer mehr, immer größere Steine—die Antwort: immer mehr Tränengas. Auch Gebäude wurde getroffen, ebenso die Rettungsfahrzeuge. Die Frauen griffen nach ihren Kindern und rannten hinaus, schwer atmend, Helfer versuchten, den Kindern nasse Tücher vor das Gesicht zu halten, doch es war kaum mehr möglich zu atmen. Ein Helfer rannte mit einem jungen Mädchen aus dem Haus, seine Mutter war weinend zusammengebrochen und konnte es nicht mehr tragen. Unterdessen gingen die Ausschreitungen weiter, stundenlang.
Zurück blieb Zerstörung. Nicht nur des Lagers der Helfer, welches anschließend geplündert wurde, sondern auch der Hoffnung auf eine friedliche Lösung an der ungarischen Grenze.
Spätestens jetzt war allen Beteiligten klar, dass sich die Route verschieben würde, gen Kroatien und Slowenien. Ungarn kündigte nach den Ausschreitungen an, den Grenzübergang für einen Monat zu schließen.
Am frühen Morgen danach fuhren die ersten Busse gegen Bezahlung von 25 Euro Flüchtlinge an die kroatische Grenze. Die letzten Kilometer mussten sie laufen. Auf einer großen Brücke tauchte das Schild „Kroatien” auf, darunter ein Schild mit der Flagge der Europäischen Union. Die ersten Flüchtlinge machten Selfies vor dem Schild. „Nicht mehr weit nach Deutschland”, sagte Ahmad, 17, aus Damaskus. „Das Bild schicke ich meinem Bruder in Syrien.”
An der kroatischen Grenze wurden Journalisten von den Flüchtlingen getrennt, die Flüchtlinge in Busse gebracht, der nächste Aufenthalt von ihnen nicht genannt. Zudem wurden die Journalisten aufgefordert, jedes Bild zu löschen, auf dem der Grenzübergang zu sehen war. Die Menschen sammelten sich in der heißen Mittagssonne vor der Grenzkontrolle. Über Kontakte mit den Flüchtlingen konnte der Weg dennoch weiterverfolgt werden, für viele endete er vorerst in Tovarnik, auf kroatischem Boden.
Tausende Flüchtlinge machten sich zudem zu Fuß über die Felder auf den Weg nach Tovarnik, in ein Camp, das eigentlich keines war. Zwischen drei großen Silos und Maisfeldern sammelten sich die Menschen. Am einen Ende befand sich die kleine Bahnstation, vor der Hunderte Menschen zwischen den Gleisanlagen, Bahnhof und Stellwerk auf die Züge gen Zagreb warteten. Ohne Zelte und Matratzen, denn sobald der Zug kommt, musste es schnell gehen.
Das andere Ende des Camps bildete die Straße, welche auf die Silos zulief. Auch sie war Herberge Hunderter Menschen in Erwartung auf einen Bus in Richtung Slowenien. Bewacht wurden die Ausgänge von der kroatischen Polizei, bis auf Journalisten und Helfer gelangte niemand hinaus. Die Atmosphäre war geprägt von Ungewissheit und Angst vor der Zukunft, niemand wusste, wohin die Busse fuhren und wann die Abfahrt stattfand.
Kroatien bot ein noch traurigeres Bild als Serbien, obwohl die staatlichen Institutionen in Kroatien behaupteten, sie würden es deutlich besser und humaner machen als das Nachbarland. Während in Brüssel in der selben Nacht mal wieder keine Einigung über die Verteilung erzielt werden konnte, wurden die Felder zu Freilufttoilletten, Menschen schliefen ohne Decken in der Kälte auf dem Asphalt und waren einer stetigen Knappheit von Hilfsgütern ausgeliefert.
In Tovarnik lief tagelang die gesamte Verteilung der Hilfsgüter über freiwillige Helfer, das kroatische Rote Kreuz war zwar vor Ort, blieb jedoch untätig und unkooperativ den Freiwilligen gegenüber, verbot ihnen sogar die Verteilung von Essen am Bahnhof.
Es fehlte auch hier an allem. Der Großteil der Güter wurde ad-hoc beschafft, beispielsweise durch Spendeneingänge am selben Tag oder sogar durch eigenes Geld der Helfer. Wenn an einem guten Mittag circa 1000 Essenportionen ausgehändigt werden konnten, standen mindestens doppelt so viele Personen Schlange. Erst nach Tagen wurde der kroatische Staat aktiv, in Erscheinung seines Militärs, welches das Lager räumte, die Freiwilligen wegschickte und die Flüchtlinge in ein neu errichtetes Militärlager brachte. Dies änderte nichts daran, dass sich die Ströme aus Serbien auf neue Orte wie Sid entlang der Grenze verteilten.
Über Tovarnik ging es weiter nach Osijek, einer ruhigen Stadt an der Drau. Am Busbahnhof versammelten sich bereits die Flüchtlinge, um ein Busticket nach Zagreb zu kaufen, manche waren direkt von Horgos hierhergekommen. Es kam zum Wiedersehen zwischen Menschen, die sich an verschiedensten Stationen aus den Augen verloren hatten.
Der junge Afghane Zarif, 17, versuchte, mit Bruchstücken von Englisch ein Ticket nach Zagreb zu bekommen—erfolgreich. Stolz schrieb er seiner Familie, kostenloses Internet gab es im Bahnhofscafé, nach kurzer Zeit prall gefüllt. Per Facebook ließ sich später verfolgen, dass er erfolgreich seinen Weg nach Deutschland beschritten hat und mittlerweile in Dortmund lebt, sein Ziel bleibt dennoch Frankfurt. „Ich will unbedingt nach Frankfurt, ich kann nicht länger von meinem Bruder getrennt sein”, schreibt Zarif später.
Von Osijek führte der Weg weiter nach Bregana, die Route hatte sich auf die große slowenische Autobahn A3 verschoben, am Grenzübergang entstand nach wenigen Tagen eine ganze Zeltstadt. Während unklar war, ob es Busse von slowenischer Seite geben würde, machten sich einige auf den Weg über die Felder und Wälder, Erstere wurden von der Polizei verhaftet, Zweitere hatten gute Chancen, sofern sie über Google Maps verfügten, den Weg durch die Wälder nach Slowenien zu finden. Die Wildnis entlang der Grenze war nahezu unbewacht, in den ersten Tagen fand zudem keine Luftüberwachung statt. Einzig die Strapazen von über sieben Stunden Fußmarsch mussten in Kauf genommen werden.
Während die Anzahl der Zelte immer mehr stieg, entschied sich Slowenien, die Grenze zu öffnen und mit Bussen eine Weiterreise zu ermöglichen. Innerhalb weniger Stunden wurden alle gestrandeten Flüchtlinge vom Grenzübergang weiter nach Norden—Richtung Österreich—gefahren.
Die Stimmung war sichtlich besser, die größten Strapazen des südlichen Balkans lagen hinter einem. „Wir wollen alle nach Deutschland”, sagt ein junger Mann aus Hama. Seine Gruppe hatte vorher schon überlegt, durch die Wälder zu gehen, aber als die Busse kamen, fingen sie an, sich in die Menge zu begeben, welche sich bereits um die Busse versammelt hatte.
Nahe der österreichischen Grenze befanden sich einige Einrichtungen von staatlicher Seite—Camps, die nur von Freiwilligen geleitet wurden, wie man sie zu vielen in Kroatien und Serbien erlebt hat, existierten nicht. Freiwillige ausländische Helfer werden in slowenischen Lagern ungern gesehen, die Verantwortlichen machten einer Gruppe von freiwilligen Helfern aus europäischen Nachbarländern klar, dass sie nicht mithelfen könnten, weil sie keine Slowenen seien.
Am Ende der Reise stand Österreich. In der Nähe der Grenze wurden Durchgangslager aufgebaut, von wo aus die Verteilung in andere Landesteile stattfand. In Spielfeld kam es zum Wiedersehen mit Flüchtlingen aus Serbien, sie wirkten glücklich und entspannt. Die Österreicher waren vorbereitet und in ihren Einrichtungen bestens ausgestattet, es fehlte an kaum etwas. Warme Hallen, Feldbetten, Decken und Spenden waren in großer Zahl vorhanden, so dass sich das Chaos vorerst legte.
Noch immer strömen Tausende Menschen nach Kroatien, mit den sinkenden Temperaturen und dem Regen wird die Reise in den nächsten Wochen noch gefährlicher, wenn nicht gar tödlich und die Erfahrungen der letzten Wochen werden sich wiederholen. Die Strapazen der Balkan-Route sind enorm und wurden von der Verschiebung abermals gesteigert.