Foto: Hintergrund (Murray Close | Netflix); Overlay (Tony Werman | Flickr | CC BY 2.0)
Dass Sense8 eingestellt werden soll, habe ich über mein Online-Netzwerk transsexueller Frauen erfahren. Viele von ihnen haben sich auf Facebook entsetzt darüber geäußert, dass eine der mit Abstand positivsten Medienrepräsentationen von LGBTQ-Personen und ethnisch diversen Charakteren eingestampft wird. Gleichzeitig schämten sie sich aber schon beinahe dafür, wegen einer fiktiven Serie so aufgebracht zu sein. Vielleicht wirkt es im ersten Moment tatsächlich etwas übertrieben, wie Fans auf das Ende von Sense8 reagierten. Gleichzeitig war das Format aber ein gutes Beispiel dafür, wie Kunst auf politisch schwierige Zeiten reagieren kann. Zeiten, wie wir sie gerade durchleben.
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Die Netflix-Serie der Wachowski-Schwestern lief über zwei Staffeln und war mit der Diversität ihres Casts ein ähnlicher Vorreiter, wie es Star Trek in den 60er Jahren war. Sense8 hat nicht nur Menschen verschiedener Ethnien und sexueller Orientierungen aus der ganzen Welt, sondern auch verschiedene sexuelle Vorlieben abgebildet. Damit setzte die Serie neue Maßstäbe in Bezug auf sexuelle und geschlechtsspezifische Normen (die Szene, in der eine Orgie gezeigt wird, machte weltweit Schlagzeilen). In der Trans-Community war die Serie aber vor allem wegen der Darstellung von Nomi so beliebt. Jamie Clayton, die die transsexuelle, lesbische Bloggerin und Hackerin spielt, ist auch im echten Leben trans.
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Lange bevor die Wachowski-Schwestern Sense8 gemacht haben, erschufen sie einen der erfolgreichsten und ikonischsten Science-Fiction-Filme aller Zeiten: Matrix kam 1999 heraus und wurde von Kritikerlob geradezu überschüttet. Auch heute, knapp zwei Jahrzehnte später, ist der kulturelle Einfluss des Films noch immer zu spüren.
Im Film stellt die Matrix eine simulierte Welt dar, die zwar echt zu sein scheint, es aber nicht ist. Tatsächlich wird die Menschheit in ihrer Bewusstlosigkeit von faschistischen Maschinen zur Energiegewinnung angezapft. Dieses Symbol hat transsexuelle Männer und Frauen von Anfang an angesprochen. Auch wir wuchsen in einer geschlechtsspezifischen Welt auf, die einzig und allein nach den Vorstellungen der anderen ausgerichtet ist. Wir waren gefangen in einem Körper, dessen illusorische Grenzen wir nicht übertreten sollten. Zumindest wurde uns das so beigebracht.
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In Matrix kann man der Simulation entkommen, indem man eine rote Pille schluckt. Sie lässt dich aufwachen, macht dir aber gleichzeitig deutlich, dass die Welt außerhalb der Matrix ziemlich traumatisch ist. Als der Film rauskam, wurden die meisten transsexuellen Menschen daran erinnert, dass sie ihre eigene Pille in den Händen hielten: Wir konnten entweder den Rest unseres Lebens bewusstlos in der Realität der anderen verbringen oder uns unsere Selbstbestimmung erkämpfen. Egal, wie risikoreich und brutal das auch werden würde.
Die “rote Pille” ist ein Symbol für das Erwachen aus der Gehirnwäsche durch den Status quo – und wurde dafür nicht nur innerhalb der Trans-Community zu einem ikonisches Sinnbild. Auch die Männerrechtsbewegung hat sich dieses Symbol angeeignet und zu der Vorstellung pervertiert, dass sie das unwissende Opfer einer großen Verschwörung wäre. Deren Ziel: Heterosexuelle Cis-Männer durch gesellschaftlichen Fortschritt und soziale Gerechtigkeit zu unterdrücken. Ein Konzept, dass mittlerweile auch im Vokabular politisch konservativer Männer Einzug gehalten hat.
Die Grenzen von Popkultur und Politik waren schon immer fließend, inzwischen sind sie kaum noch erkennbar.
“Die rote Pille symbolisiert in der Auffassung der Alternativen Rechten [in den USA] die Enthüllung der Lügen hinter Multikulturalismus und Globalisierung”, heißt es im New York Magazine dazu. “Sie soll Menschen erkennen lassen, dass die Wahrheit im isolationistischen Nationalismus steckt”. Schon beinahe ironisch: Männer vom rechten äußeren Rand nutzen das Vokabular von Transfrauen, um sich über ihre vermeintliche Unterdrückung durch progressive Kräfte zu beschweren.
Auf gewisse Weise ist Sense8 selbst eine rote Pille – die Flucht aus einer artifiziellen Industrie, die von weißen, heterosexuellen Cis-Personen dominiert und kontrolliert wird. Dasselbe könnte man auch über Washington und andere Zentren westlicher politischer Macht sagen, wo der Einfluss weißer Männer noch immer beunruhigend groß ist. Die Grenzen von Popkultur und Politik waren schon immer fließend, inzwischen sind sie kaum noch erkennbar. Und das nicht nur, weil die USA vor Kurzem einen Reality-TV-Star zu ihrem Präsidenten gewählt hat.
Tatsächlich ist Sense8 aber mehr als ein Geniestreich zweier Schwestern. Die Serie ist das Produkt einer kulturellen Veränderung, die ihr vorausgegangen ist. Auch Serien wie Orange is the New Black und Transparent setzen auf Charaktere abseits der weißen Heteronormativität. In den vergangen Jahren gab es mehr transsexuelle Schauspieler in der Filmindustrie als jemals zuvor. Gleichzeitig hat sich die Obama-Regierung aktiv für die Rechte Transsexueller eingesetzt und sie so aus dem Schatten in den Mainstream gehoben.
Als Laverne Cox auf dem Cover des Time Magazines zu sehen war, waren viele von uns naiv genug zu glauben, dass sich gesellschaftlicher Fortschritt nur in eine Richtung entwickeln kann. Inzwischen werden die transfeindlichen Stimmen innerhalb der Politik wieder lauter. Die Unterstützung, die uns durch die Obama-Regierung zugesichert wurde, wurde uns von Trumps Regierung mit einem Schlag wieder genommen. Die Angst wird wieder größer.
Die Welt wirkte real, unsere Körper wirkten real – im Grunde war das alles aber nichts weiter als eine Simulation.
Kultur verändert sich schneller als Politik und die Unterhaltungsindustrie besitzt die bemerkenswerte Fähigkeit, gesellschaftliche Normen zu beeinflussen. Die Präsidentin von GLAAD wettete bei der Verleihung der GLAAD Awards 2017, dass Will & Grace mehr für die Rechte von Homosexuellen in den USA geleistet hätte als alles andere. Popkultur und politischer Aktivismus geht oft genug Hand in Hand.
Für Netflix mag das alles keine Rolle spielen: Ihre Entscheidung, Sense8 einzustellen, hat vermutlich einzig und allein damit zu tun, dass die Produktion der Serie so teuer war. Das ist umso trauriger, weil sich die Serie für einen Zusammenhalt über die Grenzen von Ländern, Ethnien und Sexualität hinweg einsetzte. Sie war größer als Popkultur.
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Transsexuelle Menschen wurden in der Vergangenheit immer aus den Geschichtsbüchern gestrichen. Manchmal habe ich Angst, dass all der Fortschritt, den unsere Gesellschaft gegenüber der Trans-Community gemacht hat, wieder umgekehrt wurde. Eine Angst, die ich mit anderen marginalisierten Bevölkerungsgruppen teile. Sense8 mag aus der kapitalistischen Maschinerie der Filmindustrie stammen – die humanistischen Werte, die die Wachowski-Schwestern in der Serie verpackt haben, waren jedoch ein wertvolles Gegengewicht zu den politischen Kräften, die Minderheiten auf der ganzen Welt bedrohen. Die transsexuellen Wachowskis haben eine Serie geschaffen, bei der ganz unterschiedliche Gruppen und Menschen auf der ganzen Welt erkennen, dass sie gemeinsam stärker sind, als sie es alleine je sein könnten.
Bevor wir unser Geschlecht verändert haben, haben wir im Schatten mächtiger Menschen gelebt, die uns sagen wollten, wie wir zu sein haben. Die Welt wirkte real, unsere Körper wirkten real – im Grunde war das alles aber nichts weiter als eine Simulation.
Als uns die Wachowski-Schwestern die rote Pille angeboten haben, haben wir sie genommen. Und nun sind wir wach.