Sex

Was Frauen über Sex denken

„Ich denke alle neun Sekunden an Sex und alle zwölf Sekunden daran, mich umzubringen.” Das war Signe Baumanes Antwort auf meine Interviewanfrage. Sie zeigte mir damit, dass Selbsterkenntnis immer dann kommt, wenn man sie am wenigsten erwartet.

Vor ungefähr einem Monat stolperte ich über Signes animierte Kurzfilme (Teat Beat of Sex) und es kam mir vor, als ob sie in mein Hirn abgetaucht wäre, alles herausgefischt hätte, was ich je über Sex gedacht habe, und es dann gezeichnet hätte. Dann erfuhr ich, dass sie einen animierten Film herausbringen würde: Rocks In My Pockets. Es handelt sich dabei um eine Nacherzählung von Signes Familiengeschichte über Depression und war die perfekte Ausrede für mich, um Signe anzuschreiben. Trotzdem hätte ich nie gedacht, dass einmal eine in New York arbeitende Trickfilmzeichnerin mit lettischen Wurzeln meine geistige Befindlichkeit in einem Satz zusammenfassen würde.

Videos by VICE

Ich denke ebenfalls ständig und abwechselnd an Sex und ans Sterben. Und tatsächlich: Jetzt, wo ich darüber nachdenke, würde ich es merkwürdig finden, wenn ihr nicht ständig daran denken würdet. Worüber soll man sich denn sonst Sorgen machen, wenn nicht über Leben und Tod? Über all das—und über Sex and the City—habe ich mit Signe gesprochen.

VICE: Rocks in My Pockets ist ein Film über psychische Krankheit, über deine Familie und darüber, wie wichtig es ist, sich selbst und die eigene Geschichte zu kennen. Das hast du getan, indem du deine eigene Familiengeschichte enthüllt hast. Wie hat deine Familie darauf reagiert?
Signe Baumane: Sie waren verärgert. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie immer noch verärgert sind. Als der Film im August in Lettland Premiere hatte, kamen 600 Menschen zur Premiere, von denen 60 meine Verwandten waren. Die jüngere Generation sagte: „Wow, jetzt verstehen wir uns selbst endlich.” Der Rest der Familie war nicht so begeistert davon, dass ich die schmutzige Wäsche unserer Familie vor anderen Leuten wusch.

Andererseits kamen die anderen Premierengäste zu mir und sagten: „Das ist ja, als ob du meine Geschichte erzählen würdest, das in dem Film ist meine Familie.” In jeder Familie gibt es psychische Erkrankungen. Der einzige Grund dafür, dass meine Familie sich so einzigartig fühlt, ist, dass sie mit niemanden über diese Fälle spricht.

Mir kommt es so vor, als ob es keinen großen Unterschied macht, ob die Frauen im Film miteinander verwandt sind oder nicht. Was ihre Geschichten verbindet, ist die Unterdrückung ihrer Gefühle oder Begierden.
Ich denke, genetische Veranlagung kann zum Teil für psychische Erkrankungen verantwortlich gemacht werden, aber du hast schon Recht. Ich finde es interessant, dass nur eine dieser Frauen in der Lage war, dem verhängnisvollen Wahnsinn zu entkommen: ich. Das liegt vermutlich an meiner Ausbildung. Ich habe Philosophie studiert, weshalb ich genügend Selbsterkenntnis aufbringen konnte, um zu verstehen, wie es gerade um mich steht und wonach ich strebe.

Es hat also auf jeden Fall mit den Umständen zu tun. Ich glaube nicht, dass es ein Depressionsgen gibt. Es gibt wahrscheinlich eine gewisse genetische Prädisposition für geistige Fragilität, die uns zu denen macht, die wir sind. Der Geist eines Künstlers ist sensibel, er sieht die Welt in einem anderen Licht. Wenn so ein Geist in ein Korsett aus gesellschaftlichen Erwartungen gesteckt wird oder wenn man in einer Ehe aushält, in der der Partner einen wie Dreck behandelt, dann zerbricht man irgendwann.

Ich weiß aber nicht wirklich, woran Menschen zerbrechen. In meiner Geschichte stelle ich eher Fragen als das ich sie beantworte. Ich bin bloß Künstlerin.

Die Sorge darum, was wohl die Nachbarn sagen werden, was wohl die Leute sagen werden, findet man häufig in geschlossenen Gesellschaften. Ich bin in Griechenland aufgewachsen und habe das sogar Anfang der 2000er Jahre gemerkt.
Ich bin ebenfalls so aufgewachsen. Ich bin der Meinung, dass die Gesellschaft viel Druck auf das Individuum ausübt und dass nicht jeder Mensch dem standhalten kann.

Entsprechen die Geschichten in Rocks in My Pockets der Wahrheit?
Einiges habe ich dramatisiert und stilisiert, um es spannender zu machen, aber die grundlegenden Dinge sind Tatsachen. Es stimmt, dass meine Großmutter unter mysteriösen Umständen gestorben ist, über die niemand in meiner Familie sprechen wollte. Es stimmt auch, dass drei meiner Cousinen Selbstmord begangen haben. Auch, dass ich versucht habe, Selbstmord zu begehen, als ich 18 war, stimmt.

Was hat dich dazu bewegt, aus der Geschichte einen animierten Spielfilm zu machen?
Es ist fast unmöglich, so viel Geschichte in eine Realverfilmung zu packen. Wie eine Depression sich ausbreitet, wie das Innenleben eines Menschen aussieht, kannst du in einer Realverfilmung nicht zeigen.

Kannst du dich noch an A Beautiful Mind erinnern, den Film über den Mathematiker, der verrückt wurde? Sie haben seinen geistigen Zustand dargestellt, indem sie verschwommene, sich drehende Bilder gezeigt haben. Das ist so ziemlich die einzige Darstellungsmöglichkeit, die du in einer Realverfilmung hast. In der Animation ist das anders: Du kannst einfach in jemandes Kopf spazieren und alles zeigen, was darin vor sich geht, völlig zwanglos. In der Animation kannst du alles tun, was du willst.

Was mich stört, ist, dass der Zeichentrick als Medium für Kinder missverstanden wird; das macht mich wirklich traurig. Zeichentrick gibt es doch seit Jahrzehnten, das waren die ersten bewegten Bilder. Dann haben irgendwann in den 1920er Jahren Kinder den Zeichentrick für sich beansprucht.

Weshalb hast du dich für das Thema Depression entschieden?
Ich habe obsessive Gedanken—wie ich dir schon in der E-Mail geschrieben habe. Alle neun Sekunden denke ich an Sex, alle zwölf Sekunden denke ich daran mich umzubringen. Das Thema Sex habe ich schon lang und breit behandelt, indem ich einige Filme darüber gemacht habe, wie zum Beispiel die Teat Beat of Sex-Serie.

Also dachte ich mir: „Wieso beschäftigst du dich nicht mit diesem anderen Gedankenstrang, dem über Selbstmord?

Du hast das Voice-Over für Teat Beat of Sex und Rocks in My Pockets selbst gemacht. Deine Geschichten mit deiner Stimme unterlegt zu hören, noch dazu mit deinem Akzent, macht es sehr persönlich. Jetzt, wo ich mich mit dir unterhalte, komme ich mir vor, als ob ich in einem deiner Filme wäre.
Über Jahre habe ich geglaubt, dass man im Zeichentrick komplexe Ideen am besten ohne Worte ausdrücken kann, deswegen habe ich viele Filme ohne Voice-Over gemacht. Die meisten davon kamen aber nicht gut an. Dann habe ich Teat Beat und Birth gemacht, die beide unglaublich gut ankamen. Ich vermute, die Zuschauer finden dann leichter einen Bezug dazu.

Außerdem ist meine Stimme ja spezifisch; ich habe einen deutlichen lettischen Akzent. Als ich den Film machte, sagten mir viele, dass ich eine Schauspielerin für das Voice-Over einstellen sollte. Ich bin mir sicher, dass eine Schauspielerin meinen Akzent nachahmen könnte, aber es ist doch meine Geschichte. Wenn du diesen emotionalen Einschlag herausnimmst, dann ist es nicht das gleiche.

Du hast gesagt, dass du alle neun Sekunden an Sex denkst. Mein Hirn funktioniert mehr oder minder genauso. Ich bin durch Teat Beat auf dich gestoßen; ich habe Lizard gesehen und mir gedacht: „ Endlich bringt jemand auf den Punkt, wie Frauen über Sex denken. Oder zumindest, wie ich über Sex denke.” Ich meine damit das permanente Verwechseln von dem Suchen nach Schwänzen und dem Suchen nach „dem Traumprinz”. Du kannst mit deinen Freundinnen über Sperma sprechen und zur gleichen Zeit jedes Mal, wenn du einen Typen küsst, davon träumen, ihn zu heiraten. Ich frage mich, wie deine Serie aufgenommen wurde.
Die traurige Wahrheit ist: Wenn ein Mann einen Film über Sex macht, dann ist er ein Filmemacher. Wenn eine Frau einen Film über Sex macht, dann ist sie sexbesessen.

Ich mache Filme so, wie ich sie machen möchte und mache mir keine Gedanken über Image. Scheinbar gelte ich in Lettland aber als Provokateurin. Ich provoziere doch überhaupt nicht, ich mache bloß Filme. Provokant zu sein, ist doch bloß ein Nebenerzeugnis einer Gesellschaft, die noch nicht bereit ist für diese Ideen.

Ich habe beispielsweise 2007 mit Teat Beat of Sex angefangen. Zu der Zeit waren Happy Tree Friends beliebt. Der Produzent Pier Poire kam auf mich zu, weil er nach etwas suchte, dass sich von der Gewalt abhob, die zu der Zeit so populär war. Er hat Geld in Teat Beat gesteckt und wir haben versucht, die Episoden zu verkaufen. Die Betreiber einer beliebten Internetseite für Kurzfilme sagten uns, dass sie die meisten unserer Folgen nicht zeigen könnten, weil ihre Richtlinien nur gestatteten, männliche Genitalien zu zeigen. Weibliche dürften nicht gezeigt werden und in unseren Episoden wären weibliche Genitalien eben extrem häufig zu sehen.

2009 hatte ich dann genug und habe sie einfach online gestellt, zum kostenfreien Abrufen. Wir haben 15 Episoden gemacht und unser armer Produzent hat keinen Cent wiedergesehen. Ich glaube, es hängt damit zusammen, dass meine Arbeit Sex aus der Perspektive einer Frau zeigt. Die Menschen sind noch nicht bereit dafür.

Glaubst du, dass das immer noch der Fall ist? Mir kommt es so vor, als ob die Medien in den letzten Jahren der weiblichen Perspektive auf Sex sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt haben. Vielleicht war es der Einfluss von Phänomenen wie Sex and the City auf meine Generation.
Weißt du was? Als ich 1995 nach New York gezogen bin, kleideten sich die Frauen hier auf eine ganz bestimmte Art und benahmen sich auf eine ganz bestimmte Art. Ihre Kleidung war praktisch, weil man in New York eben größere Distanzen zurücklegen muss, und es war auch allgemein bekannt, dass die New Yorker Frauen niemals beim ersten Date mit einem Mann schlafen würden. Weil ich aus Europa kam, sprachen mich viel mehr Männer an, weil sie davon ausgingen, dass europäische Frauen leicht zu haben waren. Was so gesehen auch stimmte. Wenn mir ein Mann sympathisch war, dann habe ich nicht eingesehen, warum ich nicht von Anfang an mit ihm schlafen sollte. Amerikanische Frauen waren nicht so leicht zu haben. Hut ab dafür!

Doch zu Anfang der 2000er Jahre änderte sich plötzlich alles. Plötzlich liefen Frauen in kurzen Röcken und High Heels herum, betranken sich in Bars und schliefen schon beim ersten Date mit Männern. Ich wusste gar nicht, was vor sich ging. Dann hörte ich von Sex in the City und dachte mir „Fuck!”.

Als ich aufwuchs, sahen Frauen sich gegenseitig als Rivalinnen. Wir vertrauten einer anderen Frau niemals einhundertprozentig, weil wir wussten, dass unsere beste Freundin uns jederzeit unseren Mann ausspannen kann. Mir ist das passiert und ich habe das auch mit anderen Frauen gemacht.

Es scheint so, als ob sich das nun geändert hätte. Frauen haben Freundinnen und denken gemeinschaftlich. Wenn das in irgendeiner Art und Weise mit Sex and the City zusammenhängt, dann ist das großartig. Wir brauchen weibliche Unterstützung. Wer soll uns denn sonst unterstützen?