“Sie ist hier. Sie ist wirklich hier! Oh mein Gott! Sie ist hier!” Aufgeregt rennen drei Mädchen mit gezückten Handys hinter Beauty-Vloggerin Olivia Grace her. Die 16-jährige Influencerin sieht vielleicht wie ein normales Schulmädchen aus, ihre YouTube-Videos, in denen sie ihren Handtascheninhalt auspackt oder ihre Weihnachtsgeschenke präsentiert, werden allerdings von Zehntausenden angeklickt. Kreischende Teenager und Selfies sind auf der Beautycon die Norm – genau wie sündhaft teure Luxus-Highlighter.
Tausende, meist jüngere Make-up-Fans sind zum Olympia Trade Centre in Westlondon gepilgert. Die meisten haben die umgerechnet 33 Euro für das reguläre Ticket bezahlt. Für etwa 135 Euro gibt es aber auch das Premium-“Social Package”. Das gibt besonders engagierten Fans unter anderem die Möglichkeit, Selfies mit den Lieblings-Influencern zu machen. Die meisten sind nämlich nicht nur gekommen, um ihr Taschengeld an einem der Dutzend auf Teenager ausgerichteten Messestände auszugeben – sie wollen ihre Lieblings-Instagrammer und YouTube-Stars treffen.
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Die meisten Mädchen, die ich hier antreffe, haben sich extrem herausgeputzt. Eigentlich kein Wunder bei einer Veranstaltung, bei der sich wirklich alles um Kosmetik dreht. Aber was kann ich von dieser stark konturierten Teenager-Mädchen über die Schönheitsstandards der Zukunft lernen?
Kurz nach meiner Ankunft treffe ich die kanadische Vloggerin Jordi Dreher, besser bekannt als It’s Likely Makeup. Sie hat 270.000 Instagram-Follower und über 25 Millionen Views auf ihrem YouTube-Kanal. Obwohl Dreher und ihre Freundin ziemlich unter Jetlag leiden, sehen beide makellos aus. Ein bisschen so, als hätte man ihre Gesichter mit einem Snapchat-Filter glattgebügelt.
“Echte Sommersprossen zu haben, macht keinen Sinn.”
Ich frage Dreher, welchen Make-up-Trend sie aktuell am liebsten mag. “Ich liebe Lollipop Lips, bei denen der Lippenstift um die Lippen herum verschmiert wird. Das sieht aus, als hättest du gerade rumgeknutscht”, antwortet sie. Auf die Sommersprossen auf ihrer Nase angesprochen, erklärt sie mir, dass die nicht echt sind.
“Echte Sommersprossen zu haben, macht keinen Sinn. Die werden sowieso vom Make-up verdeckt und dann muss ich sie wieder aufmalen!”
Wie man auf der Beautycon merkt, dient Make-up nicht länger dazu, gut auszusehen oder einen eigenen Look zu verstärken – jedenfalls nicht ausschließlich. Die Zeiten, in denen man sich mit etwas Rouge einen natürlich-frischen Teint verpasst hat, sind vorbei. Diese jungen Frauen wollen überirdisch perfekt aussehen, wie eine Alien-Prinzessin.
Am Stand des Glitter-Make-up-Hersteller Sparkles London treffe ich auf drei 15-Jährige, die problemlos als Mitglieder einer Girlgroup durchgehen könnten. Natalia hat dermaßen akkurate Augenbrauen, dass es mich nicht wundern würde, wenn sie die mithilfe eines Kompasses nachgezogen hätte. “Heute habe ich eine Stunde daran gesessen”, erklärt sie. Normalerweise arbeite sie nur etwa 15 Minuten an ihren Brauen. “Ich trage zuerst Pomade auf, dann gehe ich mit dem Liner drüber und verwische ihn. Dann trage ich drum herum Concealer auf, um alles zu schärfen und hervorzuheben.”
Ein Vorgehen, dass die meisten Beautycon-Besucherinnen zu teilen scheinen. Die natürliche Form ihrer Brauen ist extrem übermalt, die Ränder sind scharf ausdefiniert. Früher wäre mir allein der Gedanke, meine Augenbrauen zu schminken, total bekloppt vorgekommen. Heutzutage werden sie stellenweise sogar mit Kristallen verziert. Gib bei Instagram #christmasbrows ein und du findest Hunderte Beispiele für glitzernde, mit Federn und Steinchen geschmückte und festlich bemalte Augenbrauen.
Natalias Freundin Emer bevorzugt hingegen geflochtene Augenbrauen. “Moment, man kann Augenbrauen flechten?”, frage ich perplex. “Nein, du photoshopst einen Zopf in deine Augenbraue, damit dein Selfie bei Instagram cool aussieht”, erklärt sie.
Anstatt auf Schminktipps von Freundinnen oder Schwestern angewiesen zu sein, hat jedes Mädchen heute eine große Cyberschwester.
Es gibt jedoch auch andere Trends, die zwar ebenfalls von Technologie und Social Media inspiriert sind, aber durchaus im echten Leben angewendet werden: Meme-Lidschatten mit Mikroporträts von Memeklassikern wie Salt Bae oder der weinenden Kim Kardashian. Mit diesen diffizilen Augenlidkunstwerken hatten wohl die Wenigsten als Trend 2017 gerechnet. Trotzdem greifen Technik und Make-up ganz allgemein immer mehr ineinander. Kosmetikfirmen vermarkten ihre Produkte mittlerweile häufig speziell für eine Generation, die mit Social Media aufgewachsen ist. Instablur Eye von Body Shop und #FauxFilter Foundation von Huda Beauty versprechen beide Effekte, die schmeichelnden Instagram-Filtern ähneln sollen.
Auch für die 15-jährige Emer geht es bei Make-Up nicht mehr länger darum, Schönheitsfehler zu verdecken. Die Zurschaustellung der eigenen Handfertigkeiten sei in den Vordergrund gerückt. “Früher habe ich Natalia immer nur gesagt, dass sie gut aussieht”, erklärt sie, “aber jetzt sage ich eher so was wie: ‘Deine Brauen sind heute on Point.’”
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Während ich zwischen den Ständen umherschlendere, kommt plötzlich Rihannas “Work” über die Anlage. Alle beginnen zu wippen, während sie durch Eimerweise Glitter-Make-up wühlen oder verschiedene Nude Lippenstifte in kaum unterscheidbaren Schattierungen ausprobieren. Fast alle Teenagerinnen, mit denen ich hier spreche, wollen unbedingt den Cut Crease meistern – einen Make-up-Trend, der die Lidfalte (Crease) definiert. Dabei wird sie mit einer kontrastierenden Farbe nachgezogen und dieser Strich dann wenig bis gar nicht verwischt.
Die 18-jährige Megan steht schon seit 20 Minuten für ein Paar falsche Wimpern an einem Stand an. Ich frage sie, wie man den Cut Crease am besten hinbekommt. “Du musst dein Lid mit Wimpernkleber einschmieren und dann darauf Lidschatten tupfen, um eine sehr ausdefinierte Linie zu kreieren”, sagt sie.
Als ich 15 war, habe ich mir noch Concealer über die Lippen geschmiert und meine Wimpern mit meinem vertrockneten Mascara verklebt – dem einzigen, den ich hatte. Für Teenager-Mädchen von heute hat das Internet aber alles verändert, erklärt mir Megans Freundin Kate.
“Ich schau nicht in die Magazine oder auf Make-up-Werbung. Ich kaufe die Sachen, die Vlogger online posten.”
“Wenn du lernen willst, wie du Glitter-Lippen oder Augenbrauen im Ombre-Look schminkst, dann findest du auf YouTube 20 verschiedene Tutorials”, sagt sie. Anstatt auf Schminktipps von Freundinnen oder Schwestern angewiesen zu sein – oder die Techniken im mühseligen Trial-and-Error-Verfahren selbst auszuprobieren –, hat jedes Mädchen heute eine große Cyberschwester, die sie beliebig oft anschauen und wenn nötig pausieren und zurückspulen kann.
Auch wenn ich es unfassbar beeindruckend finde, wie geschickt diese jungen Frauen mit Eyeliner-Pinseln umgehen, lässt sich kaum verleugnen, dass Beauty-Vlogging eine Kultur ist, bei der es vor allem um Konsum geht. Bei all ihren schwesterlichen Ratschlägen bilden YouTuber die neue Frontlinie im Kampf der Kosmetikhersteller um die Gunst des jungen und beeindruckbaren Klientels.
Das merke ich auch im Gespräch mit Emer. “Ich schau nicht in die Magazine oder auf Make-up-Werbung”, sagt sie. “Ich kaufe die Sachen, die Vlogger online posten.”
Und die Influencer fahren für die von ihnen bevorzugten Marken satte Gewinne ein. Als ich nach der Beautycon durch YouTube stöbere, finde ich zahllose Videos von Besucherinnen, die ihre Einkäufe in sogenannten Haul-Videos präsentieren. Kein Wunder also, dass die Ausgaben für dekorative Kosmetik vor allem bei jungen Menschen seit Jahren steigen.
Ähnlich wenig wundert es, dass es auf der Beautycon vor gelangweilten Eltern wimmelt – irgendwer muss das Zeug schließlich bezahlen. Sie sitzen in den Ecken, starren auf ihre iPads und händigen auf Anfrage brav ihre Kreditkarten aus, ohne wirklich zu wissen, was sie damit überhaupt bezahlen. Es ist wirklich befremdlich, durch die Halle zu laufen und 14-Jährige zu sehen, die dank ihre Schminke Jahre älter aussehen. Ich spreche mit der Mutter eines zwölfjährigen Mädchens, die mir erzählt, dass der Busfahrer fast nicht das Schülerticket ihrer Tochter akzeptiert hätte. Er hätte sie niemals für unter 18 gehalten.
“Das macht alles das Make-up”, erklärt sie leicht amüsiert.
“Ich habe am Black Friday 450 Euro für Schminke ausgegeben. Ich habe jetzt neun Lidschattenpaletten!”
Natürlich schwebt über allem auch die Frage, ob sich diese unfassbar hohen Schönheitsstandards, die sich moderne Teenagerinnen setzen, nicht schädlich auf ihr Selbstwertgefühl auswirken. Tatsächlich sind psychische Probleme unter Jugendlichen seit Jahren auf dem Vormarsch.
Die Mädchen, die ich bei der Beautycon treffe sehen sich selbst aber keineswegs als ausgebeutete Konsumentinnen oder Selfie-Junkies mit geringem Selbstwertgefühl. Sie sehen sich als Teil einer Community von Make-up-Fans – einer Subkultur aus Teenagerinnen, die mit der Expertise einer Industrieingenieurin über die Feinheiten verschiedener Lidschattenpigmentierungen fachsimpeln können.
“Wenn du auf einer Party jemanden mit richtig gutem Make-up siehst, sagst du einfach: ‘Oh mein Gott, das ist wunderschön!’ Und schon hast du neue Freunde”, erklärt die 17-jährige Abbie.
Michelle Onyach ist heute quasi beruflich hier. Die 18-jährige gebürtige Kenianerin vloggt von der Beautycon für den Snapchat-Account MUAtakeover254, den sie mit ihrer besten Freundin Beverly Onyango betreibt. Ihre Zielgruppe sind schwarze Frauen. Als ich sie frage, ob sie sich auch etwas gekauft hat, antwortet sie: “Nein, ich habe am Black Friday schon 450 Euro für Schminke ausgegeben, Beverly 225 Euro. Ich habe jetzt neun Lidschattenpaletten!”
Eine ganze Menge Geld für Lidschatten könnte man jetzt meinen, aber Frauen wie Onyach sehen solche Ausgaben als Investition. Indem sie ihren Followern die neusten Produkte vorführen, können sie ihre Social-Media-Präsenz erhöhen – und sich damit attraktiver für Marken und Vermarkter machen.
“Meinen Eltern macht das nichts aus, [dass ich so viel Geld ausgebe]”, erklärt sie lächelnd. “Die wissen, dass das wichtig für meine Arbeit ist.”
Onyach hat sich hohe Ziele gesteckt – und die Influencer und Content-Creator, die auf der Beautycon auftreten, beweisen, dass Vlogging durchaus lukrativ sein kann. Viele von ihnen werden von Talentagenturen gemanaged, die auch Popstars, Profisportler und berühmte Schauspieler unter Vertrag haben. Auch wenn sich unmöglich sagen lässt, wie viel ein Premiumvlogger tatsächlich verdient, sorgte bereits 2016 der britische YouTube-Star Zoela – die vor allem Lifestyle- und Beauty-Videos produziert – für Schlagzeilen, als bekannt wurde, dass sie über 50.000 Euro im Monat verdient.
“Wir sprechen ganz normal, während Schauspieler im Fernsehen eine Rolle spielen. Wir interagieren mit Fans, fragen nach Feedback, antworten auf Kommentare.”
Oynach ist aber bei Weitem nicht die einzige, die hier heute filmt. Neben einer regelrechten Wand aus iPhone-Bildschirmen, haben viele professionelle DSLR-Kameras und Stative mitgebracht. Hier ist eine Generation von Mädchen versammelt, die aus ihren Kinderzimmern heraus kleine Produktionsfirmen betreiben.
Mit ihrem Premiumticket hat Oynach auch Zugang zu den Meet-and-Greets in der privaten Messelounge. Ich folge ihr dorthin und schaue zu, wie sie mit der Vloggerin Kaiser Coby (250.000 YouTube-Abonnenten) spricht. Als ich sie frage, wie es gelaufen ist, gluckst es aus ihr heraus: “Es war echte Black Girl Magic. Und dann hat sie mir gesagt, dass ich wunderschön bin.”
Plötzlich geht ein Kreischen durch die Meet-and-Greet-Lounge. Der Grund für die Hysterie ist die 15-jährige Influencerin Quisha Rose (127.000 YouTube-Abonnenten). Neben ihrem Kanal hat sie auch noch eine eigene Kollektion mit Handyhüllen und pinken Hoodies. “Ich zittere”, sagt die 13-jähige Diamond, die es geschafft hat, einen Selfie mit Rose zu ergattern. “Ich liebe sie. Sie ist Tierrechtsaktivistin und Veganerin. Sie ist einer der Hauptgründe, warum wir hierher gekommen sind.”
Die ganze Aufregung um mich herum verwirrt mich. Warum fühlen diese Mädchen eine so starke Verbindung zu Influencern, die sie noch nie getroffen haben?
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“Unsere Fans sehen uns als Freunde”, erklärt Lewys Ball – besser bekannt als Looking for Lewys, ein 17-jähriger Make-up-Vlogger, der aktuell in einer Kampagne für Rimmel London auftritt. Seine Erläuterungen dazu, warum junge Menschen sich so sehr mit YouTubern identifizieren, unterstreicht er mit Augenrollen und Schulterzucken. Er wirkt wie ein lebendig gewordenes Paris-Hilton-GIF.
“Wir sprechen ganz normal, während Schauspieler im Fernsehen eine Rolle spielen”, sagt er. “Wir interagieren mit Fans, fragen nach Feedback, antworten auf Kommentare. Für die meisten berühmten Menschen ist das keine Option.”
Als ich die Beautycon verlasse, laufe ich den drei Mädchen über den Weg, die am Anfang hinter Grace hergerannt sind. Wie sich herausstellt, sind auch sie Vloggerinnen. “Jungs sind gemein”, sagt die 12-jährige Lucy. “Die machen sich immer über uns lustig. ‘Oh, vloggst du das jetzt oder was?’ Aber Mädchen finden es cool.” Sie reicht mir eine mit Microsoft Word entworfene Visitenkarte. Darauf sind Fotos von den Mädchen in einem Park. Ein Link zu ihrem YouTube-Kanal darf natürlich auch nicht fehlen. Er hat genau 1.600 Abonnenten.
Heute sind sie vielleicht noch präpubertäre Mädchen, die ihren liebsten YouTube-Superstars hinterherlaufen. Ich würde mich aber nicht wundern, wenn sie schon bald diejenigen sind, die von Horden glitzernder Teenagerinnen verfolgt werden.