Abdullah ist ein 30 Jahre alter Palästinenser aus Syrien mit kurzen schwarzen Haaren, einer zierlichen Gestalt und dunklen Ringen unter den Augen. Um vor dem Bürgerkrieg zu fliehen, ging er in der Nacht des 10. Oktober 2013 mit mehr als 400 anderen Menschen an Bord eines kleinen Fischerbootes in Libyen. Am nächsten Tag begann das Boot gegen 16:00 Uhr 130 Kilometer vor der italienischen Insel Lampedusa zu sinken. Es wird geschätzt, dass bei dem Schiffsunglück mehr als 250 Menschen starben, aber nur 26 leblose Körper konnten aus dem Wasser gezogen werden.
„Das Rettungsteam ließ sich bis 18 Uhr nicht blicken“, sagte Abdullah. „Ich erinnere mich noch daran, Hunderte Körper neben mir im Wasser treiben zu sehen.“
Videos by VICE
Abdullah überlebte. Er musste zwei Tage im Krankenhaus verbringen und wurde dann in ein Flüchtlingscamp bei Trapani gesteckt, einer Stadt an der Westküste Siziliens. Dennoch schaffte er es irgendwie, nach Mailand zu fliehen. Ein paar Tage später trat Abdullah in der Nähe des Hauptbahnhofs an eine Gruppe von Menschen heran, um sie nach dem Weg zu fragen.
„Er fragte meine Freunde und mich, wie er nach Schweden kommen könnte“, sagte Gabriele Del Grande, ein italienischer Journalist und Flüchtlingsaktivist. „Nachdem wir ihm gesagt hatten, dass er dort nicht direkt hinkommen könne, luden wir ihn auf einen Kaffee ein.“
Bewegt von Abdullahs Geschichte lud Del Grande eine Woche später zwei seiner engsten Freunde zu sich nach Hause ein. Mit dem italienischen Filmemacher Antonio Augugliaro und dem palästinensischen Dichter Khaled Soliman Al Nassiry dachten sie bei einigen Gläsern Grappa darüber nach, wie man Syrern dabei helfen könne, Zuflucht in Europa zu finden. Sie alle hatten Freunde, die von dem Bürgerkrieg betroffen waren.
Mehr als 2.8 Millionen Syrer waren bislang gezwungen, das Land zu verlassen. Die meisten von ihnen sind durch die Nachbarländer Türkei (764.000), Libanon (1.093.069) und Jordanien (597.328) geflohen. Laut dem UNHCR-Bericht vom März 2014 hat Europa gerade einmal 89.000 Menschen aus Syrien Asyl gewährt. Obwohl Schweden Syrern, die in das Land kommen, uneingeschränktes Aufenthaltsrecht gewährt, machen es die strikten Grenzkontrollen in ganz Europa nahezu unmöglich, jemandem zu helfen, von Italien dorthin zu kommen. Dann hatte Gabriele aber eine Idee.
„Welcher Grenzer würde jemals einen Hochzeitskonvoi aufhalten?“, fragte Del Grande seine Freunde Auguugliaro und Al Nassiry, nachdem er sein letztes Glas Grappa geleert hatte.
Am nächsten Morgen sagte Augugliaro zu Del Grande, dass sein Vorschlag, eine Hochzeitsprozession nach Schweden zu inszenieren, nicht nur eine brillante Idee sei, sondern auch einen großartigen Dokumentarfilm hergeben würde. Al Nassiry bat sich als Regisseur an und so stand das Projekt fest.
Sie würden den Dokumentarfilm dazu verwenden, fünf syrischen Flüchtlingen dabei zu helfen, von Italien nach Schweden zu kommen. Sie nannten das Projekt On the Bride’s Side. Bevor es allerdings weitergehen konnte, musste erst noch eine Hochzeitsgesellschaft rekrutiert werden.
„Gabriele rief mich, zwei Wochen nachdem wir uns getroffen hatten, an. Er fragte, ob ich verkleidet als Bräutigam nach Schweden reisen möchte“, erzählte Abdullah. „Ich sagte sofort zu.“
„Als sie mich fragten, ob ich die Braut sein möchte, hielt ich das sofort für eine großartige Idee“, sagte Tasneem, eine 25 jährige Deutsch-Palästinenserin, die aus Yarmouk geflohen war, kurz bevor dort der Angriff mit chemischen Waffen stattfand. „Wir alle leben unter dem gleichen Himmel und wir sollten alle das gleiche Recht haben, zu reisen wohin wir wollen.“
Ein 12 Jahre alter Palästinenserjunge mit dem Namen Manar und sein Vater würden ebenfalls mit auf die Reise kommen. Sie waren von Syrien nach Ägypten geflohen und waren dann von Alexandria mit einem Boot nach Italien gefahren. Manar ist staatenlos geboren—wie die meisten Palästinenser aus seiner Region—und hat seine Zuflucht in der Musik gefunden. Wenn er älter ist, möchte er Rapper werden.
Del Grande trat außerdem an Mona und Ahmed heran, eine Syrerin und ein Palästinenser aus Yarmouk. Sie lebten für fünf Jahre mit ihren Kindern in Libyen, bevor sie sich auf den Weg nach Lampedusa machten. Mit ihren Kindern, die ebenfalls staatenlos geboren sind, flohen sie nach Europa, um ihrer Familie eine Freiheit zu ermöglichen, die sie in der Art zuvor noch nicht gekannt hatte. Als sie auch zugesagt hatten, bat Del Grande alle darum, sich Hochzeitskleidung anzuziehen, und brachte sie zum Friseur.
„Ich sagte den Friseuren, dass Tasneem und Abdullah gerade geheiratet hatten, und bat sie darum, die ganze Familie schön aussehen zu lassen“, so Del Grande.
Jetzt sahen alle bereit für eine Hochzeit aus, aber trotzdem brauchten sie noch ein paar weitere Freunde, die bei ihrer Unternehmung mitmachten. Sie alle wollten Asyl in Schweden suchen, also brauchten sie schnell noch andere Personen, die bei der riskanten Operation mitmachten.
„Die Betreffzeile lautete nur ‚Top Secret’“, sagte Valeria, eine 32-jährige Rechtswissenschaftlerin an der Universität von Mailand. Da sie von allen am besten verstand, welche Konsequenzen dieser Plan nach sich ziehen könnte, war sie anfangs noch zögerlich. Nach Artikel 12 des italienischen Immigrations- und Asylrechts können Schmuggler mit bis zu 15 Jahren Gefängnis für die Beihilfe zu einer unrechtmäßigen Migration bestraft werden. Am Ende hielt sie das aber nicht davon ab, mitzumachen.
Am 14. November ging die Reise los. Eine falsche Hochzeitsgesellschaft mit 23 Menschen, von denen sich die meisten untereinander noch nie zuvor gesehen hatten, verließ Italien zu Fuß und machte sich auf den Weg südwärts durch die Berge in Richtung Frankreich. Auf diesem Weg würden sie die strengen Grenzkontrollen in Österreich und der Schweiz umgehen können.
„Es ist gar nicht so lange her, dass unsere Großväter diesen Weg gegangen sind, um vor dem Faschismus in Italien zu fliehen“, sagte mir Del Grande. „Heutzutage fliehen Syrer aus den gleichen Gründen. Was soll denn jetzt anders sein?“
In Frankreich angekommen teilten sie sich auf einen Konvoi von vier mit allerlei Hochzeitsschmuck verzierten Autos auf. In dem ersten Wagen saßen nur Menschen, die über alle nötigen Aufenthaltsdokumente verfügten. Dieser fuhr eine halbe Stunde vor den anderen drei Autos und konnte so, falls sie angehalten werden sollten, immer die anderen anrufen und ihnen den Abbruch mitteilen. Zum Glück war das nie nötig.
„Die Grenzbeamten gratulierten uns in fünf verschiedenen Sprachen zu der Hochzeit“, sagte Tasneem lächelnd.
Die Gruppe reiste in drei Tagen fast 3.000 Kilometer. Sie fuhren durch Luxemburg, Deutschland und Dänemark. Dort stiegen Abdullah, Manar, Abu Manar, Mona und Ahmed in einen Zug nach Schweden. Geschützt von der Anwesenheit der Kamera und der Braut kamen sie an ihr Ziel, ohne einmal kontrolliert zu wurden. Sie waren endlich sicher und konnten dort Asyl beantragen, aber die Überquerung der letzten Grenze stellte gleichzeitig das Ende ihrer bemerkenswerten Reise dar.
„Ich habe noch nie etwas Schöneres erlebt“, sagte Abdullah.
Heute braucht On the Bride’s Side 75.000 Euro, um die Produktionskosten zu decken, bevor die Dokumentation bei den internationalen Filmfestspielen von Venedig im September antreten kann. Bislang haben sie zwei Drittel des Ziels erreicht, aber die Crowdfunding-Kampagne hat sie schon jetzt mit tausenden anderen Menschen in Europa verbunden, die an die gleichen Ziele glauben.
„Europa ist nicht nur eine Festung“, sagte Valeria. „Es kann auch ein Ort sein, an dem das Leben eines jeden Einzelnen verbessert wird—jeden Tag.“