Jeder in Medellín hat eine eigene Geschichte, meint Koch Juan Manuel Barrientos. In den 1980ern war Kolumbien vom Drogenkrieg zerrüttet und Medellín mit Pablo Escobars Kartell der Mittelpunkt der Kämpfe. Sie galt als die gefährlichste Stadt der Welt.
Die Geschichte von Juan Manuel Barrientos beginnt in seiner Kindheit: Eines Morgens wurde der Geschäftspartner seines Vaters erschossen, keine 24 Stunden später saß er mit seiner Familie in einem Flugzeug nach London.”
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„Er wurde acht Uhr morgens getötet und bis acht Uhr abends hatten wir gepackt”, erinnert sich der Koch, der jetzt zu den vielversprechendsten Talenten Lateinamerikas gehört. „Manchmal wurde man nicht mal bedroht—sie haben einen einfach umgebracht.”
Seine Familie hat ihr Auto schnell verkauft und lebte dann ein Jahr lang in London. Weil sie so wenig Geld hatten, gab es jeden Abend Eier. Kekse waren etwas Besonderes.
Gut 25 Jahre später übernimmt er das Ruder im El Cielo in Bogotá, das kürzlich zu den 50 besten Restaurants in Lateinamerika gekürt wurde. Mit seiner experimentierfreudigen kolumbianischen Form der Molekularküche hat er sich einen Ruf als „Wunderkind hinter dem Herd” verdient.
Das Interieur des El Cielo besticht mit viel Holz, vor allem aber durch eine beeindruckende Wand aus Tropenpflanzen. Das Degustationsmenü mit 12 Gängen ist so farbenfroh und unterhaltsam wie die Umzugswagen beim Karneval von Barranquilla, für die Hände gibt eine Kokos-Spa-Behandlung (ein unechter Stein öffnet sich, sobald du ihn anfasst, und es ergießt sich eine klebrige Minz-Schokoladen-Masse über deine Finger) und edelste Panna Cotta mit Kamillengeschmack.
Der Bürgerkrieg mit seinen unzähligen Parteien scheint hier weit entfernt zu sein. Aber wenn Barrientos in Bogotá oder im gleichnamigen Restaurant in Medellín hinter dem Herd steht, ist der Konflikt immer noch hautnah. In der einen Ecke der Küche arbeitet möglicherweise ein ehemaliger Guerillakämpfer der linksgerichteten FARC-Rebellen, in der anderen ein Ex-Soldat.
Für Barrientos ist das Kochen für den Frieden. Vor neun Jahren hat er erstmals angefangen, mit Ex-Soldaten zu arbeiten. Seitdem haben gut 300 Kämpfer beider Konfliktparteien in den Küchen seiner Stiftung El Cielo Para Todos gearbeitet. Einige sind danach weiter in der Gastronomie geblieben.
Angefangen haben wir mit Soldaten, wegen Landminen Gliedmaßen verloren hatten. Das Kochen war für sie ein Job für den Start in das Zivilleben oder eine Therapie. Doch irgendwas fehlte”, erzählt er und zeigt mit dem Finger auf eine Skizze aller Akteure des 50-jährigen Konflikts. „Also haben wir auch mit Guerillakämpfern gearbeitet.”
Nicht alle Ex-Guerillas, mit denen Barrientos arbeitet, glauben an der Frieden. Er meint, dass viele von ihnen einfach eine andere „Hölle erleben wollen”. Doch mit der Zeit lernen sie Neues, Dinge, die ihnen helfen können, abseits vom Krieg ein Leben zu führen. Einige arbeiten auch weiter für ihn.
Romero war früher Soldat und hat ein Bein sowie sein Augenlicht auf einem Auge verloren, als er auf eine Landmine der FARC getreten ist. Jetzt arbeitet er in der Küche des El Cielo in Medellín zusammen mit einem Ex-Guerilla, einem weiteren ehemaligen Soldaten und zwei Ex-Kämpfern der Paramilitärs. Frühere Feinde gemeinsam in einer Restaurantküche.
„Für mich war es sehr schwer, aber so konnte ich mit einigen Ex-Guerillas reden und sie haben mir ihre Geschichte erzählt. Sie versuchten nicht, sich für ihre Taten zu rechtfertigen, sie fühlten sich genauso als Opfer. Für sie war die Armee der Feind. Einige wollten kämpfen, andere hatten keine Alternative”, meint der 28-jährige Ex-Soldat, seine Prothese lugt aus der weißen Kochhose hervor.
„So hatte ich die Möglichkeit, ihnen zu vergeben und das fühlt sich gut an. Manchmal sind wir auf ein paar Drinks ausgegangen, manchmal haben wir uns über die Vergangenheit unterhalten, ohne beleidigend zu werden. Man erinnert sich an das, was geschehen ist, aber jetzt muss man einfach respektvoll sein.”
Das Essen im El Cielo wird zwar von Ex-Kämpfern gekocht, die im kolumbianischen Dschungel ein eher spartanisches Leben führten, allerdings hat das Ergebnis nichts mit trauriger Militärnahrung zu tun. Es gibt wunderschöne und verrückte Gerichte: eines sieht aus wie ein Boot, das über den Amazonas schippert, ein anderes wie ein Blumentopf aus Kresse und Erde. Garnelen werden mit einheimischen Früchten wie Lulo und Papaya kombiniert, ein Essen, das nach Sonnenschein schmeckt. Geschwärzte Kartoffeln treffen auf Koriander, Rosmarin und gegrillten Fisch und verschmelzen zu einem erdigen, leckeren Gericht.
Diese Experimentierfreude beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Küche des El Cielo: Juan Manuel Barrientos, gerade einmal 33 Jahre alt, hat kürzlich ein neues Restaurant in Miami eröffnet. In seiner Heimatstadt arbeitet er außerdem an einem Restaurant, das alle Sinne ansprechen soll: Er nimmt acht Gäste mit auf eine kulinarische Reise für Ohren, Nase und Mund.
Langsam bewegt man sich in Kolumbien auf ein Friedensabkommen zu, um den längsten bewaffneten Konflikt Lateinamerikas zu beenden. Barrientos hilft mit seiner Arbeit denen, die von diesem Kampf betroffen sind. Das motiviert ihn mindestens genauso wie das Essen.
„Wenn du weißt, dass dieser Koch, der da gerade ein wunderbares Gericht zubereitet, Menschen getötet hat oder Landminen ausgelegt hat, und du siehst, wie genau diese Person einen Beitrag zur Gesellschaft leistet, indem sie kocht, etwas gutes tut und Spaß daran hat, dann weißt du einfach, dass es das wert ist”, meint er.