Politik

Dieser Aktivist sagt: Die neue Bundesregierung lässt afghanische Ortskräfte zurück

Ein Mann in einem blauen Poloshirt steht am Hafen, hinter ihm liegt ein Schiff, im Hintergrund geht die Sonne unter

Während wir uns über Weihnachten die Bäuche mit Kartoffelsalat und Plätzchen vollschlugen, haben die Taliban in Afghanistan wichtige Wahlgremien abgeschafft. Fünf Monate, nachdem die NATO ihre Truppen abgezogen hat und vier Monate, nachdem die radikalislamische Gruppe die Macht im Land übernommen hat. Besonders Zehntausende Ortskräfte und ihre Familien leben seitdem in großer Gefahr, nur rund 7000 wurden bis Anfang Dezember evakuiert. Den Rest scheint die Bundesregierung vergessen zu haben. 

Die afghanischen Ortskräfte haben für deutsche Institutionen oder Einrichtungen gearbeitet und stehen daher besonders im Fokus der Taliban, erklärt Axel Steier im Interview mit VICE. Der 46-Jährige ist eigentlich Mitgründer des Seenotrettungsvereins “Mission Lifeline”. Seit der Krise in Afghanistan hilft er auch dabei, die restlichen Ortskräfte aus dem Land zu holen. Dabei will er entdeckt haben, wie sich deutsche Behörden schon vor der Krise von ihrem afghanischen Mitarbeitenden distanziert haben. 

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VICE: Wie bist du mit der Situation in Afghanistan in Verbindung gekommen?
Axel Steier:
Während der Evakuierungsmission der Bundeswehr haben sich viele Leute bei “Mission Lifeline” gemeldet, die aus Afghanistan raus mussten. Das fing nach dem Fall von Kabul im August an. Wir haben versucht, immer wieder Updates darüber zu geben, wer raus kann und wer nicht. Die Bundeswehr hat die Leute damals in Massen zum Flughafen gelotst. Das hieß, dass dort viele Menschen auf einmal waren und letztendlich nur wenige rausgekommen sind. Durch die Bedrohung der Taliban ist die Situation sehr dringlich. Leider geht in Deutschland alles sehr langsam voran.  

Du meinst den bürokratischen Prozess, der dahinter steckt?
Ich finde, das sagt politisch etwas aus, wenn ein Schreibtisch-Mensch atemberaubend langsam Akten bearbeitet, während die Bedrohung so akut ist. Das ist absurd, dass man erst Visa beantragen muss, obwohl einem jederzeit der Kopf abgehackt werden kann. Die deutsche Verwaltung versagt komplett. 

Ist das nicht ein allgemeines Problem in der deutschen Migrationspolitik
Diese Abwehrhaltung gegenüber Migration steht über allem, das merkt man auch an der Situation in Afghanistan. Die deutschen Ausländerbehörden sind regional verteilt, da gibt es einen Flickenteppich: Sie nehmen ganz unterschiedliche Anträge an. Manche haben geöffnet, andere nicht, andere helfen nicht beim Familiennachzug. Die Beamten, die dort arbeiten, könnten genau so gut in einer Poststelle arbeiten. Die haben aber mit Menschen zu tun, nicht mit Papier. In einer Notsituation kann man nicht so vorgehen. 

Die Evakuierungen sind seit Sommer ausgesetzt. Was hast du für konkrete Forderungen an die Regierung? 
Die neue Regierung ist da schlimmer als die alte: Die Ablehnungsquote bei den Ortskräften, die sich bewerben, ist viel höher. Im Oktober hieß es: Wer ab 2013 für die Bundesrepublik gearbeitet hat, hat Anspruch. Jetzt bekamen die Leute eine E-Mail, dass man ab 2019 oder später Ortskraft gewesen sein muss. Damit wurden ein paar Jahre weggekürzt. 

Stehst du mit der jetzigen Regierung in Kontakt?
Ich habe Kontakte, aber das spielt keine Rolle. Was fehlt, ist eine generelle Entscheidung der Regierung, ein Aufnahmeprogramm. Das steht im Koalitionsvertrag, aber in der Realität existiert das nicht. In der jetzigen Situation kann man sich nicht einen Monat hinsetzen und diskutieren, man muss Butter bei die Fische geben und die Leute in Massen rausholen.

Du meinst, alle Ortskräfte sollen unabhängig von ihrem Arbeitsstart nach Deutschland?
Wenn da mal einer mitkommt, der nicht berechtigt gewesen wäre, dann sei’s drum. Es ist ja trotzdem kein gutes Leben in Afghanistan gerade. Das Problem ist: Ab 2016 haben zum Beispiel das Entwicklungs- und das Verteidigungsministerium angefangen, Verträge von Ortskräften in Afghanistan umzuschreiben. Die Leute waren dann bei Subunternehmen unter Vertrag, zum Beispiel bei Firmen aus Dubai. Damit haben sie die Mitarbeiter aus den eigenen Reihen ausgegliedert, dabei haben diese nach wie vor dieselbe Arbeit gemacht. Es sah dann so aus, als hätten sie nichts mit Deutschland zu tun, obwohl das Geld, die Vorgaben und sogar die Vorgesetzten von hier kamen. Damit schließt man viele von diesem Ortskräfte-Prozess aus. Nur: Wenn eine Person in den Augen der Taliban mit den Deutschen zusammengearbeitet hat, ist das denen egal, was auf dem Papier steht. Das sollte das Kriterium sein: Was machen die Taliban?

Wenn das stimmt, gäbe es eine Diskrepanz zwischen der offiziellen und der tatsächlichen Anzahl an deutschen Ortskräften in Afghanistan.
Richtig, und die ist riesig. Die Ministerien sagen, um die 25.000 Personen insgesamt seien Ortskräfte. Ich schätze die Zahlen mindestens drei- bis fünfmal so hoch ein.

Und diese Ortskräfte unterstützt du?
Ich helfe bei ihrer Anerkennung. Wenn Deutschland sagt: “Der war keine Ortskraft, der hatte nur einen Werkvertrag”, gehe ich zu einem Arbeitsrechtler und lasse den Vertrag prüfen. Wir weisen dem Bundesinnenministerium dann nach, dass die Person eben doch als Ortskraft gearbeitet hat. Dann bereitet ein Aufenthaltsrechtler eine Klage vor. Parallel kontaktiere ich Journalisten mit den Geschichten. 

In einem Fall hat mich jemand aus dem Umfeld der Fluglotsen der Bundeswehr kontaktiert. Es gab mehrere Anfragen und ein Gutachten von einem Arbeitsrechtler, eine Woche später ist die Bundesregierung eingeknickt. Die machen auch viele Fehler bei der Bearbeitung. Hier hatten sie aber die Dreistigkeit, über einen Arbeitsvertrag einfach Werkvertrag zu schreiben und ein paar Begriffe zu ändern. Nachdem die Person anerkannt ist, geht es an ihre Evakuierung: Pässe besorgen, Ausreise klarmachen, Geld hinschicken für Lebensmittel. 

Wie viele Menschen betreust du so gerade?
Etwa 200 Familien. Denen, die gar nichts mehr haben, schicke ich mal 100 Euro, damit sie einen Monat in Afghanistan überleben können. Einer Witwe, deren Ehemann kürzlich ermordet wurde, habe ich zum Beispiel gerade 200 Euro geschickt, damit sie und ihre sechs Kinder die nächsten zwei Monate überleben können. Das finanziere ich über Schenkungen aus Plattformen wie “Betterplace”, größere Sachen über Spenden an den Verein. Die Familie der Witwe kommt auch nicht mehr aus Afghanistan raus. Wenn eine anerkannte Ortskraft vor der Evakuierung stirbt, wird auch der Rest der Familie nicht mehr geholt. 

Was machen die Taliban mit den Ortskräften?
Die meisten der ehemaligen Ortskräfte sind in Verstecken. Wenn die Taliban ihre Wohnungen aufsuchen und sie da antreffen, trifft es nicht nur die Ortskraft selbst, sondern die gesamte Familie: Großeltern, Geschwister, Kinder. Alle, die im Haushalt leben, sind davon betroffen. Deswegen ist es auch so fernab jeder Realität, wenn die Bundesregierung sagt: Wir nehmen nur die Kernfamilie auf, also Kinder und Ehepartner. 

Die EU geht in Sachen Migrationspolitik seit Jahren in die Abschottung. Ist es frustrierend, gegen so große Mühlen anzukämpfen?
Es ist schon möglich, das politische System vereinzelt zu unterlaufen. Man rettet ja trotzdem noch einzelne Leute. Die Frage ist auch, wie stabil die Antimigrations-Haltung in der EU ist: Wenn die staatliche Macht ins Wanken gerät und die Gesellschaft nicht zustimmt, dann wirft die Politik diese Einstellung ganz schnell über Bord. Deswegen müssen solche Themen aber auch stattfinden und ein medialer Fokus darauf gelegt werden. Unter dem Druck der Bilder krachen Regierungen zusammen. Ich denke schon, dass man an Moria und dem Grenzzaun in Ungarn sieht, dass Dinge schlimmer werden. Aber ich denke auch, dass ein Teil der Bevölkerung weiß, was da läuft und da nicht mehr mitmacht. 

Das sind aber alles weitergehende Fragen, die davon ablenken, dass wir jetzt konkret etwas machen müssen. Das sehe ich auch oft in der Seenotrettung, wo ich arbeite: Da ertrinkt gerade einer, da fange ich nicht an, über den Fluchtgrund im Heimatland zu diskutieren. Genauso ist es in Afghanistan mit den Taliban: Wir sind abgehauen und haben Leute sich selbst überlassen, nachdem sie für uns gearbeitet haben. Wir sind für diese Leute verantwortlich. Wir müssen die jetzt holen. 

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