Vor fünf Jahren rollte eine Protestwelle durch Frankreich. Die gilets jaunes, die Gelbwesten, gingen gegen gestiegene Lebenshaltungskosten, gegen soziale Ungleichheit und gegen den Kapitalismus auf die Straße. Von November 2018 bis Februar 2019 demonstrierten jede Woche Zehntausende Menschen im ganzen Land und lieferten sich immer wieder heftige Straßenschlachten mit der Polizei.
Die antwortete mit Tränengas und Gummigeschossen. Zahlreiche Protestierende wurden schwer verletzt, verloren Gliedmaßen oder ihr Augenlicht.
Videos by VICE
Der französische Fotograf und Galerie-Mitarbeiter Steven Monteau hat viele der Gelbwesten-Demonstrationen in seiner Heimatstadt Bordeaux begleitet. “Obwohl einige Medien ihnen einen schlechten Ruf verpasst haben, habe ich noch nie so viel Mitmenschlichkeit und Hoffnung auf eine gerechtere Zukunft erlebt”, sagt er. Bei den Demonstrationen sah Monteau häufig, wie Menschen verletzt wurden. “Ein paar Freunde und ich fingen an, alles über diese Polizeiwaffen herauszufinden, deren Reste nach den Demos die Straßen zumüllten.”
Einer von Monteaus Freunden, Antoine Boudinet, verlor im Dezember 2018 eine Hand durch eine GLI-F4 Granate. Diese umstrittene Tränengasgranate enthält außerdem 25 Gramm TNT und wurde in Frankreich bis zu ihrem Verbot 2020 bei Demonstrationen gegen Menschenmassen eingesetzt.
Monteau wollte ihm und anderen Opfern von Polizeigewalt helfen. Eine Idee war, einen Weihnachtsbaum mit Teilen der Tränengasgranaten zu schmücken, die er auf der Straße gefunden hatte, und ihn zu versteigern. Der Erlös sollte die medizinischen und rechtlichen Kosten der Betroffenen auffangen. Monteau schlug seinem Freund die Idee vor, aber der lehnte ab. “In Frankreich verstümmeln sie einen vielleicht, aber sie versorgen einen auch gut”, habe Boudinet gesagt.
Neben den detonierenden Tränengasgranaten stand die französische Polizei vor allem für die Verwendung der sogenannten Flashball-Waffen in der Kritik. Die vier Zentimeter dicken Gummigeschosse sind zwar nicht tödlich, können Demonstrierende aber schwer verletzen. Ein Demonstrant verlor durch sie ein Auge.
Monteau und seine Freunde spielten mit den Waffenteilen rum, die sie auf den Straßen gefunden hatten. “Dadurch bin ich auf die Idee gekommen, eine Flashballpatrone als Kamerasucher zu verwenden.”
Am Ende entstand daraus eine Kamera, die abgesehen von dem durchsichtigen Kunststoffteil der Linse, komplett aus Waffenteilen besteht. “Die Blende stammt von einer GLI-F4-Granate und die Linse ist aus einer Tränengaskartusche”, sagt Monteau. Um die Kamera zu bauen, habe er widerwillig eine Menge über Polizeiwaffen lernen müssen.
Am ersten Mai 2019 brachte Monteau die Kamera dann mit zu einer Demonstration. Er wurde verhaftet und sein selbstgebauter Apparat beschlagnahmt. “Es stimmt schon, sie sieht wie eine Bombe aus”, sagt er. “Ich habe sie ja auch aus ihren Bomben gebaut.” Nach einer eingehenden Untersuchung durfte er die Kamera wieder mitnehmen, als er drei Tage später aus der Polizeiwache entlassen wurde.
Trotz allem funktioniert die Kamera noch. “Sie ist jetzt von der Polizei durch einen Karton mit der Aufschrift ‘PRESS’ geschützt”, sagt Monteau. Er sieht seine Bilder als direkte Reaktion auf die Taten der Ordnungskräfte. Die Polizei feuert Granaten in die Menge, er gibt diese Gewalt zurück in Bildern, die ihre Brutalität vorführen. “Auge um Auge”, wie er es formuliert.
Die Fotos sind wie die Kamera ziemlich künstlerisch. Und das hat sich seit der Festnahme des Fotografen noch einmal verstärkt. Der Polizeiknüppel hat seine Spuren hinterlassen. Die Kamera hat jetzt viele Lichtlecks, der Film verheddert sich und die Blende funktioniert nicht gerade verlässlich. Das alles sieht man den Bildern an, zum Beispiel an den dunklen Ecken. Monteau findet aber, dass dieser künstlerische Effekt den Kontext gut reflektiert. “Es ist ähnlich, wie wenn man in einer Rauchwolke die Augen zusammenkneift.”
Die Geschichte der Kamera ist auch eine Geschichte von Monteaus eigener Radikalisierung. Die Gelbwestenbewegung markiert für ihn einen politischen Wendepunkt. Vor den Protesten betrieb er Le Volcan, einen kollektiven Kreativraum in Bordeaux, der sich auf Re-Use und Kreislaufwirtschaft spezialisiert. Aber die Gelbwesten bewegten Monteau dazu, das System zu bekämpfen, anstatt einfach nur außerhalb von ihm zu leben.
“Es heißt immer, Fotojournalisten müssen neutral sein, aber ich will Teil der Bewegung sein”, sagt Monteau. Die Gelbwesten demonstrieren vielleicht nicht mehr jedes Wochenende, aber der Fotograf begleitet auch andere Proteste mit seiner Kamera. “Ich mache Kunst mit den Geräten, die dazu gedacht sind, die Bevölkerung zu kontrollieren.”
Im März 2023 wurde Monteau in Paris bei einer Demonstration gegen die Rentenreform von einem Polizeiknüppel erwischt und landete mit einem Kopftrauma im Krankenhaus. Auch fünf Jahre nach den Gelbwesten bleibt Demonstrieren in Frankreich gefährlich.
Scroll runter für mehr Fotos aus Steven Monteaus selbstgebauter Granatenkamera.
Folge VICE auf Facebook, TikTok, Instagram, YouTube und Snapchat.