Dieser Psychologe weiß, warum du wichtige Sachen ständig aufschiebst

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Vor der Uni rauchen Studenten um 10 Uhr morgens schon ihre dritte Pausenzigarette. Sie sprechen darüber, dass sie schon viel zu spät dran sind mit ihren Seminararbeiten, oder, dass sie überhaupt endlich mal anfangen sollten. Oder darüber, dass es ohnehin viel zu heiß ist, um in der Bibliothek zu sitzen.

Im Studierenden-Service-Center nebenan thront Hans-Werner Rückert im zweiten Stock über solchen Problemen. Er ist Leiter der psychologischen Beratung der FU Berlin und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der “Prokrastination“. Seit über 20 Jahren veröffentlicht er zu dem Thema, 1998 erschien sein Buch Schluss mit dem ewigen Aufschieben—heute ein Standardwerk und bereits in der achten Auflage. Wir haben ihn gefragt, warum Menschen prokrastinieren—und vor allem darüber, wie man damit aufhört.

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VICE: Wieso verschieben wir Dinge, wenn wir doch wissen, dass wir sie früher oder später sowieso erledigen müssen?
Hans-Werner Rückert: Aus zwei Gründen: Erstens möchte man unangenehme Gefühle vermeiden, die mit dem Vorhaben verbunden sind. Zweitens wollen wir die Erregung spüren, die man nur durch die Erledigung auf den letzten Drücker erfährt. Viele suchen den Adrenalin-Kick.

Viele behaupten ja, dass sie durch diesen Kick besser arbeiten können.
Möglich. Aber eine überwältigende Menge an Studien zeigt, dass eine Hausarbeit, die pünktlich vor der Deadline fertig ist und vielleicht noch Korrektur gelesen wurde, deutlich besser ist als eine, die in drei durchwachten Nächten entstanden ist. Trotzdem gibt es sogar unter Professoren welche, die fast ins Schwärmen geraten, wenn sie von durchgearbeiteten Nächten reden. Ein Adrenalin-Junkie sucht genau diesen Kick—dann ist es auch egal, wenn die Arbeit anders besser geworden wäre. Außerdem hat man so die bessere Geschichte zu erzählen. Die Leute kultivieren gern das Image eines Genies.

Sie haben vor über 15 Jahren eines der ersten Bücher über Prokrastination geschrieben. Heute ist es in der achten Auflage. Schieben wir heute anders auf als die Generationen vor uns?
Es hat sich viel verändert. In den 80ern kannte in Deutschland kaum jemand das Wort Prokrastination, ich auch nicht. In den USA war es damals schon präsenter. Wenn man mit 17 aufs College kommt, lebt man das erste Jahr ja wie in einer Kaserne. Studenten wohnen in einem Wohnheim, oft mit mehreren Menschen auf dem Zimmer, und müssen jede Woche zwei schriftliche Arbeiten abgeben. Um in so einer Umgebung erwachsen zu werden, muss man erstmal austesten: Wie elastisch ist das System? Was passiert eigentlich, wenn ich meinen Aufsatz nicht abliefere? Der bekannte US-Psychotherapeut Albert Ellis sagte damals, 99 Prozent der Studenten würden prokrastinieren. In Deutschland war es damals noch gar kein Thema. Vor der Bologna-Reform sah man Studenten ja als erwachsene Menschen an. Ob sie die Texte lasen und Seminare besuchten, lag in ihrer Verantwortung. In Amerika hatte die Uni schon damals mehr die Rolle der Eltern.

Die Studenten prokrastinierten also, um Grenzen auszutesten. Ist es eine Art Rebellion gegen das System?
Ja. Das erklärt auch, warum es mittlerweile auch bei uns so ein Riesenthema geworden ist. Die gesellschaftlichen Zwänge sind stärker geworden. Das Leben gilt als eine Art Projekt, das schon junge Leute erfolgreich managen müssen. Da passt Prokrastination nicht zu. Man muss immer powern, am besten noch Spaß dabei haben, und ständig Leistungen bringen. Die Zwänge von außen werden zu Selbstzwängen. Überall schallt es einem entgegen: Du solltest in der Bib sein! Du solltest mit 28 promoviert und mindestens zwei Auslandsaufenthalte absolviert haben! Da entwickelt sich natürlich Widerstand.

Das heißt, das Bologna-System, das Langzeitstudenten und das ewige Aufschieben des Uniabschlusses verhindern soll, führt zum Gegenteil?
Ja, natürlich. Nur die Vertreter des neoliberalen Projekts glauben, dass Fortschritt immer stromlinienförmig und angepasst ist. Alle, die gewohnt sind, einmal um die Ecke zu denken, wissen, dass jeder Effizienzdruck erstmal die Ineffizienz steigert. Der Neoliberalismus verspricht ja: Wenn du jetzt richtig reinhaust, am besten noch mit Drogen deine Leistung steigerst, dann hast du mit Mitte 30 ausgesorgt und kannst Golf spielen.

Hans-Werner Rückert ist Diplompsychologe und Psychoanalytiker. Er leitet die psychologische Beratung der FU Berlin | Foto: Klaus Mellenthin

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass es auch Menschen gibt, die nicht nur Rechnungen, Hausarbeiten und Wohnungsputz aufschieben, sondern auch Sex, Reisen oder Kinobesuche. Warum um Himmels willen?
Für die Menschen, die sich vor so etwas drücken, sind diese Sachen nur oberflächlich angenehm. Wer ins Kino will, muss außer Haus gehen. Der Film könnte langweilig werden. Man muss dafür bezahlen. Außerdem ist es im Alltag oft so, dass wir uns zwar leicht etwas vornehmen, aber die Umsetzung uns schwer fällt. Zum Beispiel sind wir alle der Meinung, dass wir regelmäßig zum Arzt gehen müssen. Trotzdem tun wir es nicht, weil das Ergebnis unangenehm sein könnte.

Wie kann ich mit der Aufschieberei aufhören?
Erst einmal muss ich mir Gedanken über mich und die Aufgabe an sich Gedanken machen: Warum schiebe ich auf? Gibt es Konflikte, Ängste? Welche Aufgaben schiebe ich konkret auf? Passen die Aufgaben vielleicht nicht zu mir? Kann ich es anders machen? Dann kann ich Strategien entwickeln, um besser voranzukommen. Wenn ich es einfach nicht schaffe, den Luhmann-Text durchzulesen, dann reichen vielleicht auch drei gute Sekundärtexte. Wenn ich seit Jahren aufschiebe, meinen Keller aufzuräumen, bitte ich Freunde, mir zu helfen, und biete ihnen an, dafür Sachen aus meinem Keller mitzunehmen. Vielleicht muss ich auch mehr Arbeitszeit investieren oder, im Gegenteil, mir ein kleineres Zeitfenster lassen, in dem ich dafür umso intensiver arbeite. Vielleicht fehlen mir aber auch Arbeitstechniken und ich muss erstmal ein Buch dazu lesen.

Wie konzentriere ich mich besser?
Die Fähigkeit zu konzentrierter Arbeit ist bei Menschen unterschiedlich ausgeprägt. Die meisten von uns setzen sich mehr mit der Intention “Jetzt will ich was machen” vor den Computer. Aber eine gute Planung ist wichtig, sich vorher zu überlegen: Was habe ich genau vor? Wie fange ich an? Manche können das, andere nicht. Bei Letzteren kommt dann eine innere Unruhe auf, sie stehen auf, machen irgendwas. Wer dann nach fünf Minuten in die Küche geht, sich einen Joghurt reinpfeifft, dann den Abwasch macht und einkaufen geht, weil es keinen Joghurt mehr gibt, dessen Gehirn lernt: Flucht lohnt sich. Wer gut arbeiten will, muss deshalb zuerst durch diese schwierige Anfangszeit durch, ohne das Internet zu öffnen und sich anderweitig abzulenken. Wer es nicht schafft, braucht eine zusätzliche Strategie, zum Beispiel ein Lerntagebuch, in dem man seine Arbeit dokumentiert.

Passiert es Ihnen selbst auch, dass Sie prokrastinieren?
Prokrastination—also das harte pathologische Aufschieben—mache ich nicht. Aber klar schiebe ich auch etwas auf. 40 Prozent der Menschen schieben Sachen auf, auch wenn es ihnen schon einmal Nachteile im Alltag gebracht hat.

Woher kommt das harte Aufschieben?
Das harte Aufschieben liegt meist an vertrackten inneren Konflikten, die den Betroffenen selbst nicht klar sind. Letztens war zum Beispiel ein BWL-Student bei uns in der Beratung. Er meinte, er sei begeistert von seinem Studium, seine Eltern auch. Nach der Uni würde er das Familienhotel in der Eifel übernehmen, im Nachbarort gäbe es auch eine Frau, die auf ihn wartet. Trotzdem schaffte er es nicht, sich an seine Abschlussarbeit zu setzen. Ein paar Sitzungen haben sich die Gespräche im Kreis gedreht. Dann erzählte er, dass er in der Schwulenszene unterwegs ist und auf einmal war klar: Er will sein Leben in Berlin nicht aufgeben. Er selbst hat es nur noch nicht eingesehen. Viele Prokrastinationsfälle haben mit der Frage zu tun, wie man eigentlich leben möchte.

Kathrin Passig und Sascha Lobo haben Prokrastination mal eine “überlebenswichtige Kompetenz” genannt, mit der es erst möglich ist, kreative Prozesse anzustoßen.
Davon halte ich nicht viel. Hochkreative Menschen sind sehr organisiert. Es gibt dieses Genie-Klischee seit der deutschen Romantik, dass man durch die Welt geht und dann nach einem plötzlichen Einfall den Werther aufs Papier haut. Aber das stimmt einfach nicht. Picasso, Matisse, Jackson Pollock haben alle gut geplant. Selbst Hemingway, der Trinker, hat jeden Tag exakt 200 Wörter geschrieben.