Otherkin sind Menschen, die sich als teilweise oder komplett nicht menschlich identifizieren. Ob Drache, Löwe, Fuchs—oder so ziemlich alles andere—, es gibt vermutlich jemanden da draußen, der oder die sich mehr wie dieses Wesen fühlt als ein Mensch. Die Otherkin-Community findet man auf Reddit, Tumblr, TV Tropes und anderen Online-Foren.
Die Beliebtheit des Otherkin-Phänomens scheint seit 2012 konstant angewachsen zu sein—vor allem auf Tumblr. Doch was bedeutet es, sich wirklich für nicht menschlich zu halten? Wachen Leute wirklich eines Morgens auf und halten sich für einen Fuchs, oder ist es einfach nur eine bizarre Form von Wirklichkeitsflucht? Handelt es sich um Dysmorphophobie oder eine Fantasie?
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Ich habe mich auf Reddit mit John, einem 19-Jährigen aus (einer der vielen US-Städte mit dem Namen) Knoxville unterhalten, der im Internet unter dem Namen Noslavic bekannt ist. Er stellte sich vor: „Ich bin ein roter Fox-Kin, der vor etwa einem Jahr erwacht ist, wie wir dazu sagen.” Er sagte, das Erwachen habe sich „zumindest sehr erleichternd” angefühlt, denn „alles schien für mich auf einmal alles Sinn zu ergeben.
„Ich fing an, seltsame Träume zu haben, in denen ich mich in einen Fuchs verwandelte, und sie waren realistisch—ehrlich. Nach einer Weile fühlte es sich im echten Leben ziemlich real an, als ob ich wirklich einen Schweif und Ohren und Pfoten hätte.
„Zuerst war es eins dieser Dinge, die mir echt Sorgen gemacht haben, doch nach einer Weile dachte ich mir einfach: ‚Ah, ich spiele nur mal kurz mit meinem Schweif.’” Ab und zu, sagt er, erlebe er psychische Wechsel („mental shift” genannt): „Ich bin zum Beispiel zu Hause und plötzlich, klick, kommt mein Fuchsanteil eine Weile zum Vorschein und dann verschwindet er einfach wieder.”
Klingt ein bisschen wie eine Horrorstory á la Kafkas Verwandlung oder Cronenbergs Fliege, doch das Gefühl, das John mit seinem Schweif erlebt hat, wurde von Wissenschaftlern als möglich und mit Phantomschmerz vergleichbar bezeichnet.
Während manche Otherkin sich als das Tier identifizieren, gibt es auch solche, die sich nur mit dem Tier identifizieren, auf eine etwas spirituellere Art. Da ist der Fall bei Ri Na Gach, einem 18-jährigen „Lionkin”, der anonym bleiben möchte:
„Ich spüre eine besondere Verbindung zum Löwen. Ich habe das Gefühl, dass ich viele der Eigenschaften des Tiers an den Tag lege. In meinem normalen Leben ist das größtenteils geheim, doch die Eigenschaften, die ich mit Löwen gemeinsam habe, helfen mir schon. Früher war es in heidnischen Religionen nicht unüblich, daran zu glauben, dass Menschen als Tiere wiedergeboren werden, also ist die Vorstellung, dass ich in einem früheren Leben ein Löwe war, nicht so weit hergeholt, wie manche vielleicht denken.”
Fiona, oder „Feef”, 34 und aus Großbritannien, ist selbst keine Otherkin, doch sie ist häufig in Otherkin-Foren unterwegs. „Ich kenne einige Otherkin sehr gut und es ist sehr schwer in Worte zu fassen, aber man merkt, dass etwas anders ist. Es ist nichts Greifbares, sondern einfach eine gewisse Art, die sie an sich haben.”
Feef hat lange und hartnäckig gesucht, doch sie ist nie „erwacht”: „Ich habe viele von den Erfahrungen ausprobiert, von denen die Leute gesprochen haben, wie geführte Meditation, aber ich bin nicht einmal in die Nähe gelangt”, sagt sie mir. Stattdessen identifiziert sie sich als Furry, was keine feststehende Definition hat, aber grundsätzlich versteht man darunter jemanden, der fiktionale anthropomorphe Figuren mag und sich gerne Fellkostüme anzieht.
Wenn du bei Dreamworks arbeitest, kannst du auf die Realität pfeifen. Sieh dir bei Motherboard an, wie ein Vater seinen Sohn zum Superhelden gemacht hat.
Online nennt sie sich Fionacat, denn ihr Furry ist eine europäische Kurzhaarkatze: „Ich habe die Figur so 1996 oder ’97 entwickelt. Damals habe ich einfach nur nach etwas Spaßigem gesucht, und dann fand ich dieses Furry-Ding und dachte mir: ‚Wow, das klingt gut!’”
Von den 11 Online-Otherkin, die ich kontaktiert habe, haben nur etwa drei behauptet, im echten Leben offen als Otherkin zu leben. Wie Dragonkin Azurel mir erklärte: „Meine Drachenpersönlichkeit lebt ausschließlich online. Ich halte mich selbst für komplett menschlich, aber online bleibe ich so gut ich kann in meiner Rolle.”
Es scheint wirklich recht anziehend zu sein, online ein neues Ich, eine neue Identität zu erschaffen, die niemand verurteilen kann. Es ist eine Gelegenheit, in einer anonymen Umgebung seine schauspielerischen Fähigkeiten auszutesten und ein bisschen kreativ zu sein. „Die Anonymität macht schon viel aus”, sagt Feef, als ich sie danach frage. „Du kannst anonym sein, aber anstatt wirklich anonym zu sein, ist da eine eigene Persönlichkeit hinter dem, was du von dir gibst.”
Wenn man sich Otherkin-Foren ansieht, dann scheint es, als sei auch ein wesentlicher Prozentsatz der Otherkin transgender, und es gibt auch viele Foren, in denen argumentiert wird, dass man auch Otherkin-Rechte unterstützen sollte, wenn man für Transgender-Rechte ist. Feef ist transgender und kann „persönlich die Verbindung zwischen Transgender und Otherkin sehen”.
Sie erklärt, dass Otherkin, genau wie Menschen, die transgender sind, sich in ihren menschlichen Körpern dysphorisch fühlen. „Sie wollen mehr wie dieses Tier werden”, genau wie manche Transgender ihren Körper ändern wollen. Manche Otherkin unterziehen sich tatsächlich auch Operationen, um mehr wie ihr Tier oder ihr Wesen auszusehen, erklärt mir Feef. „Ich kenne einige Leute, die das getan haben, und es sieht nicht wirklich so toll aus.”
Ich frage Feef, ob die Tatsache, dass sie transgender ist und bereits eine variable Vorstellung von Identität hat, vielleicht für sie auch das Anziehende am Konzept des Otherkin gewesen sein könnte. „Ich würde sagen, dass ist eine vernünftige Annahme”, antwortet sie, „doch das, was mir zu meinem Geschlecht aufgegangen ist, hat bei den anderen Sachen einfach nicht geklickt … Ich habe zwar gemerkt, dass ich nie wirklich hätte männlich sein sollen, aber so etwas hatte ich nicht im Bezug auf Otherkin.”
Der Unterschied zwischen Otherkin und Transgender wird oft von Reddit-Nutzern erklärt. Es gibt zwar umstrittene Forschung, laut der es möglicherweise physische Anomalien im Gehirn geben könnte, die einen Menschen transgender machen, doch für Otherkin wurden bisher keine solchen Unterschiede festgestellt. Zwar können Otherkin an dieser Stelle sagen, dass es schlicht zu wenig Forschung gibt, doch Azurel fügt hinzu: „Der Sprung zu einem anderen Geschlecht ist um einiges größer als der zu einer anderen Spezies.”
Otherkin sind überzeugt genug, um solch einen großen Sprung zu wagen, doch sie werden für ihre Ansichten heftig kritisiert. Ein Reddit-Forum mit dem Namen „Otherkin are delusional and should be treated as such” erhielt 751 Upvotes und mehr als 450 Kommentare. Andere abfällige Kommentatoren vergleichen die Otherkin-Community mit religiösen Fanatikern und sagen, sie würden psychiatrische Hilfe benötigen. Doch ist das einfach nur intolerante Verfolgung, von vielen in der Community ernsthaft als „Fursecution” bezeichnet?
Sarah, eine 17-jährige Fallen-Angel-Otherkin, erzählt mir, dass sie mit einer Reihe von Störungen zu kämpfen hat, darunter eine allgemeine Angststörung, ADHS und soziale Phobie, doch sie besteht darauf, dass sie das mit Medikamenten in den Griff bekommt und ein erfülltes Leben führt wie die meisten Menschen. „Manche sagen, es ist eine Bewältigungsstrategie”, sagt sie mir—ein Weg, dem eigenen Schmerz zu entkommen, indem man zu etwas nicht Menschlichem wird, etwas ohne Makel. Sarah will diesen Leuten gerne sagen: „Weißt du was? Wenn das der Fall ist, dann ist es eben so.”
In Reddit-Foren weisen Otherkin häufig darauf hin, dass es einst als seltsam galt, homosexuell zu sein, und dass es sich hierbei nur um eine weitere Entwicklung handelt, mit der die Leute klarkommen müssen. Ri Na Gach stimmt zu und sagt, das Otherkin-Sein sei eine Privatangelegenheit. „Niemand kann mir sagen: ‚Du bist ein Mensch’, und niemand konnte David Reimer sagen, er sei ein Mädchen. Ich bin ich, und nur ich werde jemals hundertprozentig wissen, wer das ist.”
Dennoch hält das nicht den Dauerbeschuss von Trollen auf Reddit, Tumblr und LiveJournal auf. Feef merkt an, die Otherkin-Community würde meist „außergewöhnlich gut” auf Spott und verbale Misshandlung reagieren und Trolle seien nun mal leider zu erwarten. „Wo auch immer es Leute gibt, die ein bisschen anders sind, wird es Leute geben, die sich über sie lustig machen wollen.”
Die meisten Otherkin scheinen verdächtig interessiert an Videospielen und Fantasy-Romanen, was nicht wie ein Zufall wirkt, vor allem, wenn man bedenkt, wie viel Fantasie man für beides mitbringen muss. Fiona meint, sie könne sich vorstellen, dass „für viele Leute Videospiele einen Weg zum Otherkin-Sein darstellen.” Eine Figur nach den eigenen Vorlieben zu gestalten, sei zum Beispiel nur eine weitere Art, sich ein Selbst zu schaffen. Die Videospiele bieten eine gewisse Freiheit: eine virtuelle Fantasiewelt, ein virtuelles Selbst und ein Ort, an dem du dein Otherkin sein kannst—an dem du sein kannst, was auch immer du willst.
In meinen Gesprächen mit Otherkin entstand bei mir der Eindruck, dass viele gewisse Aspekte ihres Kintype (das Tier, dem sie sich ähnlich fühlen) bewundern und gerne in sich selbst Eigenschaften kultivieren wollen, die diese widerspiegeln. Es ist fast, als würde man ein Vorbild in sich selbst herumtragen. Azurel erzählt mir von einem Dragonkin, der sein Bestes gibt, seinem Bild von Drachen nachzueifern—er sieht sie als „weise, nachdenklich, sparsam und mutig”—, womit diese Transition von einem Bestreben der Selbstverbesserung motiviert ist. Ich habe mit niemandem gesprochen, der gerne ein Goblinkin wäre.