Foto: Cover ‘More Life’
Geht es um Schuld, gestehen die wenigsten Menschen sie gerne ein. Wir sind eigentlich fast immer davon überzeugt, im Recht zu sein und wenn nicht, dann trägt der andere zumindest eine gewisse Teilschuld. Umso dramatischer der Moment, in dem vor unserem inneren Ohr das Geräusch einer zerbrechenden Glasscheibe erklingt und uns klar wird: Liegt es vielleicht an mir und gar nicht am anderen? Genau dieses Gefühl hat Drakes More Life in mir ausgelöst.
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Wie schon der Vorgänger Views wurde More Life seit dessen Ankündigung im Oktober letzten Jahres sehnlichst erwartet. Und genau wie bei Views kam ich auch dieses Mal nicht umhin, mir nach dem ersten Durchhören zu denken: Wie, das war’s jetzt? Mit dem Unterschied, dass Views trotz Überlänge und auch allgemeiner Langweile wenigstens drei, vier Hits vorzuweisen hatte, die mich hier und da beim Hören des Albums kurz aus dem Nickerchen hochschrecken ließen. More Life hat keinen Hit. Nicht einen. Und das zu sagen, tut mir jetzt mehr weh als euch, die ihr alle More Life abfeiert.
Denn ich liebe Drake. Vor zwei Wochen noch stand ich mit zwei Flaschen Champagner intus bei seinem Konzert in der Crowd und kassierte Anschiss aus der Mädchenreihe hinter mir, weil ich nicht auf den als Sitzplätze ausgewiesenen Stühlen saß, sondern rumhüpfte, tanzte und meinem Freund diverse Lapdances gab. Eventuell hatte ich dabei Tränen in den Augen. Damals fragte ich die Damen noch völlig verständnislos, wer denn bitte bei einem Konzert sitzt. Eventuell wurden sie auch von mir aufgefordert, die Security zu holen, wenn sie ein Problem haben. Bei More Life hingegen wäre eher meine Reaktion, mich kommentarlos hinzusetzten und an meiner Limo zu nippen. Hier und da würde ich vielleicht munter mit dem Kopf mitnicken, bei “KMT”, “Free Smoke” oder “Teenage Fever” zum Beispiel.
Natürlich höre ich jetzt die Stimmen, die sagen, “‘Passionfruit’ ist doch ein Hit”, “Young Thug klingt auf ‘Sacrifices’ so gut und ‘echt’ wie nie zuvor” oder “wie harmonisch jedes Lied ineinander übergeht, grenzt an kompositorischer Perfektion”. Und natürlich berührt uns Samphas Stimme auf “4422” an Stellen, wo uns noch nie jemand zuvor berührt hat. Und ja, auch inhaltlich ist Drake dank seines Braggadoccio (Google, du Kek!) wieder deutlich interessanter (“I took the team plane from Oracle / Mama never used to cook much / Used to chef KD / Now me and Chef, KD bet on shots for twenty G’s / I brought the game to its knees / I make too much these days to ever say, ‘Poor me’”). Das ändert aber alles nichts daran, dass More Life trotz all dieser Dinge und großartigen Features – vor allem aus UK – wahnsinnig gleichförmig ist und – ich wiederhole – keinen einzigen Song hat, der mal nach vorne geht. Wer auf More Life auf ein “One Dance”, “Know Yourself”, “Headlines” oder “Hold On, We’re Going Home” hofft, der wird vergeblich suchen.
Dabei gibt es jede Menge Stoff, in dem man bei seiner Suche wühlen und kramen könnte. 22 Tracks ist das gute Stück lang. Was mindestens vier Tracks zu lang ist. Die restlichen Songs klingen immer noch wie gute Remixe von ein und demselben Song oder nettes Füllmaterial zwischen den eigentlichen Hits – gäbe es denn welche. Zwar sind die Songs auf keinen Fall schlecht, aber in der Minute, in der der perfekte Übergang zum nächsten Track einsetzt, hat man sie eben auch schon wieder vergessen.
Wie auch schon Views bricht More Life dennoch bereits sämtliche Streaming-Rekorde. 89.9 Millionen Mal wurde Drakes neuestes Werk innerhalb der ersten 24 Stunden auf Apple Music gestreamt, 61.3 Millionen waren es auf Spotify. Weltrekord. Es scheint, Drake ist an einem Punkt angelangt, an dem sein Erfolg ein unumgängliches Naturgesetz geworden ist. Wenn man mit dem Hämmerchen auf das Knie haut, zuckt das Bein und wenn Drake neue Musik an den Start bringt, dann hört das die ganze Welt. Und das völlig zu Recht, schließlich ist Drake einer der innovativsten und relevantesten Künstler, die HipHop im Moment zu bieten hat. Das schützt ihn aber dennoch nicht davor, auch mal ein langweiliges Album beziehungsweise Playlist zu machen. Das ist jedoch der Punkt, der mich vor die existenzielle Frage zu Beginn stellte: Warum tun denn alle so, als wäre More Life so großartig? Warum haben sie das bei Views auch schon gemacht? Verstehe ich die Musik nicht mehr? Liegt es vielleicht wirklich an mir? Falls dem so sein sollte, erkenne ich meinen Fehler an und versuche, an mir zu arbeiten. Echt, für Drake tue ich das.
Denn Drake verdient sein Hak. Aus verschiedenen Gründen. Aber der Spaßfaktor von More Life ist bestimmt keiner davon. More Life macht keinen Spaß. Es fühlt sich mehr an wie eine Pflichtveranstaltung, wo man halt hingeht, weil alle hingehen und man nichts verpassen will. Man hat da jetzt auch nicht den schlechtesten Abend seines Lebens und hier und da führt man auch ein erfrischendes Gespräch oder freut sich über einen Gast, mit dem man nicht gerechnet hätte. Vielleicht lernt man sogar die ein oder andere interessante Person kennen, eventuell läuft da sogar noch was. Dennoch ist es keine Party, wo die Bullen kommen, auf den Toiletten gefickt, gekotzt und sonst was gemacht wird und man sich am nächsten Tag an nichts mehr erinnern kann. Bei More Life erinnert man sich an alles – und gleichzeitig an nichts.