Menschen

"Ich finde es gut, wenn Fotos von Auschwitz verbreitet werden"

Der Social-Media-Manager von Auschwitz über respektvolle Touristen-Selfies vor der KZ-Gedenkstätte, Neonazis bei Twitter und sein Problem mit TikTok.
Zugschienen führen zum ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. In dem Interview erzählt uns der Social-Media-Manager der Gedenkstätte von seinem Job.
Foto: Imago / epd

Paweł Sawicki arbeitet seit 16 Jahren am vielleicht bedrückendsten Ort der Welt: im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz. Mehr als 1,1 Millionen Menschen starben im größten deutschen Vernichtungslager, das die Nazis im besetzten Polen errichteten. Sawicki, 42, früher Journalist, gibt dort heute Führungen, interviewt Überlebende und ist für den Social-Media-Auftritt der Gedenkstätte verantwortlich. Wir haben ihn gefragt, was er von KZ-Selfies hält, warum die Gedenkstätte TikTok meidet und wie er mit Holocaust-Leugnern umgeht. Das Gespräch fand am 5. Oktober statt, zwei Tage vor dem Überfall der Hamas auf Israel.

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Ein Porträt von Paweł Sawicki. Er guckt direkt in die Kamera und trägt eine rote Jacke.

Foto mit freundlicher Genehmigung von Paweł Sawicki

VICE: Wie viele Neonazi-Kommentare musst du an einem durchschnittlichen Tag lesen?
Paweł Sawicki:
Jeden Tag besuchen Tausende Menschen die Gedenkstätte von Auschwitz. Online haben wir insgesamt über zwei Millionen Follower. Nur die allerwenigsten benehmen sich beim Besuch der Gedenkstätte oder im Internet respektlos. Pro Tag kommen etwa 5.000 neue Onlinekommentare dazu. Ich lese jeden einzelnen. Nur ganz wenige sind von Neonazis beziehungsweise von Antisemiten. In den letzten 24 Stunden habe ich zwei Holocaust-Leugner gemeldet und blockiert. An einem normalen Tag blockiere ich etwa fünf bis zwanzig Accounts. Das sind aber nicht nur Nazis, sondern häufig Bots, die um Geld bitten oder fragen, ob man sie kennenlernen will. Vor allem stelle ich aber fest, wie positiv die Kommentare meistens sind. Oft kommentieren die Menschen nur Emojis, zum Beispiel Herzen. Das sind kleine Gesten, aber sie zeigen, dass die Leute vom Schicksal der Menschen in Auschwitz noch immer tief bewegt werden. 

Und vor Ort verhalten sich auch alle so gut?
Die meisten schon. Aber uns besuchen jedes Jahr sehr viele Menschen. 2019 waren es 2,3 Millionen. Da sind natürlich auch welche dabei, die sich nicht angemessen verhalten. Bei so vielen Leuten ist das nicht verwunderlich. Manchmal sind Besucher einfach noch nicht für dieses Thema und diesen Ort sensibilisiert. Manche rauchen und schmeißen eine Zigarette auf den Boden. Dann sage ich ihnen eben, dass sie nicht rauchen sollen und dann hören sie auch auf. Vor einigen Jahren haben Besucher Fotos gepostet, auf denen sie auf den Zuggleisen balancieren. Wir haben dann öffentlich darum gebeten, solche Fotos nicht zu schießen, weil das respektlos ist. Manchmal kommt es auch vor, dass Teenager die Gedenkstätte besuchen, die nicht zeigen können oder wollen, dass sie die Erfahrung berührt. Die tun dann so, als würde sie das gar nicht treffen, weil Mitschüler ihre Trauer andernfalls als Schwäche deuten könnten. Man muss so viele Dinge beachten, bevor man voreilig Schlüsse über Menschen zieht, und das will ich auf jeden Fall verhindern.

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Was hältst du von Menschen, die vor dem ehemaligen Konzentrationslager posieren und Selfies bei Instagram posten?
Wenn jemand ein Selfie mit einer durchdachten und respektvollen Caption postet, finde ich das OK. Selfies sind nun mal ein visuelles Ausdrucksmittel unserer Zeit. Ich denke, es ist ganz normal, dass Menschen auch auf diese Weise dokumentieren möchten, welche Orte sie besuchen. Wenn ich aber sehe, dass Besucher der Gedenkstätte beim Fotografieren herumalbern und witzige Fratzen ziehen, finde ich das nicht gut. Ich erinnere solche Besucher dann daran, wo sie gerade sind. Umgekehrt gibt es genauso Besucher, die professionelle Fotos mit teuren Kameras schießen und dann eine unangemessene Caption schreiben. Wenn ich solche Posts sehe, melde ich diese Fotos. Unter dem Hashtag #Auschwitz gibt es bei Instagram fast 600.000 Fotos. Die meisten sind sehr respektvoll und zeigen, dass sich die Besucher wirklich mit dem Ort auseinandergesetzt haben. Ich benutze diese Fotos oft für Vorträge und finde es generell gut, wenn Fotos von Auschwitz verbreitet werden. 

Von welchem Schicksal erzählst du immer wieder?
Einmal habe ich ein Foto eines jungen Mannes veröffentlicht, der in Auschwitz ums Leben gekommen ist. Er hatte die Anstecknadel des spanischen Fußballvereins Real Sociedad an seiner Jacke. Mir ist das gar nicht weiter aufgefallen, aber unseren Followern schon. Es begann eine große Recherche und schließlich teilte man mir mit, dass es in den 1920er Jahren einen Fußballverein deutscher Juden in Prag gab. Dieser Verein machte einen Ausflug nach San Sebastián. Zum Rematch besuchten die Spieler von San Sebastián Prag, wo der junge Mann die Anstecknadel bekommen haben muss. Das ist nicht wahnsinnig emotional, aber ich finde es toll zu sehen, wie viel Engagement und Interesse unsere Follower zeigen und wie wir mit ihrer Hilfe mehr und mehr Geschichte aufrollen können. 

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Was war dein erfolgreichster Post?
Für den 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz hatte ich mir vorgenommen, auf Twitter die 750.000 Follower zu knacken. Wir haben dazu aufgerufen, der Gedenkstätte Auschwitz zu folgen und plötzlich teilten auch berühmte Schauspieler wie zum Beispiel Mark Hamill, der Luke Skywalker gespielt hat, unseren Twitter-Account. Es haben sich unglaublich viele Menschen an den Aufrufen beteiligt und dann hatten wir plötzlich über eine Million Follower. Auch hier fand ich es wieder toll anzusehen, wie viele Menschen etwas so Schönes zusammen schaffen können.

Hat sich deine Arbeit verändert, seit Elon Musk, der sich selbst als Free Speech Absolutist bezeichnet, Twitter gekauft hat?
Seit Elon Musk muss ich länger gegen Kommentare kämpfen, in denen der Holocaust geleugnet wird oder in denen etwas Antisemitisches gesagt wird. Diese Hate-Speech wird von X jetzt weniger moderiert. Ich melde solche Kommentare immer. Oft erfolgt überhaupt keine Reaktion. Ich habe X wegen dieser schlechten Moderation auch schon öffentlich kritisiert. Ich finde es nicht richtig, dass diese soziale Plattform es Menschen ermöglicht, Hate Speech zu verbreiten. Denn genau das ist die Leugnung des Holocaust. Das hat nichts mit Fakten zu tun. In den Richtlinien von X steht auch, dass die Leugnung des Holocausts verboten ist. Trotzdem passiert oft nichts. In solchen Momenten helfen uns aber auch unsere Follower und melden solche Konten tausendfach. Auf X sind im Vergleich zu den anderen Sozialen Netzwerken, auf denen wir aktiv sind, auch zahlenmäßig die meisten problematischen Nutzer. Hier habe ich am meisten zu tun.

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Ihr seid nicht bei TikTok. Hast du Sorge, dass die App nicht das richtige Umfeld für eure Inhalte bietet?
Studien zeigen, dass TikTok die App ist, die seine Nutzer am stärksten polarisiert. Der Algorithmus ist so programmiert, dass er eher erneut radikale Inhalte anzeigt als andere Apps, wenn man sich vorher für solche Inhalte interessiert hat. Die Gedenkstätte Auschwitz ist kein Thema, das Menschen in die Extreme treiben sollte. 

Wie sehr zieht dich deine Arbeit runter?
Manchmal schon sehr. Ich sehe jeden Tag Fotos von Menschen, die ermordet wurden. Ich schaue in die Gesichter von Kindern, ich schaue in die Gesichter von Säuglingen. Ich bin selbst Vater von zwei Söhnen und kann nicht begreifen, wie man so schutzlosen Wesen etwas antun kann. Im September habe ich in einem Post dem Überlebenden Sam Weinreich zu seinem 104. Geburtstag gratuliert. Nur drei Tage später habe ich unsere Follower in einem neuen Post über seinen Tod informiert. Ich bin also auf mehreren Ebenen häufig mit dem Tod konfrontiert. Aber ich fühle mich auch geehrt, dass ich dafür verantwortlich bin, die Erinnerung an die Ermordeten am Leben zu halten. Tatsächlich poste ich deswegen bei X alle zwei Stunden das Foto eines Todesopfers von Auschwitz, das an diesem Tag Geburtstag gehabt hätte. 

Was können wir von der Gedenkstätte für die Zukunft lernen?
Ich bin davon überzeugt, dass wir Auschwitz als Warnung für uns alle verstehen sollten. Wenn ich Besucher durch die Gedenkstätte führe, fragen viele, wie die Deutschen so viel Leid zulassen konnten. Man selbst kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass man zu Ähnlichem in der Lage sein könnte. Aber das waren keine Monster. Es wäre viel zu einfach, sie so undifferenziert abzustempeln. In Auschwitz haben Menschen gearbeitet, die den ganzen Tag im Büro saßen und abends zu ihren Familien nach Hause gegangen sind. Die haben ihre Hunde gestreichelt, ihren Kindern schwimmen beigebracht und ihre Nachbarn gegrüßt. Die Herausforderung besteht darin, zu erkennen, dass auch "normale Menschen" zu solch wahnsinnig schlimmen Taten in der Lage sein können, wenn sie Teil einer solchen Ideologie sind. Es war Teil der Nazi-Ideologie, Juden zu entmenschlichen. Deswegen waren die Nazis überhaupt dazu in der Lage, solche Verbrechen zu begehen. Die Gedenkstätte Auschwitz ist dafür da, die Opfer des Holocausts wieder zu vermenschlichen und ihre Geschichten am Leben zu halten. Wir müssen das verstehen, damit so etwas in der Zukunft nicht noch einmal passieren kann. 

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